Kompetenzen von benachteiligten Jugendlichen feststellen und fördern

Welche Rolle spielt der Kompetenzbegriff in der sozialwissenschaftlichen Diskussion einerseits, welche Rolle in der berufspädagogischen andererseits? Wie lässt sich der Kompetenzbegriff in die Debatte um Schlüsselkompetenzen einordnen? Wie erfolgreich sind die in der Jugendsozialarbeit eingesetzten Verfahren zur Kompetenzfeststellung? Diesen Fragen geht Dr. Rüdiger Preißer in seinem neuen Buch nach. Er bewertet MELBA/IDA, HAMET 2, START, Profil-AC, TASTE, P.E.A.Ce, EXPLORIX und DIA-FRAIN und formuliert Anforderungen an die Verfahren, wenn sie sinnvoll in der Jugendsozialarbeit eingesetzt werden sollen.

Auszüge aus der Bewertung von Verfahren zur Kompetenzfeststellung in der Jugendsozialarbeit von Dr. Rüdiger Preißer:
„… Bewertung von Verfahren zur Kompetenzerfassung in der Jugendsozialarbeit
Die zum Teil mit öffentlichen Mitteln geförderte Entwicklung von Verfahren zur Kompetenzerfassung hat auf dem Gebiet der Kompetenzdiagnostik in der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit einen großen Fortschritt und einen Professionalisierungsschub erbracht. Dies wird vor allem durch einen Vergleich mit der Prüfungspraxis im Schul- oder Hochschulbereich deutlich, in dem solche kompetenzorientierten Verfahren noch weitgehend fehlen. Deshalb steht mit diesen Verfahren in der Jugendsozialarbeit inzwischen ein Instrumentarium zur Verfügung, das aufgrund seiner wissenschaftlichen Fundierung (Kompetenzdiagnostik), seiner Ausdifferenzierung (Berücksichtigung verschiedener Dimensionen von Lernergebnissen) und seiner Komplexität (diagnostische, handlungsorientierte, anwendungsorientierte Erfassung) aussagefähiger, differenzierter und präziser ist als die Notengebung als Standard der Leistungsmessung im formalen Bildungssystem. Vor allem durch den Einsatz handlungsorientierter Verfahren wird ein enger Bezug zur Ausübung von Kompetenzen ermöglicht, die der Bewältigung der jeweiligen Handlungen dienen (Lang-von Wins 2003, S. 597). Der Blick des Bildungspersonals auf die Ressourcen, Voraussetzungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen wird gewissermaßen objektiviert, da ihm vergleichbare Anforderungskontexte, eine kontrollierte Methodik sowie festgelegte Kriterien der Bewertung zugrunde liegen. …

Eine Bewertung der … Verfahren der Kompetenzerfassung muss in erster Linie an ihren Zielen gemessen werden. In den Selbstdarstellungen der Verfahren wird häufig eine Vielzahl von unterschiedlichen Zielen angegeben, die zum Teil weit über den eigentlichen Zweck – …– hinausgehen und die Kompetenzfeststellung mehr oder weniger in den Rahmen von Berufsorientierung stellen. Die Ziele reichen von Informationsvermittlung (über Ausbildungsberufe oder Anforderungen der Arbeitswelt), über die Erstellung eines individuellen Kompetenzprofils (dem Feststellen von Stärken, Interessen und Potentialen), über die Klärung von Berufsinteressen und Berufseignung, die Entwicklung von (schulischen und beruflichen) Perspektiven zur Lebensplanung, die passgenaue Auswahl eines Ausbildungsberufes bis schließlich hin zur Erweiterung des Bewusstseins (über die eigene Fähigkeiten, Interessen, Neigungen) sowie der Stärkung des Selbstbewusstseins.
Diese Ziele sind zum einen oft nur schwer miteinander vereinbar und können zum anderen aufgrund der Methodologie der Verfahren nur eingeschränkt eingelöst werden. Beispielsweise wird man hinterfragen müssen, ob das Ziel einer Stärkung des Selbstbewusstseins der Jugendlichen oder ihrer Entwicklungsförderung mit dem Einsatz von Testverfahren vereinbart werden kann, oder ob diese nicht eher zu einer Schwächung des Selbstwertgefühls führen. …

Generell muss bezweifelt werden, ob eignungsdiagnostische und anforderungsbezogene Verfahren überhaupt der Entwicklungsförderung der Jugendlichen dienen können, da sie immer auf einen Vergleich der individuellen Testprofile mit Normwerten abzielen. Bei einer Übereinstimmung ist eine Entwicklungsförderung obsolet, während bei einer negativen Abweichungen der individuellen Kompetenzmerkmale vom Anforderungsprofil bzw. Normwert ein Defizit festgestellt wird. Ob darauf mit einer wie auch immer gearteten Förderung oder Qualifizierung der Jugendlichen geantwortet wird, hat mit der Art dieser Diagnose, die ihrem Wesen nach im besten Fall klassifikatorisch ist, zunächst überhaupt nichts zu tun. …

Die meisten Verfahren lehnen sich an die herkömmliche Einteilung in Fach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenzen an, ohne allerdings systematisch auf das damit einhergehende Konzept von Handlungskompetenz zu rekurrieren. Diesen Kompetenzbereichen werden ausgewählte Kompetenzmerkmale zugeordnet, wobei die Auswahl und Zuordnung von Kompetenzmerkmalen zu Kompetenzdimensionen theoretisch nicht begründet wird und manchmal willkürlich erscheint. …

Offenbar lagen der Konstruktion der Verfahren ganz unterschiedliche Überlegungen im Hinblick auf die Entscheidung für eine größere oder geringere Varianzausschöpfung bzw. für eine reichhaltige oder sparsame Skalenkonstruktion zugrunde, denn auffällig sind große Abweichungen zwischen den Verfahren im Hinblick auf das Spektrum sowie auf die Anzahl der erfassten Kompetenzmerkmale für jede Kompetenzdimension. Ob die Menge der erfassten Kompetenzmerkmale für jeden Kompetenzbereich immer als adäquat – also intentional erschöpfend – gelten kann, kann nicht überprüft werden, da über die Konstruktion – … – nicht berichtet wurde. Außerdem sind die Kompetenzmerkmale häufig nicht genügend trennscharf in der Tiefe. …

Viele Verfahren unterscheiden nicht genau, ob sie der Klassifikation, der Selektion bzw. dem Screening, der Vorhersage, der Begutachtung oder der Entwicklungsförderung dienen.
Trotz der Vielfalt der eingesetzten Erhebungsinstrumente sind biographisch-diagnostische Ansätze mit einer explorativen Strategie, die sich für eine individuelle Beratung und Fallarbeit besser eignen würden, kaum – … – unter den Kompetenzfeststellungsverfahren vertreten. Die wenigsten Verfahren sind dialogorientiert und enthalten offene Gesprächssituationen, sondern sie sind überwiegend summativ ausgerichtet.
Die meisten Verfahren sind ausschließlich anforderungsorientiert, wobei in der Regel Arbeitsproben auf der Grundlage derjenigen beruflichen Handlungssituationen ausgewählt werden, in denen die Jugendlichen später kompetent agieren sollen. Meistens beziehen sich die Anforderungssituationen auf die Ebene der extrafunktionalen Aspekte der Berufstätigkeit und die erfassten Kompetenzen werden als „Schlüsselkompetenzen“ bezeichnet. Nur selten wird in der Beschreibung des Verfahrens eine Angabe darüber gemacht, auf welche Weise das jeweilige Anforderungsprofil generiert wurde. Manchmal werden aber auch spezifische Anforderungssituationen direkt in Kompetenzmerkmale übersetzt, was beispielsweise bei hamet 2 zum Eindruck führt, dass weniger Kompetenzen als genau definierte Qualifikationen erfasst werden.

Die einseitige Anforderungsorientierung äußert sich unter anderem darin, dass personale und soziale Kompetenzen funktional auf Arbeitstauglichkeit bzw. Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet sind, während lebensweltnähere Erfahrungen weitgehend ausgeblendet bleiben. Damit werden die Jugendlichen nicht in ihrem gesamten Entwicklungspotential erfasst, sondern nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Beschäftigungsfähigkeit. Außerdem wird die Komplexität kompetenten Handelns, die außer kognitiven Dimensionen auch noch motivationale, wertbezogene und volitionale enthält, vernachlässigt. Psychische Merkmale und Dispositionen, die zwar nicht unmittelbar anforderungsrelevant sind, jedoch als wichtige Dimensionen der Handlungsbereitschaft zugrunde liegen und die Kompetenzentwicklung ermöglichen, ohne selbst Kompetenzen zu sein, werden ebenfalls häufig vernachlässigt. Weshalb fehlen beispielsweise solche für das aktuelle Handeln, aber auch für die Diagnose der Entwicklung des Handelns so wichtige Dimensionen wie Selbstkonzepte, Kontrollüberzeugungen, überdauernde Einstellungen und Interessen, aber auch Grundstimmungen oder kör-perliche Befindensweisen? Weshalb bleiben überdies in den Verfahren der Kompetenzerfassung biographische Grundmuster, typische Lebensthemen, die individuellen Wertorientierungen und Ziele sowie persönlichkeitsbestimmende weltanschauliche und religiöse Überzeugungen unberücksichtigt? Und warum sind nicht wichtige Kompetenzdimensionen wie prägende Motivationen, Handlungsbereitschaften, Kreativität, kognitive Stile usw. aufgenommen? Auch gibt es keinerlei Fragen dazu, wie die Jugendlichen eigentlich sein möchten, um ihr ideales Selbstbild zu erfassen und damit ein Hinweis auf Entwicklungspotential zu erhalten. … „

Preißer, Rüdiger: Kompetenzen von benachteiligten Jugendlichen feststellen und fördern. IN VIA Verlag, Paderborn 2010 ISBN: 978-3-9812641-1-1

Preis 19,80 Euro zzgl. Versandgebühren

Die Publikation ist erschienen in der Reihe Praxisforschung in Bildung und sozialer Arbeit – Hrsg. Birgit Marx. Erhältlich ist die Veröffentlichung beim IN VIA Verlag, Giersmauer 35, 33098 Paderborn, Fon: 05251 – 290833, invia-verlag@meinwerk.de

Quelle: Meinwerk Institut – IN VIA Verlag

Dokumente: Fax_Buchbestellung___Kompetenzen_von_benachteiligten_Jugendlichen_feststellen.DOC

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