PISA-Ländervergleich belegt soziale Ungerechtigkeit des deutschen Bildungswesens “ Was sich bei der vorgezogenen Bekanntgabe der PISA-Ergebnisse im Juli bereits angedeutet hatte, findet jetzt Bestätigung: Schulischer Erfolg und Kompetenzerwerb sind in Deutschland weiterhin in hohem Maße abhängig von der sozialen Herkunft. Die Chancenungleichheit in den deutschen Schulen nimmt laut dieser Ländervergleichsstudie weiter zu. Selbst bei gleicher Intelligenz habe ein 15-jähriger Schüler aus der Oberschicht eine viermal so große Chance, das Gymnasium zu besuchen und damit das Abitur zu erlangen, als ein Gleichaltriger aus einer Arbeiterfamilie. In Bayern ist die Chancenungleichheit auf dem Weg zum Abitur besonders stark ausgeprägt. Kinder aus der Oberschicht haben dort eine 6,65-mal größere Chance, das Gymnasium zu besuchen und die Reifeprüfung abzulegen, als Schüler aus einem Arbeiterhaushalt. Erfasst wurden in der Studie die Kompetenzen der 15-jährigen Schüler in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften, Problemlösen und Lesefähigkeit. Wegen der bevorstehenden Bundestagswahlen waren erste Ergebnisse der Studie zwar bereits im Juli bekannt gegeben worden. Damals aber ging es eher darum, verhaltenen Optimismus zu verbreiten, schließlich waren zwei neue Bundesländer in die deutsche Spitzengruppe vorgestoßen: Sachsen und Thüringen. Das eigentliche Desaster aber wird jetzt deutlich: Die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems hat vier Jahre nach der ersten PISA-Studie nicht etwa ab-, sondern zugenommen. Das zumindest beweisen laut dpa die ausführlichen Daten mit der wissenschaftlichen Begründung, die am 3. November in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollen. Und schließlich hat sich bei der Schlüsselkompetenz, der Lesefähigkeit, am wenigsten getan – im Gegensatz zu den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten. Ein Grund für die guten mathematischen Trends könnte SINUS sein, ein Projekt der Bund-Länder-Kommission zur Verbesserung des Mathematikunterrichts – ein Modell, bei dem der Bund mit im Boot sitzt. Gegen den Eindruck durch die Vorabmeldungen zu PISA 2003, dass sich die soziale Chancenungleichheit in Deutschland innerhalb der letzten drei Jahre weiter verschlechtert habe, wandte sich der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger in Berlin. Tatsache sei, dass die Reformen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität an den Gymnasien und Realschulen bereits gegriffen hätten, wie die deutlichen Leistungszuwächse von PISA 2000 zu PISA 2003 in den geprüften Teilbereichen von bis zu 50 Punkten zeigten, während es noch nicht gelungen sei, die Haupt- und Gesamtschulergebnisse und die Leistungen von Migrantenkindern entsprechend zu verbessern. ‚Die gestiegene Leistungsdifferenz zwischen Gymnasien und anderen Schularten darf aber nicht postwendend als Vergrößerung der sozialen Chancenungerechtigkeit interpretiert werden. Im Gegenteil: Die Übertrittsquoten zu den weiterführenden Schularten sind in den letzten drei Jahren gestiegen und nicht gesunken‘, sagte der DPhV-Vorsitzende. Nach dem in der psychologischen Pädagogik bekannten ‚Matthäusprinzip‘ profitierten von verbesserter Unterrichtsqualität und zusätzlicher Förderung zunächst die Leistungsstärkeren mehr. Meidinger wandte sich auch gegen die Aussage, Deutschland sei Weltmeister der Chancenungerechtigkeit – es gebe laut internationaler PISA-Studie 2003 einige Länder wie Ungarn und Belgien, die noch stärker unter dieser Problematik litten. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg sei in allen Ländern evident, auch in vielen Ländern mit integrierten Schulsystemen. ‚In diesen bleibt diese Problematik aber länger unter der Decke, weil sich erst nach Ende der Schulzeit zeigt, welche soziale Position jemand erreicht.‘, betonte der DPhV-Chef. … Es komme nicht darauf an, großzügig Abschlusszertifikate an alle ohne Berücksichtigung der Leistung zu verteilen, sondern darauf, dass bei Sicherung der Leistungsstandards alle Schüler optimal gefördert werden. Diesem Ziel kämen die süddeutschen Bundesländer sowie Thüringen und Sachsen näher als andere. Natürlich – so Meidinger – sei es weiterhin eine große Herausforderung, Kinder aus bildungsferneren Schichten in Deutschland stärker zu fördern. ‚Der Anteil von Migrantenkindern ist an Gymnasien noch viel zu gering.‘, betonte er. ‚Hier besteht akuter Handlungsbedarf, wozu der Philologenverband auch konkrete Vorschläge auf den Tisch legen wird.‘ Für Förderprogramme für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten und Migrantenfamilien hat sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Reaktion auf die dpa-Vorveröffentlichungen der PISA-Ergebnisse stark gemacht. ‚Offenbar haben die Aktivitäten, die die Kultusminister nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie entfaltet haben, nur den Nachwuchs aus besser gestellten Familien gefördert. Wir brauchen aber die Talente eines jeden jungen Menschen, jedes Kind hat das Recht auf die best möglichen Bildungschancen‘, sagten GEW-Vorsitzender Ulrich Thöne und GEW-PISA-Expertin Marianne Demmer in Frankfurt am Main. Demmer und Thöne machten deutlich, dass sich die Bundesrepublik auf den Weg zu einem integrativen Schulsystem machen müsse. Gleichzeitig mahnten sie den konsequenten Ausbau der Ganztagsangebote und der frühkindlichen Bildung an. ‚Allen anders lautenden Lippenbekenntnissen zum Trotz verschärft das deutsche Schulsystem mit seiner frühen Auslese die Chancenungleichheit. Die Kultusminister haben nun lange genug vor sich hingewurstelt. Jetzt brauchen wir die Verständigung auf nationale Ziele und länderübergreifende Förderprogramme statt eitler Kleinstaaterei‘, unterstrichen Thöne und Demmer. ‚Wir brauchen Maßnahmen, die diesen Namen auch verdienen, und keine weiteren Sonntagsreden: Es müssen endlich zusätzliche Lehrkräfte und Sozialarbeiter ein- sowie Finanzmittel bereitgestellt werden.‘ Die integrativen Schulsysteme der PISA-Sieger-länder machten deutlich, dass Chancengleichheit und hohes Leistungsniveau zwei Seiten einer Medaille sind. Die starke soziale Benachteiligung von Arbeiter- und Migrantenkindern sei ‚Achilllesferse und Schandfleck des deutschen Schulsystems zugleich. Schandfleck, weil sich ein benachteiligendes Schulwesen mit einer demokratischen Gesellschaft und dem Menschenrecht auf Bildung nicht verträgt. Achillesferse, weil die vielen brachliegenden Talente und nicht entwickelten Fähigkeiten die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung bremsen sowie für sozialen Sprengstoff sorgen‘, sagten Thöne und Demmer.“
Quelle: BMBF 31. OKTOBER 2005