Eine persönliche Bilanz

SOZIALARBEIT IN 1 ½ JAHREN HARTZ IV Auszüge aus einer persönlichen Bilanz von Angela Prodan: “ Einführung Die neue Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II, das sogenannte Hartz-IV-Gesetz, existiert nun fast 11/2 Jahre. Betroffen hiervon sind mit Stand April 2006 in der Bundesrepublik insgesamt 3.917.501 Bedarfsgemeinschaften mit 7.060.206 Personen, in Berlin 334.538 Bedarfsgemeinschaftenmit 570.584 Personen, darunter 1.791.893 respektiv 138.709 Kinder und Jugendliche im Alter von unter 15 Jahren. … Die Schuld hierfür lastet man vor allem den Betroffenen an. Nachdem bereits zu Anfang April des Jahres Verschärfungen vom Gesetzgeber durchgesetzt wurden, wie zum Beispiel das Quasi-Auszugsverbot und die Leistungskürzung für Jugendliche unter 25 Jahren, befindet sich nun das sogenannte ‚Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz‘ im Gesetzgebungsverfahren. Es soll zum 01.08.2006 bereits in Kraft treten. Verschärfte Sanktionsmöglichkeiten, die auch Leistungskürzungen zu 100% vorsehen, werden nun beschlossen. Kontrollmaßnahmen sollen intensiviert werden. Aber selbst das reicht vielen noch nicht, der Ruf nach weiteren Leistungseinschränkungen schallt aus vielerlei Munde. … Seit Einführung des SGB II begleite ich Leistungsempfänger, von der Bundesagentur nun Kunden genannt, im Rahmen meiner jetzigen Tätigkeit als Sozialarbeiterin in einer Mietschuldnerberatung in Berlin-Spandau. 80% meiner Klientel sind Arbeitslosengeld II-Empfänger. Ich versuche sie zu unterstützen, damit sie zu ihrem Recht kommen und berechtigte Ansprüche durchsetzen können. Viel Verzweiflung, Mutlosigkeit oder auch ohnmächtigerWut, häufig verbunden mit Perspektivlosigkeit, stehe ich fast jeden Tag gegenüber. … Natürlich habe ich nur mit den Menschen zu tun, wo Schwierigkeiten auftreten, aber diese sind so häufig, dass sie nicht einfach übergangen und als Einzelfälle abgetan werden können. Auch zeigen sich durch sie generelle strukturelle, organisatorische und rechtliche Probleme. Und es stellt sich die Frage: Wie will die Gesellschaft weiter mit der Arbeitslosigkeit, mit den Arbeitslosen umgehen? Indem sie noch mehr Druck auf die Betroffenen ausübt und sie zum Sündenbock abstempelt? Ihnen aber gleichzeitig keine Perspektive anbieten kann? Es ist ein persönlicher Bericht, der objektiv Erlebtes mit eigenen Einschätzungen / Wertungen verbindet. … 2. Meine persönlichen Erfahrungen mit Hartz IV 2.1 Allgemeine Erfahrungen … sind über 80% meiner Klientel Arbeitslosengeld lI-Empfänger. Meist lerne ich sie kennen, wenn sie auf Grund von Mietrückständen die fristlose Kündigung für ihre Wohnung erhalten haben. Viele von ihnen habe ich inzwischen persönlich zu Vorsprachen in den JobCentern begleitet, vorrangig ins JobCenter Spandau, aber auch ins JobCenter Lichtenberg. Dieser Abschnitt beruht also ausschließlich auf eigene Anschauung. Ich glaube, dass sich viel zu wenige von denen, die über Hartz IV und die Betroffenen reden, vor Ort umgesehen haben. … Schon der erste Eindruck ist bedrückend. Diese großen Menschenschlangen. … Kurz habe ich diese Schlangen noch nie gesehen, selbst auch schon mal 3 Stunden in ihnen mit anstehend zugebracht. Das ist durchaus kein Rekord, … Ist man bis vorne durchgedrungen, kommt man an einen Platz eines Mitarbeiters der sogenannten Eingangszone, wo man sein Anliegen vortragen darf. … . Abwimmeln ist die Devise. Man werde einen Termin zugeschickt bekommen. Unterlagen könne man inzwischen in den Briefkasten des Hauses werfen, der wohl aber über ein Loch verfügen muss. Grundsätzlich scheint es in den JobCentern unsichtbare Kanäle zu geben, wo sich Unterlagen, manchmal ganze Akten ins Nichts auflösen. … Manche Papiere brauchen für den Weg von dem Briefkasten bis zu ihrerAkte mehrere Wochen. … Auch bei dringenden Problemen, und die fristlose Kündigung einer Wohnung oder unvollständige bzw. gar nicht erfolgende Zahlungen für den Lebensunterhalt dürften wohl als solche anzusehen sein, wird man häufig wieder weggeschickt. Man braucht eine ganze Portion Durchsetzungskraft, um an einen zuständigen Sachbearbeiter weitergeleitet zu werden. … Wenn Deutsch nicht die Muttersprache der Klienten ist, wird es noch schwieriger. Es gibt wenig Bereitschaft, sich zu bemühen, das Problem des Klienten zu verstehen und es ihm zu erklären. Generell erschreckend ist die Inkompetenz eines Großteils der Mitarbeiter. Das betrifft das gesamte JobCenter. Mir sind noch diejenigen dann lieb, die zugeben, wenn sie etwas nicht wissen. Häufig werden aber falsche Antworten gegeben, fehlerhafte Bescheide sind an der Tagesordnung. Inzwischen habe ich es mir zum Beispiel zur Gewohnheit gemacht, die Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit als Kopie zu dem passenden Fall mitzunehmen, einige Mitarbeiter wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Es geht hier nicht darum, die Mitarbeiter der JobCenter an den Pranger zu stellen. Viele kommen aus ganz anderen Bereichen, haben zum Beispiel vorher bei der Telekom gearbeitet oder als Erzieher oder Krankenpfleger. Sie wurden nicht richtig eingearbeitet, stehen aber jeden Tag einer Masse von Menschen und Akten gegenüber. Hinzu kommen die ständigen Gesetzesänderungen und eine Software, die das übrige zu der Situation beiträgt. Es kann aber nicht sein, dass diese Probleme dazu führen, dass Menschen dringend benötigte Leistungen zum Bestreiten ihres notwendigen Lebensunterhalts vorenthalten werden. Ein weiteres Reizthema sind von Anfang an die generell unklaren Zuständigkeiten und die fehlende telefonische Erreichbarkeit der Mitarbeiter in den JobCentern. … Die Einführung der Callcenter, die mit sogenannten Hotlinenummern zu erreichen sind, lassen eine leichte Verbesserung erkennen. Sie ist aber bei weitem nicht ausreichend. … Junge Leute, die ihre Ausbildung neu beginnen, ihre Ausbildungsvergütung aber erst am Ende des Monats erhalten, werden aus der Berechnung für den 1. Ausbildungsmonat sofort herausgenommen. Obwohl grundsätzlich auf Antrag ein Darlehen in angemessener Höhe zur Überbrückung gezahlt werden kann, wurde diese Möglichkeit von Mitarbeitern des JobCenters wiederholt bestritten. Analog verhält es sich bei Leistungsempfängern, die eine neue Arbeit beginnen und deren 1. Gehalt erst zum Ende des Monats bzw. im Folgemonat gezahlt wird. … Ganz problematisch wird es, wenn sich ein Haushalt im Laufe der Zeit in verschiedene Bedarfsgemeinschaften aufteilt, wie zum Beispiel bei Partnertrennung oder Volljährigkeit des Kindes. So müssen die Kosten für die Unterkunft und Heizung nun aufgeteilt werden, was in der Praxis mit einer hohen Fehlerquote verbunden ist. … Im SGB II gibt es keine Möglichkeit, einen regelmäßig anfallenden Sonderbedarf bzw. einmalige Leistungen, die über den im § 23 Abs. 3 SGB II genannten hinausgehen, als Beihilfe zu gewähren. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass diese Leistungen aus dem Regelsatz anzusparen sind, unter Umständen können sie als Darlehen geleistet werden. Diese Regelung führt in der Praxis zu großen Belastungen für die Betroffenen. Ob es der erhöhte Windelbedarf für ein behindertes Kind, der durch die Krankenkasse nicht übernommen wird, ist oder ein Energiesonderbedarf auf Grund einer schweren Erkrankung oder auch ’nur‘ die benötigte Brille. Die einen verschulden sich, die anderen verzichten dann auf eigentlich notwendige Sachen. Das kann es doch nicht sein. … Auf eine weitere Problematik soll an dieser Stelle hingewiesen werden. Durch das Berechnungsprogramm der Bundesagentur der Arbeit werden Personen der Bedarfsgemeinschaft, die über ausreichendes Einkommen zur Deckung des eigenen Bedarfs verfügen, durch die Verteilung des Gesamteinkommens zu hilfebedürftigen Personen gemacht. Diese Vorgehensweise dürfte dem Sinn des Gesetzes widersprechen. Da diese Praxis auch zu einer Benachteiligung der Kommunen bei der Kostenverteilung führt, ist es erstaunlich, dass sich in Berlin dagegen noch kein Widerspruch geregt hat – im Gegensatz zum Beispiel zu Nordrhein-Westfalen. Abschließend möchte ich kurze Anmerkungen zur Arbeitsvermittlung machen, die ja eigentlich an erster Stelle stehen sollte. Hier steht sie an letzter, dies allein zeigt schon das Problem. …. . Der Leitgedanke des SGB II ist. ‚Fördern und Fordern‘. Ja, einige Klienten haben sogenannte MAE-Jobs bekommen. Zu einer Beschäftigung auf dem 1. Arbeitsmarkt werden diese aber nicht führen. Gerade was Tätigkeiten in Pflegeheimen und betreuten Wohneinrichtungen betrifft, sind diese häufig nicht als zusätzlich zu bezeichnen. Es tut mir weh, gerade auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Missbrauchsdebatte, wie froh viele sind, so eine zeitweilige Beschäftigung zu haben. Wie sie darum kämpfen, sie zu erhalten. Und es sind bei weitem nicht alles unqualifizierte Leute, im Gegenteil. … 3. Weitere persönliche Anmerkungen zu der Gesamtproblematik von ‚Hartz IV‘ 3.1. Das Ziel der Hartz-Gesetze und die Praxis Das Ziel der Hartz-Gesetze war, die Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. ‚Für langzeitarbeitslose Menschen bedeutet dies, dass ihnen eine nie gekannte Kombination von Betreuung und Förderung zur Verfügung stehen wird.‘ Darum kann das bisherige Ergebnis nur an diesen Zielen gemessen werden. … Die aktive Hilfe bei der Arbeitsvermittlung spielt immer noch nur eine geringfügige Rolle. Von den für 2005 dafür vorgesehenen Mitteln wurden nur 50% ausgegeben. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sinkt weiter, im März 2006 betrug sie ca. 25,91 Millionen. … Erwerbstätigkeit für alle, und noch dazu den Lebensunterhalt sichernd, wird es nicht mehr geben. Auch ein konjunktureller Aufschwung wird nichts daran ändern, dass Millionen Menschen in unserem Land in Zukunft ohne bezahlte Arbeit leben werden. … 3.2. Die Missbrauchsdebatte … Natürlich gibt es Missbrauch, den gibt es doch wohl bei jedem Gesetz. Denken wir nur an die Steuerhinterziehungen jedes Jahr. Allerdings scheint das als Findigkeit zu gelten. Die SGB II-Leistungsempfänger hingegen werden von vielen pauschal als Betrüger, Ausnutzer und Arbeitsfaule hingestellt. Sicher sind die Kosten von Hartz IV gestiegen. Sind dafür die Bedürftigen zur Verantwortung zu ziehen? … Für die Behauptung der Massenauszüge von Jugendlichen nach Vollendung des 18.Lebensjahres, die sich durch den Staat ihre Wohnung einrichten und den Unterhalt bezahlen ließen, liegen meiner Kenntnis nach keinerlei konkrete Zahlen vor. Man hat dieses Argument aber zur Begründung der Gesetzesverschärfung genutzt. Seit dem 01.04.2006 besteht für junge Menschen unter 25 Jahren quasi ein Auszugsverbot. Wie vereinbart sich diese Vorschrift mit dem Ziel, die Selbständigkeit von jungen Menschen zu fördern? Außerdem leben wohl gerade viele Hartz IV-Empfänger in nicht allzu großen Wohnungen, in denen ein enges Zusammenleben mit erwachsenen Kindern zu einem hohen Konfliktpotenzial führen dürfte. … Zum Argument der Faulheit will ich hier nicht mehr viel sagen. … Aktuell stehen 4.535.000 Arbeitslosen 565.000 offene Stellen gegenüber, davon 161.000 Arbeitsgelegenheiten. Bei den Jugendlichen ist für Ende September eine Lücke zwischen unbesetzten Ausbildungsstellen und nicht vermittelten Bewerbern zu erwarten, die über dem Niveau des Vorjahres liegt. Im September 2005 betrug die Lücke 28.300 Stellen. … 4. Das Bürgergeld als mögliche Alternative Es ist … dringend notwendig, nach neuen Wegen zu suchen. Meines Erachtens könnte eine Möglichkeit dabei die Einführung eines Bürgergeldes sein. Es sollte allen erwerbsfähigen Personen ohne zusätzliche Bedingungen zustehen. Es gibt inzwischen eine ganze Menge Vorschläge, Konzeptionen von Verbänden und Einzelpersonen. Ein Streitpunkt ist die Frage, ob eine Gegenleistung vom Bürger verlangt werden soll. Ich gehöre wie gesagt zu den Befürwortern, die keine Bedingungen an den Erhalt knüpfen möchten. Das Bürgergeld sollte jedem auf individueller Basis zustehen und eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Arbeitsanreize werden durch entsprechende Selbstbehaltgrenzen geschaffen. Die Vorschläge gehen dabei im allgemeinen von 50% aus. Es gibt verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten, z.B. durch eine sogenannte ’negative Einkommenssteuer‘. Bei einer Einführung des Bürgergeldes ist mit erheblichen Einsparungen im Verwaltungsbereich zu rechnen, dadurch, dass viele andere gegenwärtige Sozialleistungen überflüssig werden. Auch werden viele Kontroll- und Überwachungsfunktionen unnötig. In der Höhe schwanken die mir bekannten Vorschläge zwischen 500 und 800 €. … Gerade unter den Bedingungen, dass die Lohnarbeit nicht mehr für alle reicht, muss dem Leben auch wieder Sinn und Erfüllung ohne diese gegeben werden oder wie es Wolfgang Engler ausdrückt, es muss ‚die Emanzipation des Bürgers vom Arbeiter‘ stattfinden. Hierzu bedarf es natürlich einer gänzlichen Neuorientierung unserer kulturellen Normen. Diese muss bereits in den untersten Stufen des Bildungssystem beginnen. Natürlich sollen Menschen auch künftig auf ein Leben vorbereitet werden, dass seine Erfüllung in der Arbeit findet. Sie müssen aber gleichzeitig auf ein Leben vorbereitet werden, dass ihnen diese Erfüllung versagt. Auch ohne Erwerbstätigkeit müssen sie lernen, mit sich und anderen etwas anfangen zu können, die freie Zeit zu nutzen zur Entfaltung ganz anderer Ziele und Möglichkeiten. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass die Bürgerarbeit und die Lohnarbeit als gleichberechtigt angesehen werden. … 5. Schlussbemerkungen … Ich kann nur hoffen, dass der vorliegende Bericht insgesamt zum Nachdenken, zur Auseinandersetzung anregt. Und bei all dem das Wichtigste nicht vergessen wird: Hinter Gesetzen, Verordnungen und Zahlen stehen einzelne Gesichter und Schicksale von Menschen, für dessen weitere Zukunft wir, jeder einzelne von uns, eine Mitverantwortung trägt. “ Der vollständige Erfahrungsbericht ist unter der Quellenangabe erhältlich.

Quelle: http://www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/

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