Entwicklung der Beschäftigungsunsicherheit: mehr Angst vor Arbeitsplatzverlust seit Hartz IV

Auszüge aus dem IAQ-Report von Marcel Erlinghagen:

Mehr Angst vor Arbeitsplatzverlust seit Hartz?
Dank Flexibilisierung der Arbeitszeiten und großzügiger Regelungen zur Kurzarbeit hat die aktuelle Wirtschaftskrise bisher am deutschen Arbeitsmarkt erfreulich geringe Spuren hinterlassen. Dennoch kann man annehmen, dass viele sich Sorgen über ihre berufliche Zukunft machen. Derzeit liegen noch keine Daten vor, die eine Beantwortung der Frage erlauben würden, ob diese Angst derzeit größer ist als in früheren Rezessionen. Die Betrachtung der langfristigen Entwicklung erweist sich jedoch als aufschlussreich. Dabei sollen neben der subjektiven Beschäftigungsunsicherheit auch objektivierbare Indikatoren zur Beschreibung des Arbeitsmarktgeschehens betrachtet werden: die Stabilität (Dauerhaftigkeit) von Beschäftigungsverhältnissen und die Mobilität (Eintritte in und Austritte aus Beschäftigungsverhältnissen). … Die Befunde zeigen, dass die Beschäftigungsstabilität in Deutschland langfristig nicht generell ab- und die Arbeitsmarktmobilität nicht generell zunimmt, sondern beide erstaunlich stabil bleiben. Gleichzeitig aber offenbart sich in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme der Angst vor Jobverlust. …

Beschäftigungsunsicherheit im Zeitverlauf
Haben Beschäftigte Angst, ihren Job zu verlieren, kann dies weit reichende Folgen haben. So kann sich Beschäftigungsunsicherheit negativ auf den Gesundheitszustand auswirken und darüber hinaus familiäre Probleme verursachen. Für Betriebe können verunsicherte Belegschaften zum Problem werden, da sich die Arbeitsmotivation und die Innovationsbereitschaft der Beschäftigten reduziert. … Insgesamt hat Beschäftigungsunsicherheit aber nicht nur für die (un)mittelbar Betroffenen negative Auswirkungen, sondern führt letztlich auch gesamtgesellschaftlich zu erhöhten Kosten (z.B. durch Gesundheitsausgaben, Steuereinbußen, Konsumzurückhaltung etc.). In Westdeutschland war der Anteil der Beschäftigten zwischen 20 und 65 Jahren, die sich um den Fortbestand ihrer Beschäftigung sorgten im Jahr 1985 bei der 12 Prozent. Im Zuge des folgenden wirtschaftlichen Aufschwungs gingt die Angst vor Jobverlust jedoch zurück und stieg erst in der ersten Hälfte der 1990er Jahre parallel zur Verschlechterung der konjunkturellen Lage auf einen ähnlichen Wert wie zu Beginn des Untersuchungszeitraums. …
Unmittelbar nach der Wende berichtete jeder zweite Beschäftigte in der ehemaligen DDR, dass er sich große Sorgen um seine berufliche Zukunft mache. Mit fortschreitendem Transformationsprozess sank dieser Anteil schnell, blieb dann jedoch im Verlauf der 1990er Jahre auf einem im Vergleich zum Westen konstant hohem Niveau, so dass sich zum Jahrtausendwechsel immer noch jeder vierte Beschäftigte in den neuen Bundesländern große Sorgen um den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses machte.
Kann die Entwicklung der Beschäftigungsunsicherheit bis zum Beginn des neuen Jahrtausends mit konjunkturellen Schwankungen bzw. der nach wie vor schlechten Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern erklärt werden, wächst die Angst vor Jobverlust in ganz Deutschland zwischen 2001 und 2004 erheblich. In den alten Bundesländern verdoppelte sich der Anteil der Beschäftigten mit Arbeitsplatzsorgen in diesem kurzen Zeitraum von 10 auf rund 20 Prozent; in den neuen Bundesländern blickte im Jahr 2004 sogar jeder dritte Beschäftigte bezüglich des Fortbestandes seines Arbeitsplatzes sorgenvoll in die Zukunft. … Im Jahr 2008 als aktuellem Rand der hier vorliegenden Untersuchung machen sich weiterhin rund gut 15 Prozent der Beschäftigten in den alten Bundesländern große Sorgen um ihren Arbeitsplatz, und noch mehr waren es in den deutlich vom Aufschwung geprägten Jahren 2006 und 2007.

Beschäftigungsstabilität und Arbeitsmarktmobilität im Zeitverlauf
Vor dem Hintergrund einer … Zunahme der subjektiven Beschäftigungsunsicherheit ist von Interesse, wie sich entsprechende objektive Indikatoren entwickelt haben, die Aussagen über die Mobilität am Arbeitsmarkt und die Dauerhaftigkeit von Beschäftigungsverhältnissen ermöglichen. …

Arbeitsmarktmobilität
… Es ist hinlänglich bekannt, dass sich die Fluktuation am Arbeitsmarkt parallel zum Konjunkturverlauf entwickelt, d.h., dass die Bewegungen in und aus Beschäftigung im Aufschwung zu- und im Abschwung abnehmen. Jenseits solcher konjunkturellen Schwankungen lässt sich jedoch in den vergangenen 30 Jahren keine generelle Zunahme der Fluktuation nachweisen. Die Bewegung am Arbeitsmarkt scheint – wenn überhaupt – eher leicht rückläufig zu sein.

Beschäftigungsstabilität
… die Entwicklung der Beschäftigungsstabilität in West- und Ostdeutschland … zeigt, dass – entgegen einer weit verbreiteten öffentlichen Wahrnehmung und zum Teil auch entgegen immer wiederkehrender Behauptungen aus der Wissenschaft (vgl. z.B. Dörre 2009; Heinze 2009: 117ff) – die Beschäftigungsstabilität in Deutschland im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht generell abgenommen hat. In Westdeutschland waren die Beschäftigten im Jahr 1985 seit durchschnittlich 10 Jahren in ihrem Betrieb beschäftigt. Bis Ende der 1990er Jahre reduzierte sich dieser Wert auf rund 9,5 Jahre, um anschließend bis zum Jahr 2008 wieder auf über 10 Jahre anzusteigen.
Dem gegenüber kam es nach der Wiedervereinigung im Zuge der Abwicklung der alten planwirtschaftlichen DDR-Betriebe zu einem enormen Rückgang der Beschäftigungsstabilität in den neuen Bundesländern. … Nach einer Phase der Stagnation stieg dann jedoch nach dem Jahrtausendwechsel die durchschnittliche Betriebszugehörigkeitsdauer schnell an und erreicht im Jahr 2008 mit einem Wert von knapp 10 Jahren annähernd westdeutsches Niveau. …

Mögliche Ursachen der zunehmenden Angst vor Jobverlust
Nicht zuletzt angesichts der ab 2005 wieder (leicht) rückläufigen Angst vor Jobverlust ist offen, ob es sich bei der zwischen 2001 und 2004 zu beobachtenden deutlichen Zunahme der Beschäftigungsunsicherheit um ein dauerhaftes Problem oder um ein vorübergehendes Phänomen handelt. …

Die sozialpsychologischen Folgen der „Hartz-Reformen“
Ohne jeden Zweifel beeinflusst die konjunkturelle Situation im Allgemeinen und die Arbeitsmarktlage im Besonderen die subjektive Bewertung der eigenen Beschäftigungssituation. … für Westdeutschland ist ein recht klarer positiver Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und dem Anteil der Beschäftigten, die sich große Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen zu verzeichnen. In Ostdeutschland ist dieser Zusammenhang nicht für den gesamten Beobachtungszeitraum nachzuweisen, was vermuten lässt, dass die konstant hohe Beschäftigungsunsicherheit zu einem erheblichen Teil als andauernde Nachwirkung des Transformationsschocks zu interpretieren ist.
Die westdeutschen Ergebnisse liefern darüber hinaus Indizien, dass es in den alten Bundesländern nicht nur unter den real von Arbeitslosigkeit Betroffenen, sondern auch unter Beschäftigten zu einem nachhaltigen Schock durch die so genannten „Hartz-Reformen“ gekommen sein könnte. … die Beschäftigungsunsicherheit ist in den Jahren 2003 – 2008 höher ausgefallen, als dies aufgrund der realen Arbeitsmarktlage – gemessen durch die Arbeitslosenquote – vor dem Hintergrund der Entwicklung im gesamten Untersuchungszeitraum eigentlich zu prognostizieren gewesen wäre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge der damaligen „Agenda 2010“ nicht nur bestehende Regelungen verändert haben, sondern dass damit ein fundamentaler Systemwechsel verbunden gewesen ist. Der Übergang von der im Prinzip statuserhaltenden alten Arbeitslosenhilfe hin zum weitgehend statusunabhängigen Arbeitslosengeld II scheint zumindest von den Beschäftigten in den alten Bundesländern als bedrohlicher Bruch wahrgenommen worden zu sein, was sich dann in der wachsenden Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes widerspiegeln könnte.

Wachsende Einkommensungleichheit
Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Einkommensungleichheit in Deutschland deutlich vergrößert. Eine Ursache liegt hierbei sicherlich in der deutlichen Zunahme der Zahl der Niedrigeinkommensbezieher. Zumindest in Westdeutschland zeigt sich ein klarer positiver Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Einkommensungleichheit und der subjektiven Beschäftigungsunsicherheit. Insofern ist die in den letzten Jahren zunehmende Angst vor Jobverlust zu einem Teil vermutlich auch auf die gleichzeitig deutlich zunehmende Einkommensungleichheit zurückzuführen: Man befürchtet, nach einem Verlust des Arbeitsplatzes das bisherige Einkommensniveau selbst dann nicht wieder erreichen zu können, wenn man rasch einen neuen Arbeitsplatz findet. Daher steht zu befürchten, dass bei weiter wachsender sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit auch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes dauerhaft hoch bleiben wird. Möglich wäre … jedoch auch, dass sich im Laufe der Jahre ein „Gewöhnungseffekt“ hinsichtlich ungünstiger Arbeits- und Lebensbedingungen einstellt. Dies könnte dann dazu führen, dass selbst bei gleichbleibend hoher bzw. weiter steigender Einkommensungleichheit die Angst vor Jobverlust auch in Westdeutschland langfristig wieder abnehmen könnte. …

Fazit
Die … Analysen haben gezeigt, dass sich insbesondere zwischen 2001 und 2004 der Anteil der Beschäftigten in Deutschland deutlich erhöht hat, die sich große Sorgen um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes machen. Dem steht jedoch auf den ersten Blick überraschender Weise kein turbulenteres Arbeitsmarktgeschehen z. B. in Form sinkender Betriebszugehörigkeitsdauern gegenüber. So ist die Beschäftigungsstabilität in Westdeutschland in den vergangenen 25 Jahren trotz vielfältiger sozialer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen erstaunlich konstant geblieben. Und in Ostdeutschland nähern sich seit den 1990er Jahren die entsprechenden Werte langsam an die (noch) höhere Beschäftigungsstabilität in den alten Bundesländern an und haben diese (zum Teil) schon erreicht.
Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends war auch die subjektive Beschäftigungsunsicherheit durch eine hohe Konstanz geprägt bzw. nahm in den neuen Bundesländern nach dem Vereinigungsschock zusehends ab. Ab etwa 2001 lässt sich dann jedoch ein sprunghafter Anstieg der Angst vor Jobverlust in West und Ost verzeichnen. … Die deutlich zunehmende Einkommensungleichheit im Zusammenwirken mit den von vielen als statusbedrohend empfundenen „Hartz-Reformen“ und einer gleichzeitig rückläufigen Bedeutung kollektiv vereinbarter Lohn- und Arbeitsstandards scheinen wesentlich zur Verunsicherung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beigetragen zu haben – und zwar bereits lange bevor die aktuelle Wirtschaftskrise begann.
Hinsichtlich der vielfältigen negativen sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Angst vor Jobverlust herrscht in der wissenschaftlichen Literatur weitgehend Einigkeit. Verunsicherte Belegschaften reagieren tendenziell eher mit einem Rückgang der Motivation und Leistungsbereitschaft, der Krankenstand erhöht sich und verunsicherte Leistungsträger verlassen als erste den Betrieb und wechseln den Arbeitgeber. Dieser negative Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlicher Produktivität und Beschäftigungsunsicherheit ist nicht nur aufgrund der dadurch auch geschwächten volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit problematisch. Hohe Krankenstände können eben auch zur Belastung des Gesundheits- und Rentensystems werden. … Gleichzeitig zeigen eine Reihe von Studien auch die negativen Auswirkungen von Beschäftigungsunsicherheit auf Familien, in denen es unter solchen Bedingungen z.B. verstärkt zu Konflikten kommen kann. Und schließlich gibt es Anhaltspunkte dafür, dass verunsicherte Menschen Ausgaben zurückstellen und diese Konsumzurückhaltung ebenfalls zu negativen wirtschaftlichen Folgen führen kann.
Aufgrund der kurz- bis mittelfristigen negativen Auswirkungen von Beschäftigungsunsicherheit auf Beschäftigte, Betriebe, Familien und soziale Sicherungssysteme wären Anstrengungen zur Reduktion der Angst vor Jobverlust alleine schon gerechtfertigt. Jedoch ist auch darüber zu diskutieren, ob die subjektive Beschäftigungsunsicherheit – … – nicht auch ein wichtiger Faktor bezüglich der langfristigen internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen ist. So kommt angesichts des demographischen Wandels und der absehbaren Verknappung des Arbeitskräftepotenzials einer Reduzierung der Beschäftigungsunsicherheit aucheine wichtige Bedeutung in Bezug auf den nachhaltigen Umgang mit wertvollen Humankapitalressourcen zu. Ungeachtet der Fragen nach einer erneuten bzw. wiederbelebten „Humanisierung der Arbeit“ könnten die (dauerhaft) verunsicherten jüngeren Belegschaften von heute die nicht mehr leistungsfähigen oder aber nicht mehr leistungsbereiten älteren Beschäftigten von morgen sein. Dies ist nicht nur für die Beschäftigten selbst wenig erstrebenswert, sondern kann wohl auch nicht Ziel von Politik und Unternehmen sein.

Die Analysen des IAQ-Reports basieren zum Teil auf Daten der Arbeitsverwaltung, zum Großteil jedoch auf den Daten des sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Den gesamten IAQ-Report entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2010/report2010-02.pdf

Quelle: IAQ

Dokumente: IAQ_Report2010_02.pdf

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