Wie erfolgreich sind Alphabetisierungskurse?

7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nur rudimentär lesen und schreiben. Lese- und Schreibkompetenz jedoch bilden eine Voraussetzung für die erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft. Erstmals wurde nun von Forschern von TNS Infratest und der Humboldt-Universität zu Berlin untersucht, wie erfolgreich diese Grundkompetenzen in den bestehenden Alphabetisierungskursen vermittelt werden. … Es gibt sogar eine erhebliche Teilgruppe, die nach längerer Kursteilnahme keinen nennenswerten Lernfortschritt im Lesen oder Schreiben für sich sieht. Die Teilnehmenden beurteilen die Kurse insgesamt positiv, so dass zwischen Lernfortschritten bei der Lese- und Schreibkompetenz und begleitenden Benefits unterschieden werden muss.

Bernhard von Rosenbladt und Rainer H. Lehmann haben die Ergebnisse der Studie in DIEaktuell zusammengefasst und bewertet.

Auszüge aus dem Aufsatz Begrenzte Lernerfolge in Alphabetisierungskursen. Befunde aus der Forschung – Konsequenzen für die Praxis von Rosenbladt und Lehmann:
“ … Eine „deutliche Reduzierung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland“ – dies ist das Ziel einer „Gemeinsamen nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland“, die von Bund und Ländern zusammen mit Partnern … vereinbart wurde. Hintergrund ist die „leo. – Level One“-Studie, die im Jahr 2011 den für viele überraschenden Befund vorlegte, dass 7,5 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland aufgrund ihrer sehr geringen Lese- und Schreibfähigkeiten als „funktionale Analphabeten“ einzustufen seien. Mittlerweile haben sich über zwanzig Institutionen und Verbände der Vereinbarung für die „Nationale Strategie“ angeschlossen, und die Zahl der von ihnen getragenen oder angestoßenen Projekte und Aktionen ist durchaus eindrucksvoll. Der Schwerpunkt liegt auf Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Problem, auf neuen Formen für die Ansprache der Zielgruppe, insbesondere auch im Kontext der Arbeitswelt und der städtischen, kommunalen Umwelt, sowie auf verbesserten didaktischen Materialien für Kurse oder ähnliche Unterrichtsformen.

Alle diese Maßnahmen gehen natürlicherweise von der Annahme aus, dass die angebotenen Kurse zum Erfolg führen – dass also erwachsene Menschen mit Lese- und Schreibschwächen durch eine Teilnahme ihre Fähigkeiten im Lesen und Schreiben deutlich verbessern und damit „zur besseren beruflichen, sozialen und ökonomischen Teilhabe zu befähigen“ sind. Inwieweit diese Annahme zutrifft ist allerdings eine offene Frage. …

Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse einer empirischen Studie … die bei Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen der Volkshochschulen für deutsche Muttersprachler durchgeführt wurde, von Interesse. …

Zu beachten ist, dass es sich bei den Kursteilnehmenden um eine besondere Zielgruppe handelt. Es sind Personen, die häufig Lernbehinderungen aufweisen, in schwierigen sozialen Verhältnisse leben, geringes Selbstvertrauen haben oder zunächst das Lernen (wieder) lernen müssen. Die Kursleitenden arbeiten mit großem Engagement, aber es gibt keine standardisierten Curricula, keine einheitlichen Lehr-/ Lernmethoden, keine festgelegte Teilnahmedauer, keine klaren Vorstellungen über Abschlussziele. …

Die Lernausgangslage ist keineswegs einheitlich. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden konnte bei Kursbeginn nach eigener Einschätzung höchstens einzelne Wörter lesen, scheiterte aber schon auf der Ebene ganzer Sätze. Die übrigen konnten kurze Texte lesen, wenn auch nur sehr langsam, oder sie konnten lesen, nur nicht richtig schreiben.

Gegenüber dieser Ausgangslage sehen die meisten Teilnehmenden deutliche Lernerfolge. Der Anteil derer, die nach eigener Einschätzung zumindest kurze Texte lesen können, ist von 49 Prozent bei Kursbeginn auf 79 Prozent gestiegen. Der entsprechende Wert für das Schreiben-Können hat sich von 39 Prozent auf 65 Prozent erhöht. …

Im Hinblick auf den Lernerfolg wäre zu erwarten, dass Kursteilnehmende umso mehr Lese- und Schreibfähigkeit aufweisen, je länger sie den Kurs schon besuchen. Tatsächlich gibt es das scheinbar paradoxe Ergebnis, dass Teilnehmende mit längerer Teilnahmedauer eine geringere Lese- und Schreibkompetenz aufweisen als solche mit (bisher) kürzerer Teilnahmedauer. …

Es gibt in den Alphabetisierungskursen zweifellos Lernfortschritte. Allerdings reichen sie nicht aus, um bei der Mehrzahl der Teilnehmenden ein schriftsprachliches Kompetenzniveau oberhalb des sogenannten funktionalen Analphabetismus zu erreichen. Es gibt sogar eine erhebliche Teilgruppe, die nach längerer Kursteilnahme keinen nennenswerten Lernfortschritt im Lesen oder Schreiben für sich sieht. Bei dauerhafter Teilnahme über längere Zeiträume von mehr als drei Jahren erscheint der Kursbesuch eher im Sinne einer sozialpädagogischen Betreuung wirksam als im Sinne größerer Lernfortschritte. …

Praktische Konsequenzen
… Zweifellos muss das bisher relativ schwache Angebot ausgeweitet werden. … Praktische Konsequenz muss eine Diversifizierung der Modelle und Formen von Alphabetisierungsarbeit sein, wie sie in den letzten Jahren auch zunehmend vorgeschlagen und erprobt wird. …

Erwachsenenbildung im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung ist ein Feld mit hohen Anforderungen. Der Lernstoff mag einfach sein: „ABC und kleines Einmaleins“. Die erfolgreiche Vermittlung aber erfordert ein hohes Maß an Professionalität. Das bisherige Kursangebot kann – bei aller Anerkennung für das Engagement der Kursanbietenden und Kursleitenden – diese Anforderungen nicht wirklich erfüllen. Dafür bedarf es verbesserter, stabiler Rahmenbedingungen, ebenso aber Kreativität zur Entwicklung und kritischen Begleitung von neuen Formen der Grundbildungsarbeit. „

Das Dokument in vollem Textumfang steht Ihnen zum Download unter aufgeführtem Link zur Verfügung.

www.die-bonn.de/institut/dienstleistungen/publikationen/texte-online.aspx
www.die-bonn.de/doks/2013-weiterbildungsbeteiligung-01.pdf

Quelle: DIE – Deutsches Institut für Erwachsenenbildung und Leibnitz Zentrum für Lebenslanges Lernen

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