Jugendhilfe – Ein Thema für den Aufbau Ost: Neue Herausforderungen und Strategien im Kontext demografischer und sozialer Veränderungen

Jugendhilfe – Ein Thema für den Aufbau Ost: Neue Herausforderungen und Strategien im Kontext demografischer und sozialer Veränderungen Vom 21. – 22. Juni 2005 fand in Salem / Mecklenburg die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit organisierte Fachtagung statt. Im September wird eine ausführliche Dokumentation dazu erscheinen, die sich mit den Workshopthemen:   Neue Konzepten für die Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit insbesondere auf dem Gebiet von Kooperation und Vernetzung Jugendhilfe im Spannungsfeld von Wettbewerb, Wirtschaftlichkeit und knappen Ressourcen Personalentwicklung, Gewinnung und Qualifizierung von Personal Kooperation von Jugendhilfe und Schule Auswirkungen von Hartz IV auf die Arbeit der Jugendhilfe Jugendhilfeplanung vor neuen Herausforderungen beschäftigt. Auch die Inputreferate, die Thesen und wichtigsten Gedanken bei der Diskussion werden in der Dokumentation zu finden sein . Als Beispiele für die Beiträge auf der Tagung finden Sie hier vorab Teile des Artikels ‚Effiziente Instrumente und Strategien für die Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund der Demografie und Abwanderung‘ des Instituts für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung gGmbH, Halle (S. und Auszüge aus einem Interview, dass die Katholische Nachrichtenagentur anlässlich der Tagung mit Pater Otto geführt hat. Effiziente Instrumente und Strategien für die Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern vor dem Hintergrund der Demografie und Abwanderung Martin Ammon, Annett Faßhauer, Gerald Wagner (Projektleitung): isw Institut für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung gGmbH, Halle (S.) Kontakt: wagner@isw-institut.de “ 1.  Untersuchungsgegenstand Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein wichtiges Feld der Sozialpolitik mit weitgehend kommunaler Zuständigkeit. Angebote bzw. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind von erheblichen demografischen, sozialstrukturellen und finanzpolitischen Veränderungen betroffen. Dies gilt für die neuen Bundesländer in besonders ausgeprägter Weise. Die dauerhaft niedrigen Geburtenraten einerseits und anhaltender Abwanderungsdruck andererseits führen längerfristig zu signifikanten Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen wird sich auf mittlere Sicht gegenüber dem Stand zu Beginn der 90er Jahre etwa halbieren. Dieser Prozess trifft, mit unterschiedlicher Stärke, nahezu alle Regionen Ostdeutschlands. Vor diesem Hintergrund stehen insbesondere die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern vor Strukturanpassungen, die das gesamte Leistungsspektrum der Kinder- und Jungendhilfe betreffen. Zu diesem Problemfeld hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) als für den „Aufbau Ost“ zuständiges Fachressort im Jahr 2004 das isw Institut mit einer wissenschaftlichen Untersuchung beauftragt. Zentrales Anliegen der Studie ist es, a) die strukturellen Auswirkungen der demografischen Entwicklung und die damit verbundene Problemdimension – insbesondere bezüglich der Entstehung von Überkapazitäten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – zu erfassen sowie b) praxistaugliche Lösungsansätze zur Bewältigung der Problemkonstellation aufzuzeigen. Die Studie wurde Anfang 2005 abgeschlossen, ihre Ergebnisse im Juni 2005 auf einer Fachtagung öffentlich vorgestellt und diskutiert. Dieser Beitrag enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen. 2.  Demografischer und sozialer Wandel – Entwicklung der Rahmenbedingungen für die Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern 1. Niedrige Geburtenraten, anhaltende Netto-Abwanderungen sowie ein zunehmender Anstieg des Durchschnittsalters prägen die demografische Entwicklung in den neuen Bundesländern. In der Folge dieser Prozesse verändern sich wichtige Rahmenbedingungen für die Kinder- und Jugendhilfe. 2. Die mit dem demografischen Wandel einher gehenden Herausforderungen werden in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe durch zwei weitere wesentliche Einflusskomplexe überlagert. Zu registrieren sind ein signifikanter Wandel in der Sozialstruktur der Bevölkerung sowie zunehmende Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen. 3. Die Auswirkungen der demografischen Prozesse in den neuen Bundesländern lassen sich auf verschiedenen Ebenen erfassen: unmittelbar als quantitative Veränderungen der für die Kinder- und Jugendhilfe relevanten Altersgruppen sowie der Altersstruktur des Personals in der Kinder- und Jugendhilfe, mittelbar hinsichtlich der Ausprägung von Problemlagen in den Zielgruppen. … 6.  Demografische Prozesse der Fertilität und Mobilität haben sozial selektive Wirkungen. Nach Experteneinschätzung führt insbesondere die überdurchschnittlich häufige Abwanderung von besonders leistungsfähigen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen zu einer stärkeren Konzentration von Problemlagen bei den in Ostdeutschland verbleibenden Alterskohorten. 7. Schließlich zeichnet sich, bedingt durch personalpolitische Entscheidungen in der Phase der Systemtransformation, auch eine zunehmende „Überalterung“ des Fachpersonals in der Kinder- und Jugendhilfe der neuen Bundesländer ab. 8. Indikatoren zur Entwicklung der sozialen Situation in den neuen Bundesländern signalisieren zum einen im Trend zunehmende Problemlagen junger Menschen (Auflösung traditioneller Familienstrukturen, Sozialhilfebedürftigkeit, geringwertige Bildungsabschlüsse, Ausbildungsplatzdefizit, Jugendarbeitslosigkeit etc.), zum anderen eine erhebliche räumliche Differenzierung sozialer Problemlagen. Beides stellt die Kinder- und Jugendhilfe vor sich wandelnde Herausforderungen. … 14….Zusammenfassend resultiert daraus ein Plädoyer dafür, das Budget der Kinder- und Jugendhilfe nicht parallel zur abnehmenden Bevölkerung zu kürzen, sondern zu Gunsten von mehr Bildung und Prävention umzuschichten. 3.  Anpassungsstrategien der Akteure der Kinder- und Jugendhilfe … Handlungsoptionen der Jugendämter 19. … Ein zentrales Strategieelement ist die Übertragung vormals kommunaler Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe auf freie Träger. Dieser Prozess ist in den zurückliegenden Jahren weit vorangeschritten, allerdings noch nicht so weit wie im früheren Bundesgebiet. Für die Zukunft ist eine Fortsetzung des Trends zu erwarten. 20. Die zunehmende Übertragung der Trägerschaft für Einrichtungen auf Dritte führt dazu, dass die öffentlichen Träger notwendige Anpassungsleistungen aufgrund sich verändernder Bedarfe nicht mehr unmittelbar selbst erbringen müssen. Die Anpassung von Personal- und Raumkapazitäten an den jeweiligen Bedarf haben die Träger zu leisten. Sie und nicht die Kommunen haben somit auch das wirtschaftliche Risiko evtl. unterlassener Anpassungsentscheidungen zu tragen. Praktisch haben wachsende Budgetrestriktionen der öffentlichen Haushalte in den letzten Jahren zu erhöhtem Kostendruck bei den für die unmittelbare Leistungserbringung zuständigen Trägern geführt. 21. In der so entstehenden neuen Arbeitsteilung rücken bei den öffentlichen Trägern der Jugendhilfe Planung und Controlling in den Mittelpunkt der Tätigkeit. Hierfür sind wirksame Konzepte und Instrumente zu entwickeln und einzusetzen. Zielvereinbarungen, Leistungsmessung und Erfolgsbewertung gewinnen an Gewicht. … Handlungsoptionen der freien Träger 25. Für die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe hat die Qualifikation ihres Personals ebenfalls einen hohen Stellenwert. Vor dem Hintergrund ungünstiger Altersstrukturen und des von einigen Trägern artikulierten Fachkräftemangels sind verstärkte Bemühungen um langfristig erfolgreiche Rekrutierungsstrategien zu beobachten. … 27. Zunehmendem Kostendruck versuchen die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe auch dadurch auszuweichen, das sie sich auf spezialisierte Angebote konzentrieren. Hierfür kommen bspw. besondere Zielgruppen (behinderte Kinder und Jugendliche, Migranten) in Betracht. Bei einer Reihe von Trägern, mit denen im Rahmen der regionalen Fallstudien Interviews geführt worden sind, wurde diese Option aufgezeigt. 28. In einigen Regionen der neuen Bundesländer (darunter auch in den Fallstudienregionen Saalfeld-Rudolstadt und Nordvorpommern) bestehen deutlich höhere Kapazitäten im Bereich der stationären Einrichtungen der Jugendhilfe, als dies für die Sicherstellung des regionalen Bedarfs erforderlich wäre. Verschiedene Träger haben hier Kapazitäten eingerichtet, um Jugendliche aus anderen Regionen Deutschlands – vorzugsweise der alten Bundesländer – unterzubringen und zu betreuen. Dies wird offenbar auch für kommerzielle Anbieter zunehmend attraktiv. Treibende Faktoren dieses „Dienstleistungsexports“ sind die im Vergleich zu Westdeutschland signifikant niedrigeren Personal- und Unterbringungskosten. Aus ökonomischer Perspektive führt dies zu einem Zugewinn an Beschäftigungsmöglichkeiten in der Region. Dennoch bewerten die regionalen Akteure der Kinder- und Jugendhilfe diese Entwicklung überwiegend skeptisch: Die Jugendämter, weil sie die Maßnahmen zur Qualitätskontrolle und -sicherung der Einrichtungen (für die sie keine Zuständigkeit haben) für unzureichend halten und langfristig eher negative „Nebenwirkungen“ für die Region erwarten. Die in der Region etablierten Träger, weil sie hier längerfristig zusätzliche Konkurrenz vermuten und verstärkten Preis- statt Qualitätswettbewerb befürchten. Anpassungsstrategien und Modelle im Rahmen der Organisationsentwicklung …. 32. Nicht allein vor dem Hintergrund des demografie-induzierten Handlungsdrucks, sondern auch aus pädagogisch-konzeptionellen Erwägungen heraus streben die Träger der Kinder- und Jugendhilfe eine engere Abstimmung und Verzahnung ihrer Angebote mit den Schulen an. Ziel ist es, entstehende individuelle Problemlagen möglichst frühzeitig erkennen und präventiv eingreifen zu können. In diesem Prozess erscheint mehr Offenheit und Entgegenkommen von Seiten der Schulbehörden erforderlich. 33. Neben der verstärken Zusammenarbeit mit den Schulen hat die Etablierung effektiver Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Trägern der Jugendhilfe und den im Zuge der Hartz-Reform einzurichtenden Job-Centern hohe Priorität. Die Untersuchung fand in einem Zeitraum statt, in dem die Strukturen der Arbeitsvermittlung und -beratung einen gravierenden Umbruch erfuhren. In diesem Stadium war die Zusammenarbeit zwischen den Trägern der Jugendhilfe und den neuen Job-Centern nach unserer Einschätzung nicht überall zufriedenstellend gelöst. Hier dürfte in einer Reihe von Regionen für die nähere Zukunft noch erheblicher Handlungsbedarf bestehen. 34. Schließlich ist im Ergebnis unserer Analysen einzuschätzen, dass die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe dem Gender-Mainstreaming-Prinzip bislang eher ambivalent gegenüberstehen. Auf der einen Seite wird es – insbesondere in den Jugendämtern – als geltendes Gebot betrachtet. Auf der anderen Seite sind Skepsis und unzureichende Erfahrungen hinsichtlich der praktischen Umsetzung dieses Prinzips zu konstatieren. Standard scheinen gegenwärtig eher noch Ansätze der frauen- bzw. mädchenspezifischen Jugendhilfeplanung zu sein. 4.  Einige explizite Handlungsempfehlungen 35. Die vorstehende Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse unserer Studie enthält eine Reihe impliziter Handlungsorientierungen. Nachfolgend werden darüber hinaus einige explizite Empfehlungen formuliert. Da das Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe in erster Linie in kommunaler Zuständigkeit liegt, sind die Empfehlungen vorrangig an diese Ebene adressiert. Bund und Länder können allerdings flankierende Maßnahmen ergreifen. …   37. Wichtig erscheint es, gute Beispiele für Ansätze zur Bewältigung des demografischen Wandels – aber auch darüber hinaus – verstärkt zu kommunizieren. Dies betrifft mit Blick auf die Ergebnisse unserer Untersuchung u.a. Modelle der Tagespflege in Ergänzung zu etablierten Einrichtungen, Ansätze der indikatorengestützen Analyse und Planung in der Kinder- und Jugendhilfe, Ansätze in den Bereichen Controlling, Zielvereinbarungen, Erfolgsbewertung, den Betrieb von Einrichtungen mit zielgruppenübergreifenden Arbeitsansätzen, Kooperationsmodelle Jugendhilfe untereinander bzw. mit Einrichtungen Dritter, die Umsetzung des Gender-Mainstreaming-Prinzips. … 39. Aufbauend auf einer einheitlichen Datenbasis wird die Erarbeitung und Fortschreibung eines Sozialstrukturatlas auf der Ebene der Kreise empfohlen, um Auswertungen für den effizienten Instrumenteneinsatz – auch vor dem Hintergrund demografischer Trends – zu gewährleisten. …“ Informationen und Rückfragen: Martin Ammon, Annett Faßhauer, Gerald Wagner (Projektleitung): isw Institut für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung gGmbH, Halle (S.) Kontakt: wagner@isw-institut.de   Großen Zuspruch finden alle Angebote, in denen die Sinnfrage gestellt wird… Auszüge aus einem Interview der Katholischen Nachrichtenagentur KNA mit Herrn Pater Otto anlässlich der Tagungen der BAG Katholische Jugendsozialarbeit in Salem: “ KNA: Herr Pater Otto, vor welchen besonderen Problemen steht die Jugendsozialarbeit in den neuen Bundesländern? Otto: Der Anteil der benachteiligten jungen Menschen wird dort immer größer. Viele derjenigen, die flexibel und leistungsfähig sind, wandern in den Westen ab, wo sie schneller eine Ausbildung oder Arbeit finden. Zurück bleiben die Jugendlichen, denen es nicht vergönnt ist, auf der Überholspur zu fahren, denen es schwer fällt, einen Schulabschluss zu machen, die aus unterschiedlichen Gründen Probleme haben. Und es gibt kaum noch Arbeiten, die auch mit einer geringen Qualifizierung ausgeführt werden können. … Otto: Ein weiteres Problem sind die fehlenden Ausbildungsplätze. Hartz IV ist auf diesem Gebiet eine Katastrophe. Das Prinzip Qualifizierung vor Beschäftigung hat offenbar ausgedient. Benachteiligte Jugendliche werden in Ein-Euro-Jobs gesteckt. Das ist ein Vergehen an jungen Menschen. KNA: Die Bundesregierung empfiehlt, bei rückläufigen Bevölkerungszahlen soziale Dienste und Einrichtungen an bestimmten Orten schwerpunktmäßig zusammenzufassen. Was halten Sie davon? Otto: Im Unterschied zu anderen Diensten ist die Jugendsozialarbeit schon ein Schwerpunkt an sich und deshalb sinnvollerweise kaum weiter zu konzentrieren. So hat Ostdeutschland viele ländliche Regionen, wo es nur vereinzelt benachteiligte Jugendliche gibt. Wenn man die Angebote für sie streicht, vergeht man sich doppelt an ihnen. Sie haben keine Arbeit und dazu keine sozialen Hilfen mehr. …. KNA: Welche Ihrer Projekte sind in Ostdeutschland besonders erfolgreich? Otto: Großen Zuspruch finden alle Angebote, in denen die Sinnfrage gestellt wird, ob in der Jugendberufshilfe, im Bereich der Migration oder der offenen Arbeit. Da ist ein unheimlicher Hunger nach Antworten unter Jugendlichen und die Ahnung Mein Leben muss doch eigentlich mehr sein. “ Weitere Informationen zur Tagung: brigitte.schindler@jugendsozialarbeit.de

www.isw-institut.de,
www.kna.de

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