Mindestlöhne schaden nicht – Analyse zu den Beschäftigungseffekten

WARUM DEUTSCHLAND EINEN GESETZLICHEN MINDESTLOHN BRAUCHT

Schien im Jahr 2009 die Einführung eines Mindestlohns für weitere Branchen greifbar nahe zu sein, wurden die Karten mit Amtsantritt der neuen Regierung im Herbst neu gemischt. FDP und weite Teile der Union halten gesetzliche Mindestlöhne für marktwirtschaftlich falsch, weil am Ende Arbeitsplätze verloren gingen. SPD, Linke und, mit Einschränkungen, Grüne vertreten demgegenüber die Auffassung, eine staatliche Regulierung sei erforderlich, da der Markt alleine in vielen Branchen weder für faire noch für lebensunterhaltsichernde Einkommen sorge.

In der Bevölkerung ist die Zustimmung für Mindestlöhne in den letzten Jahren deutlich gewachsen. In Teilen der Öffentlichkeit – insbesondere der Wirtschaftswissenschaft – hält sich die Einschätzung, Mindestlöhne gefährden Arbeitsplätze bzw. vernichten diese.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung legt in ihrer aktuellen Expertise, durchgeführt von Dr. Gerhard Bosch, Dr. Claudia Weinkopf und Thorsten Kalina vom Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, Argumente für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns dar. Neben einer Analyse der Entwicklung des Niedriglohnsektors, greift die Expertise unterschiedliche Diskussionsstränge auf und wertet empirische Befunde aus internationalen Studien aus.

Auszüge aus der Expertise „Mindestlöhne in Deutschland“ veröffentlicht im WISO Diskurs Dezember 2009:
>> AKTUELLE BESTANDSAUFNAHME ZUM NIEDRIGLOHNSEKTOR
Im internationalen Vergleich galt Deutschland lange als ein Land mit einer vergleichsweise geringen Lohnspreizung und nur wenigen niedrig bezahlten Beschäftigten. Noch vor wenigen Jahren wurde intensiv darüber diskutiert, ob man einen Niedriglohnsektor in Deutschland überhaupt erst einführen müsse, um Beschäftigung (insbesondere für gering Qualifizierte) zu fördern. Tatsächlich gibt es einen solchen Sektor mit niedrigen Löhnen jedoch schon seit langem. Allerdings blieb er bis Mitte der 1990er Jahre stabil bei etwa 13 bis 14%. Seitdem ist der Niedriglohnsektor zunächst fast unbemerkt deutlich gewachsen, ohne dass sich dadurch die Beschäftigungssituation insgesamt oder die Beschäftigungschancen der gering Qualifizierten verbessert haben. …

Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung … hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das deutlich über dem europäischer Nachbarländer liegt (und fast das hohe Niveau der USA erreicht). Die Einkommensspreizung in Deutschland hat seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zugenommen. Während die oberen Einkommensgruppen zwischen 1995 und 2006 zumindest leichte Reallohnzuwächse zu verzeichnen hatten, sind die durchschnittlichen Stundenlöhne im unteren Einkommensquartil in diesem Zeitraum inflationsbereinigt um fast 14% gesunken. Der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten ist in Deutschland selbst im Wirtschaftsaufschwung seit 2004 weiter angestiegen und die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor sind im Vergleich von 1995 und 2007 inflationsbereinigt nicht gestiegen bzw. in Westdeutschland sogar gesunken. Besonders bedenklich erscheint, dass der Anteil von Beschäftigten mit Niedrigstlöhnen von weniger als 50% oder sogar einem Drittel des Medians deutlich gestiegen ist. Immer mehr Menschen arbeiten in Deutschland also für Löhne, die selbst bei Vollzeitarbeit und Alleinstehenden kaum zur Bestreitung des Lebensunterhaltes ausreichen. …

Atypisch Beschäftigte sind zwar zusätzlich zu den mit ihrer Beschäftigungsform verbundenen besonderen Risiken häufig auch von Niedriglöhnen betroffen, aber auch unter den Vollzeitbeschäftigten arbeitet inzwischen fast jede/r Siebte für einen Niedriglohn. Die Hoffnung, dass Niedriglohnjobs als ein Sprungbrett in besser bezahlte Beschäftigung fungieren, erfüllt sich zunehmend seltener und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass mit aufstockenden Leistungen der Grundsicherung de facto nicht die betroffenen Beschäftigten, sondern vielmehr Arbeitgeber, die auf Niedrigstlöhne setzen, massiv subventioniert werden. …

MINDESTLÖHNE UND BESCHÄFTIGUNG
… Aus der Literatur zu den Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen aus den letzten Jahren kann man folgende Schlussfolgerungen ziehen:
* Durch Mindestlöhne verringert sich die Einkommensungleichheit – insbesondere, je näher die Mindestlöhne am Medianlohn liegen. Es werden zudem die Einkommensdifferenzen zwischen demographischen Gruppen, insbesondere zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Jüngeren und Älteren vermindert. Schließlich erhöhen sich oft auch die Löhne der Gruppen oberhalb des Mindestlohnes, weil diese zur Wiederherstellung von Lohndifferenzen nach Einführung eines Mindestlohnes teilweise angehoben werden. Mindestlöhne verringern zudem die Armutsquote – allerdings nur in einem begrenzten Maße, da viele arme Haushalte kein Einkommen aus Erwerbsarbeit haben und Beschäftigte mit Mindestlöhnen oft auch in Haushalten mit einem höher Verdienenden leben.

* Durch verbesserte ökonometrische Analysemethoden konnten Konjunktureffekte neutralisiert und der Einfluss unbeobachteter regionaler Heterogenität von Vergleichsgruppen verringert werden. Die neueren Untersuchungen zeigen übereinstimmend neutrale oder sogar leicht positive Beschäftigungseffekte bei Erwachsenen. Selbst die negativen Auswirkungen auf Teenager und Jugendliche, die in früheren Untersuchungen erkennbar waren, sind nicht mehr generell nachweisbar.

* Die neuere Forschung zeigt, dass nicht nur sehr niedrige Mindestlöhne, wie die Mindestlöhne in vielen US-Staaten beschäftigungsneutral sind, sondern auch die Mindestlöhne in westeuropäischen Staaten, die von mehr als 8 € bis 13,80 € (Dänemark) reichen, oder die living wages in US-amerikanischen Städten, die in Kaufkraft gemessen bei 10 € und mehr liegen. Es ist somit nicht mehr möglich, die Forschungsergebnisse wegen der geringen Höhe der untersuchten Mindestlöhne als für Deutschland irrelevant zu qualifizieren.

* Mindestlöhne können zu leichten Preiserhöhungen führen, ohne dass die Beschäftigung leidet. Offensichtlich gibt es auch bei den Preisen „Zonen der Nichtdeterminiertheit“, in denen die Nachfrage nicht sofort auf Preise reagiert.

* Durch Mindestlöhne kann sich die Zahl der offenen Stellen verringern, da die Betriebsbindung der gering Bezahlten steigt. Dies ist aber nicht Ausdruck geringerer Arbeitsmarktdynamik, sondern Ausdruck höherer Beschäftigungsqualität.

* Es gibt deutliche Hinweise, dass das „Wie“ der Einführung von Mindestlöhnen starke Auswirkungen auf die Beschäftigungseffekte hat. Eine frühzeitige Ankündigung von Mindestlöhnen bzw. ihrer Erhöhung, ein längerer Anpassungszeitraum für Klein- und Mittelbetriebe sowie eine Verknüpfung mit Weiterbildung und Innovation ermöglichen höhere beschäftigungsfreundliche Mindestlöhne als ohne solche flankierenden Maßnahmen.

* Länder mit einem institutionellen Umfeld, das Weiterbildung, Modernisierung der Arbeitsorganisation und Innovation unterstützt, können sich höhere Mindestlöhne „leisten“ als Länder ohne solche positiven Rückkoppelungen. Das in Deutschland häufig verwendete Argument, die britischen und US-amerikanischen Forschungsergebnisse kämen vor allem wegen des niedrigen Regulierungsniveaus der dortigen Arbeitsmärkte nicht zu negativen Beschäftigungseffekten, konnte nicht bestätigt werden. Es spricht hingegen vieles dafür, dass Mindestlöhne in deregulierten Arbeitsmärkten wegen unzureichender institutioneller Unterstützung niedriger als in Arbeitsmärkten mit pro-aktiven Regulierungen sind. …

MINDESTLÖHNE IN DEUTSCHLAND
… Wie konnte es zu einer so raschen Zunahme von Niedrig- und sogar Niedrigstlöhnen in einer sozialen Marktwirtschaft wie Deutschland kommen? Den wichtigsten Grund sehen wir in der Anfälligkeit des deutschen Tarifsystems für Außenseiterkonkurrenz. Da es kaum verbindliche Lohnuntergrenzen gibt, ist es möglich, auch Löhne unterhalb der Branchentarife zu zahlen. Bis zur deutschen Wiedervereinigung spielte dies allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Rund 80% der Unternehmen waren tarifgebunden und die restlichen Unternehmen orientierten sich an diesen Tarifverträgen, da ansonsten ihre Arbeitskräfte abgewandert wären. Dieses Risiko schwand jedoch mit der hohen Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung. Zunächst in Ostdeutschland und dann auch Westdeutschland verließen viele Unternehmen die Arbeitgeberverbände oder traten erst gar nicht ein, um geringere Löhne zahlen zu können. …

Einen … politischen Schub gab es durch die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen. Durch die Abschaffung der einkommensabhängigen Arbeitslosenhilfe ist vor allem der Druck auf qualifizierte Langzeitarbeitslose, die zuvor gut verdient hatten, erhöht worden, auch einen schlecht bezahlten Arbeitsplatz anzunehmen. Die Aufhebung der zeitlichen Beschränkungen für den Verleih von Arbeitskräften hat Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, Stammbeschäftigte auch dauerhaft durch geringer entlohnte Leiharbeitskräfte zu ersetzen. …
Schließlich ist noch die deutliche Heraufsetzung der Verdienstgrenze für Minijobs seit 2003 zu nennen. Für Beschäftigte in Minijobs gelten zwar im Prinzip alle arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften und sie haben nach dem Teilzeitund Befristungsgesetz Anspruch auf denselben Stundenlohn wie vergleichbare sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In der Praxis ist aber ein besonderer Beschäftigtenstatus geschaffen worden, dem diese Rechte häufig vorenthalten werden. …

Seit 2006 … hat sich die Stimmung deutlich gewandelt. Große Teile der Bevölkerung sprechen sich in Umfragen inzwischen für Mindestlöhne aus, außer der LINKEN fordern inzwischen auch die GRÜNEN und die SPD sowie die meisten Gewerkschafter/innen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. …

Nach langem Ringen hat das Kabinett im Juni 2007 die Möglichkeit der Ausdehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf weitere Branchen und eine Modifikation des „Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen“ von 1952 grundsätzlich beschlossen. Damit wurde auf der politischen Ebene der Weg für die Verankerung branchenbezogener Mindeststandards in weiteren Branchen geebnet. Die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes scheiterte an dem erbitterten Widerstand der Unionsparteien. Auch die Zustimmung zu branchenbezogenen Mindeststandards war und ist keineswegs einhellig, was die Umsetzung deutlich verzögert hat. …

Im Januar 2009 hatte der Bundestag beschlossen, sechs der acht Branchen, aus denen 2008 entsprechende gemeinsame Anträge von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gestellt worden waren, in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen: Altenpflege, Sicherheitsgewerbe, Großwäschereien (Industrielle textile Dienste), die Abfallwirtschaft, öffentlich geförderte Weiterbildung (SGB II und SGB III) sowie Bergbau-Spezialarbeiten. Bis November 2009 sind tatsächlich allerdings erst zwei der Branchen, die im Jahr 2008 einen Antrag gestellt hatten, tatsächlich in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen worden: Bergbau-Spezialarbeiten und Industrielle textile Dienste. …

Dass von den acht Anträgen auf Aufnahme ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz bislang nur zwei bewilligt worden sind, hat unterschiedliche Ursachen. … Über die Aufnahme einer Branche in das AEntG entscheidet jedoch der Tarifausschuss, …. . In seiner Sitzung am 31. August 2009 hat der Tarifausschuss eine solche Empfehlung nur für drei Branchen – Bergbau-Spezialarbeiten, Wäschereidienstleistungen sowie Abfallwirt schaft – (mehrheitlich) ausgesprochen. …

Für die anderen beiden Branchen (Sicherheitsdienstleistungen und Aus- und Weiterbildung) konnte im Tarifausschuss hingegen keine Einigung erzielt werden. Bei den Sicherheitsdienstleistungen haben die Vertreter/innen der Gewerkschaften dagegen gestimmt, bei der Aus- und Weiterbildung die Arbeitgebervertreter/innen. Ein solches Votum eröffnet der Bundesregierung zwar grundsätzlich die Möglichkeit, auch in diesen Branchen Mindestlohnverordnungen zu erlassen, was aber bislang nicht erfolgt ist. …

Stolpersteine des deutschen Weges
Die Debatte über Niedrig- und Mindestlöhne in Deutschland ist in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten. Selbst im Arbeitgeberlager wird die Notwendigkeit von Mindeststandards bzw. Lohnuntergrenzen zunehmend gesehen, um Lohndumping zu unterbinden und Wettbewerbsstrategien, die überwiegend auf (Lohn-)Kostendruck basieren, Einhalt zu gebieten. Die Verankerung von branchenbezogenen Mindestlöhnen bietet den Vorteil, dass die Tarifvertragsparteien spezifische Voraussetzungen und Gegebenheiten der eigenen Branche bei der Festlegung von Lohnuntergrenzen einbeziehen können.

Allerdings beinhaltet eine Strategie, die allein auf branchenbezogene Mindeststandards setzt, auch eine Reihe von gravierenden Nachteilen. „Stolpersteine“ sind auf unterschiedlichen Ebenen erkennbar:
* Eine wirksame Durchsetzung und Kontrolle von unterschiedlichen Mindestlöhnen nach Branchen und Regionen ist deutlich schwieriger, als wenn es (zusätzlich auch) eine einheitliche Lohnuntergrenze gibt, die in der breiten Bevölkerung und in den Betrieben bekannt ist.

* Dass von den acht Branchen, die bereits im Jahr 2008 einen Antrag auf die Aufnahme in das AEntG gestellt hatten, bis November 2009 erst zwei tatsächlich in das AEntG aufgenommen worden waren, verweist darauf, dass zahlreiche Blockademöglichkeiten seitens der Politik, der Arbeitgeber und Gewerkschaften bestehen, die selbst bei einem breiten Konsens zugunsten von Mindestlöhnen eine Umsetzung verzögern oder sogar verhindern können. Die Leiharbeitsbranche ist hierfür ein herausragendes Beispiel, aber auch der zwischenzeitliche Wegfall der Mindestlohnregelungen im Gebäudereiniger-Handwerk durch das Scheitern der Tarifverhandlungen zeigt, wie fragil allein branchenbezogene Regelungen sind, wenn sich die Tarifvertragsparteien nicht einigen können. Und selbst wenn sich diese einig sind, treten Mindestlohn-Regelungen nur in Kraft, wenn dem Antrag auf der politischen Ebene auch stattgegeben wird.

* Ob das Mindestarbeitsbedingungengesetz tatsächlich geeignet ist, um für Branchen mit besonders großer Verbreitung von Niedrig- und Niedrigstlöhnen, aber geringer Tarifbindung die Vereinbarung von Mindestentgelten zu ermöglichen, muss sich erst noch erweisen. Im Vergleich zum AEntG erscheint das Verfahren noch voraussetzungsvoller und sind die Blockademöglichkeiten noch umfangreicher. Zudem können dem MiArbG zufolge Mindestentgelte, selbst wenn sie erlassen worden sind, im Rahmen bestehender tariflicher Vereinbarungen unterlaufen werden – u.U. sogar auf Dauer.

* Angesichts der komplizierten gesetzlichen Regelungen und der umfassenden Blockademöglichkeiten droht ein Flickenteppich mit unterschiedlich hohen Mindestlöhnen für bestimmte Branchen und weitere Differenzierungen innerhalb dieser Branchen nach Region oder Tätigkeiten einerseits und großen weißen Zonen ohne jegliche Lohnuntergrenzen andererseits. Dies bietet auch zahlreiche Möglichkeiten und Anreize, bestehende Regelungen zu umgehen – z.B. dadurch, dass Tätigkeiten in andere Branchen oder Regionen mit geringeren oder ohne jegliche Mindeststandards verlagert werden. Im Bereich der Briefdienstleistungen wurden zudem Tendenzen erkennbar, durch einen Neuzuschnitt von Tätigkeiten – konkret: die Mischung von Zustellung mit anderen Botendiensten – den höheren Mindestlohn für Briefzusteller/innen zu unterlaufen.

* Mindestlöhne könnten grundsätzlich einen wichtigen Beitrag leisten, um die erheblichen Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen zu verringern. Wenn diese allerdings branchenbezogen unterschiedlich festgelegt werden, besteht die Tendenz, bestehende Unterschiede in der Bewertung von typisch männlichen und typisch weiblichen Tätigkeiten fortzuschreiben. Dies gilt sowohl für branchenbezogene Mindeststandards als auch für die Regelungen zur Sittenwidrigkeit von Löhnen, die um mehr als 30% geringer sind als tarifliche oder ortsübliche Löhne in der Branche. Im Ergebnis gelten damit für Männer und Frauen unterschiedliche Lohnuntergrenzen. Darüber hinaus sind die Voraussetzungen zur Festlegung von Mindeststandards in vielen Branchen, in denen Frauen die Mehrheit der Beschäftigten stellen, besonders ungünstig.

Jenseits dieser grundsätzlichen Stolpersteine bleibt zudem abzuwarten, wie die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP mit den bestehenden bzw. beantragten branchenbezogenen Mindestlöhnen umgehen wird. Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung heißt es hierzu unter dem Stichwort „Tarifautonomie/gesetzlicher Mindestlohn“: „CDU, CSU und FDP bekennen sich zur Tarifautonomie. Sie ist ein hohes Gut, gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrang vor staatlicher Lohnfestsetzung. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab. Daher wollen wir den Tarifausschuss stärken, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam in der Pflicht zur Lohnfindung sind. Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen auf dem Verordnungswege werden einvernehmlich im Kabinett geregelt. Voraussetzung dafür ist grundsätzlich eine Mehrheit im Tarifausschuss. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn werden bis Oktober 2011 evaluiert. Dabei kommt es uns darauf an, diese daraufhin zu überprüfen, ob sie Arbeitsplätze gefährden oder neuen Beschäftigungsverhältnissen entgegenstehen. Zugleich gilt es zu prüfen, ob sie sowohl den erforderlichen Schutz der Arbeitnehmer als auch die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Branchen gewährleisten. Das Ergebnis dieser Evaluierung soll als Grundlage für die Entscheidung dienen, ob die geltenden Mindestlohnregelungen Bestand haben oder aufgehoben werden sollten. Die anhängigen Bundesgerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Postmindestlohn werden abgewartet.“ (Koalitionsvertrag 2009: 21)

FAZIT UND AUSBLICK
Die Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland ist zum einen die Folge der Erosion der einst stabilen Tarifstrukturen. Zum anderen wurde diese Erosion von der Politik durch Veränderungen wichtiger Stützpfeiler der Tarifstrukturen noch beschleunigt. Angesichts der krassen Auseinanderentwicklung der Löhne in den letzten Jahren stellt sich allerdings die Frage, ob die reale Entwicklung nicht weit über dieses Ziel hinausgeschossen ist und politischen Handlungsbedarf signalisiert. Offene Arbeitsmärkte und deregulierte Produktmärkte erfordern neue Wege, um das Lohngefüge zu stabilisieren und das Sozialsystem zukunftsfest zu machen.

Gesetzliche und branchenbezogene Mindestlöhne werden in Deutschland häufig als per se beschäftigungsschädlich und/oder als unvereinbare Gegensätze gesehen. Dabei zeigt die neuere empirische Forschung zu Mindestlöhnen in anderen Ländern, dass selbst vergleichsweise hohe Mindestlöhne positive Effekte auf der betrieblichen Ebene und auf dem Arbeitsmarkt insgesamt haben können. Beispiele aus europäischen Nachbarländern belegen überdies, dass sich gesetzliche und tarifliche Mindestlöhne nicht ausschließen, sondern gut miteinander vereinbar sind. Mehr noch: Länder wie Frankreich oder die Niederlande demonstrieren, dass die Allgemeinverbindlichkeit vieler Tarifverträge ein weiterer wichtiger Pfeiler sein kann, um Entlohnungssysteme zu stabilisieren und gegen ein Ausfransen nach unten zu schützen.
Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn, der das Lohnspektrum nach unten hin begrenzt, wäre insbesondere wichtig für Bereiche, in denen die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nicht präsent oder zu schwach sind, um angemessene Löhne zu vereinbaren. Dies würde auch einen wichtigen Beitrag leisten, um die in Deutschland besonders ausgeprägten Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen zu verringern. Darüber hinaus würde eine solche allgemein verbindliche Lohnuntergrenze die Durchsetzung und Kontrolle von Mindeststandards deutlich erleichtern, weil – wie die britischen Erfahrungen zeigen – die Transparenz für Beschäftigte eine wichtige Voraussetzung für das Self Enforcement ist.

Notwendig wären darüber hinaus auch die Aufhebung des Sonderstatus der Minijobs und die Durchsetzung gleicher Bezahlung von Leiharbeitskräften. Diese Maßnahmen wären einzubetten in ein größeres Reformpaket, das darauf abzielt, den sozialen Zusammenhalt nachhaltig und umfassend zu stärken. Hierzu gehören nach unserer Einschätzung auch eine Modernisierung des Wohlfahrtsstaates und wirksame Maßnahmen für mehr Chancengleichheit in der Bildung sowie zwischen den Geschlechtern. „

Die Autorin und Autoren, Professor Dr. Gerhard Bosch, Dr. Claudia Weinkopf, Thorsten Kalina ;Institut Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen

Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.

Warum Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn braucht
Mindestlohn in Deutschland

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung; Universität Duisburg-Essen

Dokumente: Warum_Deutschland_einen_gesetzlichen_Mindestlohn_braucht___Bosch_Kallna_Weinkopf.pdf

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