Der Einfluss religiöser Prägung auf die Bildungslaufbahn

Auszüge aus den Forschungsergebnissen des WZB-Wissenschaftlers Marcel Helbig und des Leipziger Soziologen Thorsten Schneider zu Religion und Bildung aus dem WZBrief Bildung:
“ Zu den bekanntesten Kunstfiguren der deutschen Bildungsforschung gehört das „katholische Arbeitermädchen vom Lande“. Religion, soziale Herkunft, Geschlecht und Region – diese Faktoren waren nach Analysen von Hansgert Peisert und Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren entscheidend für eine Benachteiligung im Bildungssystem. Heute spricht die Forschung nicht mehr von einem katholischen Bildungsdefizit. An die Stelle der Katholiken sind aber aus Sicht einiger Autoren die Muslime getreten.

Religionszugehörigkeit hat eine lange Tradition in der sozialwissenschaftlichen Forschung als Einflussfaktor für Bildungserfolg. (…) In einer gerade erschienenen Studie widmen sich die Autoren dem Thema religionsbedingter Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern im Vergleich zur Situation der 1960er Jahre. Ferner nimmt die Studie auch religionsbedingte Bildungsunterschiede in 19 europäischen Ländern in den Blick. Insgesamt greifen die Analysen auf Daten von fast 400.000 Kindern und Jugendlichen aus fünf Datensätzen zurück.

Hat es das katholische Arbeitermädchen je gegeben?
Hansgert Peisert stellte 1967 fest, dass in den südlichen Bundesländern Katholiken seltener das Gymnasium besuchten als evangelische Kinder. (…) Für Ende der 1960er Jahre finden die Autoren ebenfalls schlechtere Gymnasialchancen von katholischen Kindern in Bayern und Baden-Württemberg (-4,4 bis -7,8 Prozentpunkte im Vergleich zu evangelischen Kindern). Demgegenüber hatten katholische Kinder in den nördlichen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen sowie Berlin (die stärker evangelisch geprägt waren), bessere Chancen, das Gymnasium zu besuchen (+6,4 bis +10,1 Prozentpunkte). (…) In der Tat zeigt sich, dass Ende der 1960er Jahre katholische Kinder vor allem in Baden-Württemberg und Bayern in ungünstigeren sozialen Verhältnissen aufwuchsen. Ihre geringeren Gymnasialquoten lassen sich vollständig durch die soziale Lage des Elternhauses erklären. (…) Die Benachteiligung von katholischen Mädchen aus Arbeiterfamilien vom Lande (in Bayern und Baden-Württemberg) war nicht stärker als die der evangelischen Mädchen. Die unterschiedlichen Bildungschancen von Kindern verschiedener Konfessionen sind zu dieser Zeit auf Unterschiede in der Sozialstruktur zurückzuführen. (…)

Die Rolle der Geografie
Dabei zeigt sich, dass sich die Bildungschancen von katholischen und evangelischen Kindern je nach räumlichem Kontext unterscheiden. Auch heute gilt in Westdeutschland:
Je niedriger der Bevölkerungsanteil der Katholiken in einem Kreis ist, desto höher ist dort die Gymnasialquote der Katholiken. Regionale Besonderheiten zeigen sich auch im Osten Deutschlands. Dort sind katholische und evangelische Kinder tendenziell häufiger auf dem Gymnasium vorzufinden. Beide Religionsgruppen sind im überwiegend konfessionslos geprägten Osten eine Minderheit.

Émile Durkheim und Max Weber haben bereits um 1900 darauf hingewiesen, dass sich die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob ihre Religionsgemeinschaft sich in der Minderheits- oder der Mehrheitsrolle befindet. Die beiden Wissenschaftler haben angenommen, dass Menschen in der Diaspora eine höhere Anstrengungsbereitschaft aufweisen und dadurch höhere Bildungserfolge erzielen bzw. höhere Bildungserfolge bei ihren Kindern erwarten können. Die höhere Anstrengungsbereitschaft wird auf eine Diskriminierungserwartung der Minderheitsreligion zurückgeführt: Durch höhere Leistung sollen erwartete Nachteile ausgeglichen werden. (…) Ob Katholiken oder Protestanten allerdings heute noch Diskriminierungserwartungen haben, wenn sie sich regional in der Minderheit befinden, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. (…)

Gottesdienstbesuch und Bildungserfolg
Die Autoren zeigen, dass der Besuch von Gottesdiensten positiv mit den Bildungsergebnissen im Zusammenhang steht. Für Deutschland zeigt sich eine höhere Gymnasialquote, für die untersuchten europäischen Länder ein besseres Abschneiden in standardisierten Schulleistungstests. Allerdings ist der Einfluss des Gottesdienstbesuchs auf den Bildungserfolg nicht linear. Die Analysen weisen lediglich darauf hin, dass Kinder und Jugendliche einen niedrigeren Bildungserfolg haben, wenn sie gar nicht zur Kirche gehen bzw. an religiösen Veranstaltungen teilnehmen. (…)

Auch in der amerikanischen Forschung zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche, die an Gottesdiensten teilnehmen, einen höheren Bildungserfolg haben als jene, die dies nicht tun. Hierbei wird angenommen, dass Kinder, aber auch Eltern, die häufig einen Gottesdienst besuchen, Sozialkapital akkumulieren und darüber höhere Bildungserfolge erzielen. (…) Auf der Basis dieser Annahmen wäre zu erwarten, dass der Bildungserfolg umso höher ist, je stärker das Engagement in der Gemeinde ist. Die Ergebnisse für Deutschland bestätigen diesen Sozialkapitalansatz allerdings nicht, da auch seltene Gottesdienstbesuche mit höherem Bildungserfolg einhergehen. Eine gesicherte Erklärung für die Wirkung seltener Kirchgänge haben Helbig und Schneider nicht anzubieten. (…)

Und der Islam?
An die Stelle der Katholiken als angebliche Bildungsverlierer sind heute Angehörige einer anderen Religionsgemeinschaft getreten: die Muslime. (…)
Die empirischen Befunde spielen einer Stigmatisierung allerdings nicht in die Hände. Zwar können auch wir zeigen, dass muslimische Kinder in Westdeutschland eine um 32 Prozentpunkte niedrigere Gymnasialbesuchsquote haben als konfessionslose Kinder. Auch in den anderen untersuchten westeuropäischen Ländern erzielen muslimische Kinder in Schulleistungstests unterdurchschnittliche Ergebnisse. (…)

Aber: Das schlechtere Abschneiden muslimischer Kinder ist in Westdeutschland vollständig durch die schlechtere soziale Lage ihrer Eltern zu erklären. Auch in den meisten anderen Ländern Westeuropas lässt sich der niedrigere Bildungserfolg vollständig über die soziale Herkunft erklären. Muslimische Kinder und Jugendliche erzielen nicht wegen ihrer Religion schlechtere Bildungsergebnisse, sondern weil sich ihre Eltern in einer schlechteren sozialen Lage befinden als die Angehörigen einer anderen Religionsgemeinschaft bzw. konfessionslose Kinder und Jugendliche.

Fazit
Hängen Religion und Bildung miteinander zusammen? Diese Frage ist nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Zwar weisen die Mitglieder einzelner Religionsgemeinschaften in der Vergangenheit (Katholiken) und in der Gegenwart (Muslime) im Durchschnitt einen geringeren Bildungserfolg auf. Allerdings ist das katholische Bildungsdefizit der 1960er Jahre, das nur in wenigen Bundesländern vorzufinden war, Resultat der schlechteren sozioökonomischen Lage katholischer Kinder und Jugendlicher in eben diesen Bundesländern. Ebenso ist die heutige Benachteiligung von muslimischen Kindern in Deutschland ausschließlich über ihre schlechtere soziale Lage zu erklären. Gleiches gilt in Bezug auf Muslime fast ausnahmslos für andere westeuropäische Länder. „

Die beiden Autoren haben ihre Erkenntnisse in dem Buch „Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich“ veröffentlicht.

www.wzb.eu/wzbriefbildung

Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Ähnliche Artikel

Verfassungsgericht sieht kein Grundrecht auf BAföG

Studierende haben keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistung zur Aufnahme eines Studiums. Weder ein menschenwürdigens Existenzminimum noch das Sozialstaatsprinzip könnten als Begründung für Unterstützung

Ohne sie ist alles nichts

Unter dem Motto „Ohne sie ist alles nichts“ fand der 14. Dialogtag der Katholischen Jugendsozialarbeit (KJS) Bayern Mitte Oktober in Regensburg statt. Im Mittelpunkt der

Skip to content