Ein empirischer Blickwinkel auf Jugendhilfe und Migration – „Migration unter der Lupe“

Die Kinder- und Jugendhilfe ist in ihrem grundlegenden Auftrag, das Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern, gefordert, der Vielfalt an sozialen, kulturellen und gegebenenfalls migrationsbedingten Unterschieden gerecht zu werden. Dabei befindet sie sich in einem Dilemma: Zunächst lässt sich ein Unbehagen festhalten, das sich auf semantische Unsicherheiten bezieht. Darf Migration als Unterscheidungsmerkmal thematisiert werden? Und wenn ja, wie können Unterschiede diskutiert werden, ohne auf undifferenzierte Zuschreibungen oder Dramatisierungen zurückzugreifen? Gerade die Fachpraxis steht oftmals zwischen persönlichen Erfahrungswerten und fachlichen Zugängen, die zu einer Unsicherheit in der Verhandlung, in der Sprachfähigkeit zum Thema Migration führen.

Aber auch die Datenlage zu Migration in der Kinder- und Jugendhilfe ist teilweise unbekannt und möglicherweise unzureichend.
Das Bundesjugendkuratorium (BJK) weist darauf hin, dass die empirische Vergewisserung über die Auswirkungen, die Verteilung in den einzelnen Handlungsfeldern und über mögliche Ursachen für Disparitäten die semantische Unsicherheit zum Thema Migration dadurch beseitigen kann, dass sie ein Fundament verlässlicher Daten bietet, auf deren Basis eine sachliche Diskussion möglich ist.

Die Stellungnahme nimmt Migration sprichwörtlich unter die Lupe und orientiert sich an den Fragen: Wo ist Migration eine eigenständige Variable, die über sozioökonomische Disparitäten, über Bildungsniveaus und über andere mögliche Variablen hinaus Erklärungen liefert? Wo können Defizite in fachlichen Zugängen identifiziert werden, wo sind es aber womöglich kulturelle Spezifika, und wo hat Migration vielleicht gar keinen Einfluss? Auf diese Fragen können die Daten in der vorliegenden Stellungnahme Antworten geben oder Hinweise liefern. Gleichzeitig wirft das Bundesjugendkuratorium Schlaglichter auf Erwartungen an das Professionsverständnis und die Trägerverantwortung und benennt Entwicklungserfordernisse interkultureller Öffnung in der Kinder- und Jugendhilfe.

Auszüge aus den Erwartungen des BJK an das Professionsverständnis und die Trägerverantwortung
“ … Immer mehr Kinder und Jugendliche haben einen Migrationshintergrund, diese erfordern eine differenzierte Betrachtung.
… Die Erfassung des Migrationshintergrundes mithilfe des Generationenkonzepts, das sowohl die eigene Zuwanderung als auch die Zuwanderung der Eltern und Großeltern berücksichtigt, zeigt das Ausmaß des Migrationsphänomens insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Die vorliegenden Daten machen vor allem deutlich: Es bedarf eines differenzierten Zugangs zum Merkmal Migrationshintergrund und der beständigen Reflexion der Frage, ob eine soziale Problemlage oder eine individuelle Besonderheit tatsächlich mit dem Migrationsmerkmal verbunden ist, eher mit Fragen von Kultur oder individuellen Lebensweisen zusammenhängt oder in der sozioökonomischen Lage begründet liegt. … Der hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Gruppe der Gleichaltrigen zeigt, … , dass sie eine kinder-, jugend- und familienpolitisch kaum zu vernachlässigende Zielgruppe sind. Kinder- und Jugendpolitik ist insofern auch immer Integrationspolitik.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat ihre interkulturelle Kompetenz im Sinne ihres Professionsverständnisses unter Beweis zu stellen.
Kinder und Jugendliche sehen sich mit einer wachsenden Anzahl von Pädagogen/innen, Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen konfrontiert, die auf verschiedene Weisen ihre Lebensrealität beeinflussen. Vor dem Hintergrund des Anteils von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die allein durch ihre Zahl eine wesentliche Gruppe der Kinder und Jugendlichen darstellen, müssen sie im Kontext der Professionalisierung der Settings des Aufwachsens stärker berücksichtigt werden. Orientiert werden muss die Diskussion entlang der Frage, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe zum Thema Migration verhält. Mit dieser Frage verbunden sind sowohl die professionelle Haltung als auch die Zugänge oder Zugangsschwellen zu pädagogischen Angeboten im weitesten Sinne.

Die Bildungsbenachteiligung der Mehrheit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gilt es auch seitens der Kinder- und Jugendhilfe zu bearbeiten.
… Insbesondere in Familien, die ihren Kindern nicht die notwendige Bildungsunterstützung geben können, müssen institutionelle Akteure zusätzliche Perspektiven eröffnen und auch die Eltern über Bildungssysteme informieren und bei Bildungsentscheidungen begleiten. … Die Förderung sollte jedoch über die Altersspanne der ersten sechs Jahre hinaus kontinuierlich erfolgen und muss flächendeckend zur Verfügung stehen. Eine kritische Schnittstelle in den Bildungs- und Ausbildungswegen der Jugendlichen stellt der Anschluss an berufsvorbereitende Bildungsgänge oder der Abbruch einer Ausbildung dar. Hier gilt es durch begleitende Angebote Jugendliche dahingehend zu unterstützen, dass der Einstieg bzw. Wiedereinstieg in Ausbildung gelingt. …

Schwierige Zugangsbedingungen zu den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und Segregationstendenzen in den Einrichtungen sind Stolpersteine in der Kinder- und Jugendhilfe.
… Sowohl die ethnische Segregation in der Kindertagesbetreuung als auch die geringere Inanspruchnahme der Vollzeitpflege deuten auf migrationsbedingte Einflussfaktoren bzw. auf sozialräumliche Effekte hin, denen bislang vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Gleichwohl muss dabei der Einfluss des Migrationshintergrundes stets auch in seiner Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen und institutionellen Faktoren gesehen werden.

… Ein Migrationshintergrund kann die Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen und entwicklungsbeeinträchtigend sein. Empirische Hinweise deuten auch auf Mechanismen institutioneller Diskriminierung hin. Da unter Kindern und Jugendlichen ein hoher Anteil einen Migrationshintergrund hat, ist nicht auszuschließen, dass damit auch spezifische Anforderungen und Unterschiede einhergehen. …

Interkulturelle Kompetenz ist angesichts der gesellschaftlichen Realität eine Voraussetzung für eine wirkungsvolle Kinder- und Jugendhilfe.

Interkulturelle Sensibilität heißt in diesem Sinne, Hilfestellungen zu geben, Ambiguität und Ambivalenzen auszuhalten. Dies ist bei jedem Kind und bei jedem Jugendlichen möglich und notwendig, sei es aufgrund kultureller Unterschiede, aufgrund des Geschlechts, aufgrund von Behinderung oder auch wegen schichtspezifischer Merkmale. Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe benötigen dazu interkulturelle Kompetenz, ebenso wie Politik und Träger gefordert sind, interkulturelle Kompetenz auf fachlicher wie auch institutioneller Ebene zu stützen und zu fördern. Hier bedarf es pädagogischer Kompetenz und professioneller Offenheit und Selbstreflexion, wo und ob Ausgrenzung oder ein ethnozentrischer Blick – auch in Bezug auf die Eltern – stattfindet. Gleichzeitig bedarf es institutioneller Veränderungsprozesse, die sowohl im Hinblick auf Personalauswahl und -zusammensetzung als auch auf Zugangsbarrieren sowie auf Wahrnehmungs- und Interventionsprozesse eingehen. Angesichts der möglicherweise weiter zunehmenden Zahl von jungen Menschen mit Migrationshintergrund kann interkulturelle Kompetenz nicht mehr nur Schlagwort oder Imperativ sein, sondern muss alltägliche Praxis werden. … “

www.bundesjugendkuratorium.de
www.bundesjugendkuratorium.de/pdf/2010-2013/Stellungnahme_Migration_81113.pdf

Quelle: Bundesjugendkuratorium

Dokumente: Stellungnahme_Migration_81113.pdf

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