Anforderungen an die Arbeitsgesellschaft und soziale Grundsicherung aus der Perspektive von Frauen

IN VIA setzt sich für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Frauen ein. Dies erfordert zum einem die Befähigung von Mädchen und Frauen und zum anderen ein Engagement für gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die geschlechtergerecht sind und selbstbestimmte Teilhabe für alle ermöglichen.
In diesem Positionspapier nimmt IN VIA die Entwicklungen in der Arbeitsgesellschaft und Fragen der sozialen Grundsicherung in den Blick und beleuchtet diese anwaltschaftlich aus der Perspektive von Frauen. Zentraler Punkt ist dabei auch die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit. Sie ist mit Garant für die selbstbestimmte Teilhabe von Frauen.

Auszüge aus dem Positionspapier ‚Entwicklung in der Arbeitsgesellschaft und soziale Grundsicherung: Bewertung von Forderungen aus der Perspektive von Frauen‘:
Strukturwandel der Erwerbsarbeit und Auswirkungen auf Frauen
Seit den 1990er Jahren ist in Deutschland ein deutlicher Trend zum Strukturwandel von Erwerbsformen zu beobachten. Von einer Normalität der sozialversicherten Vollzeiterwerbsbiografie kann nicht mehr ausgegangen werden. Neben sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung treten vermehrt Teilzeitbeschäftigung unter 20 Wochenstunden, geringfügige Beschäftigung (Minijobs), Zeitarbeit und neue Formen der Selbständigkeit (z.B. freiberufliche, projektgebundene Arbeit). Im Jahr 2005 entfielen von den rund 39 Mio. Erwerbstätigen immerhin ein Drittel auf diese oft als atypisch bezeichnete Beschäftigung und zwei Drittel (26 Mio.) auf traditionelle sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (Vollzeit und Teilzeit).

Branchen, in denen vorwiegend Frauen arbeiten sind von diesem Strukturwandel am stärksten betroffen, z.B. die personenbezogenen Dienstleistungen, das Reinigungsgewerbe, das Gastgewerbe und der Einzelhandel. … Für sie ist der Strukturwandel zur Normalität geworden. Er wirkt sich für viele Frauen negativ aus. Denn die veränderten Erwerbsformen korrespondieren häufig mit Niedriglöhnen, befristeten Arbeitsverträgen, fehlendem Kündigungsschutz und damit einhergehender drohender Arbeitslosigkeit. 70% aller Personen, die zu einem Niedriglohn arbeiten, sind weiblich.

Häufiger als bei Männern geht Armut von Frauen auch auf ihr unmittelbares Umfeld, vor allem auf Kinder, über. So waren im Juni 2008 bundesweit 42% der 1,56 Millionen Alleinerziehenden im System der Grundsicherung. Nicht selten haben Frauen zwei oder drei Arbeitsverhältnisse. Dies führt zu Überlastungssituationen und hat negative Auswirkungen auf soziale Beziehungen und auf das Familienleben, zumal Frauen mit der Haus- und Familienarbeit immer noch zu häufig allein gelassen sind.

Am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen sind Personen ohne Berufsausbildung. So waren im Jahr 2006 nur 53,5% aller Personen ohne Berufsabschluss erwerbstätig. Obwohl Frauen sowohl bessere Schul- als auch Berufsabschlüsse vorweisen, befinden sie sich deutlich häufiger als Männer in Arbeitsverhältnissen mit schlechten Verdienst- und Aufstiegschancen. …

Die Tendenz der zunehmenden Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften und sinkender Beschäftigungschancen gering Qualifizierter wird sich laut Prognosen des Instituts zur Zukunft der Arbeit (iza) bis 2020 weiter fortsetzen. Hier sind die Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik gleichermaßen gefordert, rechtzeitig Weichen zu stellen. Ziel muss es sein, allen Kindern frühzeitig eine gute Bildung zu ermöglichen, alle Jugendlichen an einen bestmöglichen Berufsabschluss heranzuführen und Existenz sichernde und familienfreundliche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Die Initiativen müssen sich vor allem daran messen lassen, dass für Mädchen und Frauen die berufliche Beteiligung, der berufliche Aufstieg und Familienarbeit nicht zur Quadratur des Kreises werden.

Theorien der sozialen Grundsicherung – Was wird derzeit diskutiert?
Das derzeitige System sozialer Sicherung zeigt immer wieder Effekte von dauerhafter Exklusion. … Je länger die oder der Einzelne arbeitslos bleibt, desto mehr verfestigt sich die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. In einer Gesellschaft, in der zunehmend Arbeitsplätze mit einfachen Tätigkeiten entfallen und in der zudem absehbar ist, dass eine lückenlose berufliche Biografie mit überwiegender Vollzeitbeschäftigung weiterhin an Normalität verlieren wird, stellt sich immer drängender die Frage, ob es sinnvoll ist, die soziale Sicherung an eine vermeintlich normale berufliche Biografie zu koppeln. … In der Diskussion stehen verschiedene Modelle zwischen einer Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialer Grundsicherung auf der einen Seite und dem Workfare-Ansatz, der staatliche Transferleistungen mit einer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme verknüpft, auf der anderen Seite. Weitere Denkmodelle oder bereits praktizierte Modelle sind zwischen dem bedingungslosen Grundeinkommen und dem Workfare-Ansatz anzusiedeln. Darunter befinden sich zum Beispiel Modelle, die ein Grundeinkommen vorsehen, dieses jedoch an Bedingungen knüpfen wie zum Beispiel ein Mindestmaß an bürgerschaftlichem Engagement oder Erziehungs- und Familienarbeit. …
Für IN VIA ist wichtig, dass ein Modell der sozialen Grundsicherung dazu beiträgt, die strukturelle Benachteiligung von Frauen abzubauen. Die Modelle der sozialen Grundsicherung müssen sich deshalb an verschiedenen Kriterien messen lassen. …

Sie müssen ## jedem Individuum wirtschaftliche, soziale, kulturelle und rechtliche Teilhabe ermöglichen ## geschlechtergerecht sein. Sie dürfen nicht zu geschlechtsspezifischen Segregationen führen sowie vorhandene Geschlechterrollenstereotype verfestigen. Sie müssen eine individuelle (vom Lebenspartner unabhängige) existenzielle Sicherung ermöglichen ## Anreize schaffen für eine gute Bildung und Ausbildung sowie Unterstützungsmaßnahmen zur individuellen Förderung gewährleisten ## Familien- und Erziehungsarbeit sowie die Pflege von Angehörigen durch die Sicherung der existenziellen Grundlagen ermöglichen – für beide Geschlechter ## Anreize schaffen für ein Engagement in Erwerbsarbeit, Familienarbeit und ehrenamtlichem und bürgerschaftlichem Engagement mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe ## besondere Lebenslagen (wie z.B. alleinerziehend, körperliche oder gesundheitliche Einschränkungen, Migrationshintergrund) berücksichtigen ## armutsfest sein – auch in Hinblick auf die zukünftige Altersversorgung ## eine ausreichende gesundheitliche Versorgung gewährleisten, die auch gesundheitliche Präventionsmaßnahmen umfasst ## Generationengerechtigkeit nachhaltig gewährleisten ## die demografische Entwicklung in Bezug auf Finanzierbarkeit der sozialen Grundsicherung und Arbeitskräftebedarf im Blick haben ## von einem Menschenbild ausgehen, das die existenzielle Grundsicherung als Menschenrecht ansieht und die Menschenwürde achten ## in ihrem Funktionsprinzip solidarisch sein, d.h. alle beteiligen sich entsprechend ihrer Möglichkeiten an der Finanzierung des SystemsListenelement Folgerungen
Wesentliche Voraussetzung zur Umsetzung eines Modells ist dessen Finanzierbarkeit. Hierzu gibt es in Bezug auf einzelne Modelle widersprüchliche Berechnungen und Aussagen, die jeweils näher zu überprüfen wären. …
Nach Prüfung der grundlegenden Modelle … kommt IN VIA zu dem Schluss, dass es in Bezug auf die genannten Prüfkriterien das Idealmodell nicht gibt. Gleichwohl bieten die Modelle verschiedene Aspekte, die für die zukünftige Gestaltung der Arbeitsgesellschaft und der sozialen Grundsicherung mit dem Anspruch der Geschlechtergerechtigkeit von Bedeutung sein können. Vor diesem Hintergrund formuliert IN VIA folgende Positionen für die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und der sozialen Grundsicherung: ## Ein bedingungsloses Grundeinkommen scheint auf den ersten Blick dazu beitragen zu können, vor allem der weiblichen Armut und der finanziellen ## IN VIA favorisiert eine soziale Grundsicherung, die sich zum einen aus eigener Erwerbsarbeit (Einkommen und Sozialversicherung) und zum anderen aus Phasen von Familienarbeit (Erziehungszeiten, Pflegezeiten) ergibt. Dazu ist es erforderlich, dass jede Person, die erwerbstätig sein kann, die Möglichkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten erhält. Die damit verbundene Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze z. B. im Bereich der sozialen Dienste oder der haushaltsnahen Dienstleistungen muss im Rahmen des notwendigen Ausbaus der sozialen Daseinsvorsorge des Staates auch in öffentlicher Verantwortung realisiert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass es nicht zur Verdrängung von bestehenden Beschäftigungsverhältnissen kommt. … ## IN VIA fordert bessere Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen. Schulabschlüsse und Berufsausbildungen müssen im Laufe einer Biografie auch im höheren Alter noch nachgeholt werden können. Auch Weiterbildungen und Umschulungen müssen entsprechend der Entwicklungsbedürfnisse der Menschen und der Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt jederzeit ermöglicht werden. Während Phasen von Familienarbeit muss die Möglichkeit der Weiterbildung ebenfalls bestehen. Während Bildungszeiten soll auch, sofern eine weitere Erwerbsarbeit in dieser Zeit nicht möglich ist, eine Grundsicherung greifen, die als niedrig verzinstes Darlehen gewährt wird. Bildungszeiten dürfen sich wie Phasen der Familienarbeit nicht negativ auf die soziale Absicherung auswirken. ## Die Finanzierung neuer oder weiter entwickelter Modelle der sozialen Grundsicherung darf nicht zugunsten einer weiteren Spreizung zwischen höheren und niedrigeren Einkommen erfolgen, sondern muss die gesellschaftliche Teilhabe aller sicher stellen. „ Die Positionierung in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.

www.invia-deutschland.de

Quelle: IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Deutschland e.V.

Dokumente: Positionierung_Arbeitsgesellschaft__05_03_10.pdf

Ähnliche Artikel

Ablehungskultur für Menschen auf der Flucht

Das europäische Parlament hat zuletzt seinen Beitrag geleistet, die Außengrenzen der Europäischen Union noch stärker als bisher abzuriegeln. In allen europäischen Nationalstaaten sind Geflüchtete nicht

Skip to content