Experten diagnostizieren unzureichende Medienkompetenzförderung in Schulen

Im Rahmen der Expertise der Medienanstalt Hamburg/Schleswig-Holstein an der Universiät Hamburg überprüften Prof. Dr. Rudolf Kammerl und Sandra Ostermann die Lehrpläne aller Bundesländer und deutschsprachigen Länder. Zusätzlich wurden Experten interviewt und Gespräche mit Forschungseinrichtungen und Schulbehörden geführt. Demnach finden sich in allen Bundesländern Vorgaben zur Medienerziehung und zur Förderung von Medienkompetenz. Allerdings fehlen konkrete Hinweise, wie und wann das im Unterricht geschehen kann bzw. soll. Wenn aber Schule der zunehmenden Bedeutung von Medien sowie Informations- und Kommunikationstechnik gerecht werden soll, bedarf es verbindlicher und breitenwirksamer Regelungen. Die Lösung könnte die Einführung eines eigenen Unterrichtsfaches „Medienbildung“ sein. Allerdings ist dafür derzeit keine bildungspolitische Mehrheit zu gewinnen. Daher formuliert die Expertise abschließend Empfehlungen, wie Medienbildung in Schulen – auch ohne eigenes Unterrichtsfach – gestärkt werden kann.

Auszüge aus der Expertise „Medienbildung – (k)ein Unterrichtsfach?:
“ … Ausgangssituation
Bereits im Orientierungsrahmen der Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung und Forschungsförderung „Medienerziehung in der Schule“ aus dem Jahr 1995 heißt es im Kapitel über die Bedeutung der Medien im gesellschaftlichen Zusammenhang, „dass sich die Medienwelt als eigenständige „Erziehungs- und Bildungswelt“ entwickelt, auf die besonders die Schule als klassisches System organisierter Bildung antworten muss. (…) denn insbesondere über die elektronischen Medien an Kinder und Jugendliche herangetragene Informationen, Probleme und Wertorientierungen überdecken in ihrer Wirkung oft die Bedeutung familiärer Erziehung und schulischer Bildung. Es muss deshalb von einer veränderten Bildungssituation, d.h. auch von veränderten Lernvoraussetzungen und Lernmöglichkeiten in der Schule ausgegangen werden“. …

Auch wenn inszwischen medienerzieherische Inhalte in den Lehrplänen verschiedener Fächer verankert sind (vgl. auch KMK Beschluss 2008 „Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktien in der Lehrerbildung)“ und Rahmenpläne oder Unterrichtshilfen mit zum Teil verbindlichen Erlasscharakter in allen Bundesländern vorliegen, besteht die Vermutung, dass eine schulische Medienerziehung nicht flächendeckend und verbindlich stattfindet; denn gerade in Deutschland gleicht die aktuelle Situation bei der Verwendung neuer Medien in Schulen und im Hinblick auf die Förderung von Medienkompetenz in vielerlei Hinsicht strukturell betrachtet noch immer dem Status der 1980er Jahre:
##
## Trotz relativ guter Ausstattung ist der Computereinsatz unterdurchschnittlich. Bei PISA 2006 belegt Deutschland hier den letzten Platz. Nur 31% der Schülerinnen und Schüler gaben an, dass eine regelmäßige Computernutzung stattfindet (OECD-Durchschnitt 56%). Die Investitionen, die in den letzten Jahren für die Ausstattung an Schulen getätigt wurde, laufen damit zu großen Teilen ins Leere.
## Auch jüngste Befragungen auf Länderebene, z.B. von über 1000 niedersächsischen Lehrkräften und ca. 5000 bayerischen Lehrkräften belegen deutlich dieses Bild. Dabei zeigt sich, dass die genannten Defizite nicht allein auf mangelnde Kompetenzen oder Motivationen von Lehrkräften zurückzuführen sind, „sondern die allgemeine schulische Zeit- und Arbeitsbelastung, der sich viele Lehrkräfte ausgesetzt sehen und die einen (häufigeren) Einsatz digitaler Medien verhindern“
## Besonders auffallend ist, dass laut einem Zeitvergleich der Jahre 2002 und 2006 medienerzieherische Aktivitäten in der Schule weiterhin die Ausnahme sind. Bezüglich des Umfangs medienerzieherischer Themen im Unterricht ist lediglich ein Anstieg von 7% im Jahr 2002 auf 8% im Jahr 2006 festzustellen.
Seit den 1990er Jahren hat sich die Bedeutung der Medien, insbesondere die der digitalen Medien, deutlich gewandelt. In nahezu allen Berufen sind Computerkenntnisse heute unerlässlich. Über 90% aller Jugendlichen sind täglich oder mehrmals die Woche online. Der Jugendmedienschutz im Internet weist aber gleichzeitig große Lücken auf. Durch die Allgegenwärtigkeit von Handy und Internet haben sich Kommunikation und die Verbreitung von Informationen grundlegend gewandelt. Ein Hineinwachsen in und Aneignen von Kultur (Enkulturation) findet in einer „digital geprägten Kultur“ (…) statt und muss entsprechend neu bestimmt werden. Deshalb stellt sich die Frage, inwiefern es gelungen ist, in den Lehrplänen die aktuelle Aufgabe der Medienbildung gut zu verankern.

Handlungsempfehlungen für die Medienbildung in Hamburg und Schleswig-Holstein
Ausgehend von den Ergebnissen der Expertenbefragungen, der Sichtung der Lehrpläne und Dokumente wurden die Ergebnisse diskutiert und interpretiert. Wie … deutlich gemacht wurde, sind Maßnahmen zur verstärkten Implementierung der Aufgabe Medienbildung an Schulen erforderlich. Neben der Notwendigkeit einer vestärkten curricularen Integration erscheinen Maßnahmen zur Qualitätssicherung erforderlich.
Die Aufgabe schulischer Medienbildung ist in einem integrativen Rahmenmodell zu betrachten, das die Möglichkeiten der Schule unter Berücksichtigung äußerer Rahmenbedingungen berücksichtigt. Neben der Lehrerbildung sind die Rolle des Elternhauses, die Zusammensetzung der Peers, die Maßnahmen des Jugendmedienschutzes, die außerschulische Jugendmedienarbeit und ggf. weitere Aspekte zu berücksichtigen. … Auf dieser Basis sollen folgende erste Handlungsempfehlungen und Forderungen formuliert werden:

I. Rahmenkonzepte für Medienkompetenzförderung weiterentwickeln

II. Verbindlichkeit und Qualitätssicherung für Medienkompetenzförderung schaffen

III. „Prioritäres Thema“ in der Lehrerbildung – Medienpädagogische Grundbildung verbindlich verankern

IV. Weiterbildung Medien – Funktionsstellen für Medienpädagogik verankern

V. Medienerziehung im Elternhaus stärken

VI. Zusammenarbeit von außerschulischer Medienarbeit und Schulen stärken

VII. Förderung medienpädagogischer Forschung

Rahmenkonzepte für Medienkompetenzförderung weiterentwickeln
In den Lehrplänen ist Medienbildung bzw. die Förderung von Medienkompetenz enthalten. Da ein eigenes Fach Medienbildung aus politischen – nicht aus inhaltlichen Gründen – derzeit nicht umsetzbar erscheint, fehlt die Sicherung der Verbindlichkeit. Eine Berücksichtigung der Kulturtechnik Medienkompetenz allein in den Präambeln ist nicht ausreichend. Die Verankerung in den Curricula der Fäger ist zu gering. Gerade im Kontext von Internet- und Computernutzung sind die formulierten Inhalte und Ziele weitgehend veraltet.
Forderung: Die Förderung von Medienkompetenz muss in den Curricula der Unterrichtsfächer verbindlich und breiter verankert werden. Gerade im Kontext der digitalen Medien müssen Aktualisierungen zeitnah erfolgen. Den Lehrkräften sind zur Umsetzung angemessene (didaktische) Hilfestellungen und Materialien für die Integration in den Fachunterricht zur Verfügung zu stellen.

Verbindlichkeit und Qualitätssicherung für Medienkompetenzförderung verstärken
Trotz Berücksichtigung der Zieldimension Medienkompetenz in den Lehrplänen wird der Ereichung dieses Ziels in Lernstandserhebungen und Qualitätssicherung noch keine Beachtung geschenkt. Da Medienkompetenz wie Lesekompetenz oder Naturwissenschaftliche Kompetenz als zentrale Kulturtechnik einer Medien- und Informationsgesellschaft betrachtet werden muss, sind systematische Informationen zum Stand der Medienkompetenz für Systemmonitoring und -steuerung unumgänglich. Auf Landesebene wären diese Informationen langfristig vom Institut für Bildungsmonitoring und LIQ (für Hamburg) und für Schleswig-Holstein durch das IQSH zu erheben. Da die empirische Bildungsforschung in diesem Bereich noch unausgereift ist, sind in Zusammenarbeit mit der Forschung geeignete Instrumente zu entwickeln.
Forderung: Ausgehend von der Entwicklung von Bildungsstandards in Sachen Medienkompetenzförderung ist die Überprüfung und Sicherung dieser Standards in die Instrumente und Maßnahmen zur Sicherung der Bildungsstandards zu integrieren. Hierzu ist eine Kooperation von Schulforschung und medienpädagogischer Forschung nötig.

„Prioritäres Thema“ in der Lehrerbildung – Medienpädagogische Grundbildung verbindlich verankern
Dass Medienpädagogik als verpflichtender Anteil in der Lehrerbildung verankert werden soll, wird seit Jahren von verschiedensten Gremien wiederholt eingefordert. Eine Verbindlichkeit mediendidaktischer und medienpädagogischer Inhalte in der ersten Phase der Lehrerbildung ist bislan allerdings nciht umgesetzt worden. Stattdessen ist in Hamburg eine Ausdünnung des Lehrangebots in diesem Bereich geplant.
Forderung: In den Lehramtsstudiengängen ist eine medienpädagogische Grundbildung verpflichtend für alle zu verankern. Dies erfordert nicht nur eine Sicherung, sondern den Ausbau der Medienpädagogik an den Hochschulen. In Hamburg ist dazu dringend der Abbau von Stellen zu verhindern, in Schleswig-Holstein ist die Kontinuität aktueller Modellprojekte zu sichern.

Weiterbildung Medien – Funktionsstellen für Medienpädagogik verankern
Neben der Grundbildung für alle Lehrkräfte werden an Schulen Fachkräfte benötigt, die bei Neuerungen interne Multiplikatorenfunktionen übernehmen und sich im Rahmen der Schulentwicklung um die Konzipierung, Fortschreibung und Umsetzung eines Medienentwicklungsplans bzw. eines medienpädagogischen/mediendidaktischen Rahmenkonzepts annehmen. Die hierfür benötigten Qualifikationen gehen über Grundbildung hinaus und müssen über eine Zusatzqualifikation vermittelt werden. Mit der „Zusatzqualifikation Medien“ gibt es am LI Hamburg solch ein Angebot (mit einem Umfang von 100 Seminarstunden pro Jahr). Eine Verzahnung der dritten Phase der Lehrerbildung mit der ersten und zweiten Phase wäre anzustreben. Die Teilnahme an derartigen Angeboten muss attraktiv gestaltet und mit Funktionen an Schulen gekoppelt werden. So gibt es z.B. in Bayern mit dem Medienpädagogisch-Informationstechnischen Berater an Schulen (MIB) Funktionsstellen, die eine Berücksichtigung im Stundendeputat beinhalten und laufbahnrelevant sind.
Forderung: Medienpädagogische Weiterbildung als phasenübergreifendes Angebot der Lehrerbildung, das für Funktionsstellen qualifiziert.

Medienerziehung im Elternhaus stärken

Die Rolle der Eltern wurde von Experten betont und ist in der Bildungsforschung gut belegt. Wie können Familien für Initiativen zur Medienerziehung erreicht werden? Mit „Buchstart“ wurde initiiert von der Kulturbehörde in Hamburg eine Maßnahme zur Unterstützung der Vorlesekompetenz von Eltern eingeführt, das an „UK Bookstart“ angelehnt ist. Im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung U6 werden von den Hamburger Kinderärzten Buchstart-Taschen verteilt, die mit Bilderbüchern und Tipps für Eltern gefüllt sind. Vorliegende Evaluierungen (zu „Lesestart Sachsen“: Schorb et al.2009) zeigen, dass dies ein erfolgversprechender Weg ist. Entsprechend sollten auch für den Umgang mit elektronischen Medien, insbesondere Computer und Internet, frühzeitig Hilfen und Empfehlungen an alle Familien verteilt werden. Anknüpfend an die immer früher stattfindenden Kontakte der Heranwachsenden mit dem Internet, ist der Einschulungstermin als Zeitpunkt zu empfehlen.
Forderung: Initiative zur Stärkung der Medienerziehung in den Familien, z.B. durch ein Medienstart-Paket zum Einschulungstermin mit Tipps für Eltern und Materialien für die Schulanfänger.

Zusammenarbeit von außerschulischer Medienarbeit und Schulen stärken
Die Entwicklung der digitalen Medien und ihrer Nutzung ist sehr dynamisch und wirft immer neue spezifische Fragen (z.B. im rechtlichen Bereich) und Problemstellungen (z.B. Suchtphänomene) auf. Neben der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist deshalb auch die Unterstützung der medienpädagogischen Arbeit durch medienpädagogische Fachkräfte erforderlich.
Forderung: Schaffung eines Pools an medienpädagogischen Fachkräften, die nachgefragt werden können. Für die Kooperation mit außerschulischen Medienarbeit mit Kindern und Jugendlichen müssen organisatorische, finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen verbessert werden.

Förderung medienpädagogischer Forschung
Zur Entwicklung im Implementierung geeigneter Instrumente zu Qualitätssicherung und Erhebungen erreichten Kompetenzniveaus ist medienpädagogische Forschung erforderlich. Die vorhandenen (in Kapitel 6.4. angesprochenen) Desiderata erklären sich zum einen aus der Dynamik und Neuartigkeit der Medienentwicklung, zum anderen und in erster Linie aus dem geringen Ausbau entsprechender Forschungsstellen zur Medienpädagogik.
Forderung: Ausbau der Medienpädagogik in Forschung und Lehre und gezielte Förderung medienpädagogischer Forschung zur Empirie der Entwicklung und Förderung von Medienkompetenz“

Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link.

http://www.ma-hsh.de/aktuelles-publikationen/publikationen/studie-medienbildung/studie-medienbildung-kein-unterrichtsfach.html

Quelle: Medienanstalt Hamburg / Schleswig-Holstein (MA HSH)

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