Auszüge aus dem Kurzbericht „Unter dem Existenzminimum“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von Susanne Götz, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer und Franziska Schreyer:
„… Das Sanktionsinstrumentarium bei unter 25-Jährigen. Was führt zu Sanktionen und wie sehen diese aus?
Nimmt ein Klient einen Termin etwa für eine Beratung nicht wahr, so wird seine Regelleistung – also das Arbeitslosengeld II (ALG II) ohne Kosten für Unterkunft und Heizung – um 10 Prozent gekürzt. Meldeversäumnisse bilden die einzige Normverletzung, die bei Jüngeren nicht schärfer sanktioniert wird als bei 25-Jährigen und Älteren. Fast 60 Prozent aller Sanktionen bei Jüngeren gehen hierauf zurück.
## Größere Pflichtverletzung
Weigert sich ein junger Klient, z. B. eine zumutbare Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit aufzunehmen, wird die Regelleistung ganz gestrichen. Lebensmittelgutscheine können beantragt, müssen aber nicht genehmigt werden. Gut ein Drittel (36 %) der Sanktionen bei jungen Arbeitslosen basiert auf solch größeren Pflichtverletzungen.
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## Wiederholte größere Pflichtverletzung
Bei Wiederholung werden zusätzlich zur Streichung der Regelleistung die Kosten für Wohnung und Heizung nicht mehr erstattet, das ALG II entfällt also ganz. Genaue Daten zu dieser „Totalsanktion“ liegen nicht vor. Nach Sonderauswertungen der BA-Statistik wurden zwischen Januar 2008 und Juli 2009 bei 30.278 unter 25-jährigen Arbeitslosen Sanktionen verhängt, die zu völliger Leistungsstreichung führten; das sind 19 Prozent aller sanktionierten jungen Arbeitslosen (insgesamt 156.552). Dahinter stehen aber verschiedene Gründe, nicht nur die hier interessierenden wiederholten größeren Pflichtverletzungen; statistisch lassen sie sich nicht differenzieren. Zu den 30.278 Fällen zählen zum Beispiel auch Arbeitslose mit vielen Meldeversäumnissen in kurzer Zeit; deren Sanktion kann kumuliert ebenfalls zum Wegfall der Leistung führen. Weiter zählen hierzu Sanktionierte, die mietfrei bei ihren Eltern wohnen; sie erhalten keinerlei Leistung mehr, auch wenn sie größere Pflichten nicht wiederholt verletzt haben. …
Eckdaten zu Sanktionen
Insgesamt werden nur wenige Arbeitslose sanktioniert: Die Sanktionsquote – hier das Verhältnis von Arbeitslosen mit mindestens einer Sanktion zu allen Arbeitslosen im SGB II – lag im Dezember 2009 bei 3,7 Prozent. Der Wirkungsgrad geht jedoch über die unmittelbar Sanktionierten hinaus: Sanktionsregeln können allein schon durch ihre Existenz oder Androhung wirksam werden und zu regelkonformem Verhalten führen. Sie dürften bspw. „eine allgemeine Atmosphäre des Drucks erzeugen, in der die Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen gegenüber potenziellen Arbeitgebern erhöht wird“ (Kumpmann 2009). Unter 25-jährige Arbeitslose werden gut dreimal so häufig sanktioniert wie 25-jährige und ältere (10,1 % zu 3,2 % im Dezember 2009) und ihre Sanktionsquote ist über die Jahre hinweg relativ hoch … Im Dezember 2009 hatten 17.303 junge Arbeitslose mindestens eine Sanktion; in drei Jahren (2007 bis 2009) wurden 305.366 Sanktionen gegen junge Arbeitslose erlassen. Junge Männer werden fast doppelt so oft sanktioniert wie Frauen (10,9 % zu 6,1 % im Juli 2009; Sonderauswertung der BA-Statistik).
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Besondere Risiken und Folgen
Über unerwünschte Nebenwirkungen berichten Fachkräfte sowohl in Bezug auf Sanktionen für einmalige als auch für wiederholte größere Pflichtverletzungen.
Die Sanktionierung von Pflichtverletzungen im SGB II könne weit kritischeres abweichendes Verhalten produzieren: Hat mir eine Mutter schon vorgeworfen: Was kürzen Sie denn meinen Sohn, jetzt klaut er wieder.
Interviewte Fachkräfte verweisen ferner auf die Gefahr von Schwarzarbeit und (weiterer) Verschuldung. Letztere könne zu monatelanger Nacharbeit für Sanktionierte und Beratungsstellen führen (Räumungsklagen, Kündigung von Bankkonten). So würden Ressourcen vom Ziel der Arbeitsmarktintegration weggelenkt:
Kunden, die Raten bezahlen, und wenn es nur 10, 20 Euro im Monat sind:
Ich weiß, wenn er das nicht macht, platzt der Ratenvertrag und er muss wieder zur Schuldenberatung oder bekommt sonstige Probleme.
## „Verschwinden“ von Hilfebedürftigen
Im Umfeld von Sanktionen scheint es immer wieder zu einem „Verschwinden“ junger Hilfebedürftiger zu kommen: Der Kontakt zum SGB-II-Träger bricht vorübergehend oder längerfristig ab. Teils beruhe dies auf dem Missverständnis, aktuell Sanktionierte müssten nicht an Maßnahmen teilnehmen:
Wir hatten einen Fall, der ist nach der Sanktionierung verschwunden. Der Bruder ist auch nicht mehr im Kurs aufgetaucht. Die haben gesagt: Wir haben nichts mehr zu essen, wir kriegen kein Geld, warum sollten wir noch zu euch kommen?
Das Verschwinden gründe aber auch auf Überforderung und Resignation:
Oft haben Jugendliche so viele Probleme, dass sie nicht wissen, wie sie die regeln können. Auch haben sie niemanden, der sie dabei unterstützt und sagen, das hat keinen Sinn mehr, da kann ich gleich zu Hause bleiben. Ein Jugendlicher kam nicht mehr, auf den ist alles eingestürzt, der hatte ein Gerichtsverfahren anstehen.
Problematisch sei ein Verschwinden nicht zuletzt für die berufliche Integration:
Ein Kunde mit einer 100 % Sanktion hat sich komplett aus dem Leistungsbezug abgemeldet und ist in eine Wohnwagensiedlung gezogen. Da hat man keinen Einfluss mehr auf die berufliche Orientierung, wenn er sich zurückzieht und sagt: Ich schnorre mich bei anderen durch. Ich weiß nicht, ob das das Ziel ist.
## Fehlentscheidungen bei psychischer Beeinträchtigung
Psychisch Kranke werden nicht sanktioniert, so Interviewte. Fraglich ist, inwieweit psychische Erkrankungen immer als solche erkannt werden können. Damit verbindet sich die Gefahr von Fehlentscheidungen:
Manchmal sind Pflichtverletzungen vielleicht mit einem Krankheitswert verbunden, der aber noch nicht manifest ist. Die Leute gehen nicht zum psychologischen Dienst oder zum Arzt.
## Gesamte Bedarfgemeinschaft betroffen
Mit Sanktionen sollen Einzelne bestraft werden. Aber jede zweite Sanktion bei jungen Arbeitslosen entfällt auf Personen, die etwa mit Eltern oder eigenen Kindern zusammenleben (Juli 2009; Sonderauswertung der BA-Statistik). Sanktionen treffen so die gesamte Bedarfsgemeinschaft.
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Fazit und offene Fragen
Mit Ausnahme von Meldeversäumnissen werden junge Hilfebedürftige schärfer sanktioniert als ältere. Ein Blick in andere Rechtsgebiete und Länder zeigt, dass größere Strenge gegen Jugendliche nicht unbedingt üblich ist. Während das Jugendstrafrecht – auch aus pädagogischen Gründen – beansprucht, milder zu sein als das Erwachsenenstrafrecht, ist dieses Prinzip im SGB II umgedreht. Dabei scheint Deutschland eine Sonderstellung einzunehmen; Großbritannien und Frankreich etwa kennen keine strikteren Sanktionen für Jüngere … Junge Arbeitslose werden zudem häufiger sanktioniert als ältere: Ihre Sanktionsquote ist über die Jahre hinweg etwa dreimal so hoch. Meist stehen dahinter Meldeversäumnisse, bei Jüngeren noch etwas häufiger als bei Älteren.
Bei den SGB-II-Trägern befinden Fachkräfte – in der Regel aus Vermittlung und Fallmanagement – über Sanktionen. Mit einer qualitativen Studie lassen sich keine gesicherten Aussagen treffen, wie die Fachkräfte insgesamt über Sanktionen bei Jüngeren denken. In den Intensivinterviews mit 26 Vermittler/-innen und Fallmanager/-innen wird deutlich, dass fast alle die grundsätzliche Möglichkeit einer Sanktion begrüßen. Eher positiv wird die Sanktion beurteilt, die relativ mild und für alle Altersgruppen gleich ist: die Kürzung der Regelleistung um 10 Prozent beim Meldeversäumnis.
Uneinheitlicher, insgesamt aber weitaus kritischer beurteilen sie die Streichung der gesamten Regelleistung bei größerer Pflichtverletzung. Die meisten Interviewten betrachten dies als zu hart und oft wenig sinnvoll in Hinblick auf eine nachhaltige Integration ins Erwerbsleben. Im Gegenteil können Sanktionen und ihre Folgen (Verschuldung, Ergreifen perspektivloser Jobs etc.) diese sogar erschweren. Die Interviewten würden meist gestufte Sanktionen wie bei Älteren vorziehen. Am häufigsten und schärfsten kritisieren sie die Totalsanktion bei wiederholter größerer Pflichtverletzung, bei der nicht nur die Regelleistung, sondern auch die Leistung für Miete und Heizung gestrichen wird. Einige lehnen sie klar ab, weil sie sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können.
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Sanktionen bilden ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, durch das Hilfebedürftige zeitlich begrenzt unter dem soziokulturellen Existenzminimum leben müssen. Darf aber Hilfebedürftigen die Grundsicherung durch Sanktionen überhaupt entzogen werden – gleichgültig, ob teilweise oder ganz? Oder muss Arbeitsmarktpolitik das soziokulturelle Existenzminimum respektieren, auch bei regelwidrigem Verhalten von Leistungsbezieher/-innen? Markiert dieses Existenzminimum also eine Grenze, die nicht unterschritten werden darf?“
Den Bericht des IAB in vollem Textumfang entnehmenSie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.
http://doku.iab.de/kurzber/2010/kb1010.pdf
www.sanktionsmoratorium.de
Quelle: IAB
Dokumente: kb1010_iab_Sanktionen.pdf