Lohnkonzession von ALG-II-Empfängern

WAS MUTEN SICH ARBEITSLOSE ZU? Die Ergebnisse sind in zweierlei Hinsicht als vorläufig zu betrachten. Zum einen können die multivariaten Analysen noch weiter vertieft werden. Zum anderen war wegen der an vielen Stellen beobachtbaren Anlaufschwierigkeiten der Bedarfsträger des SGB II möglicher Weise noch gar nicht zu erwarten, dass sich das neue Regime bereits ganz schnell in den Daten und hier insbesondere in den Angaben zu den Reservationslöhnen wieder findet. Mehr Klarheit über die Lohnkonzessionsbereitschaft von ALG-II-Empfängern wird man aber letztendlich erst dann haben, wenn … für mehrere Jahre Daten zu den hier untersuchten Fragestellungen vorliegen. Auszüge aus einer IAB-Befragung von ALG-II-Empfängern/-innen: “ … 1 Einleitung Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nach wie vor durch ein massives Arbeitsplatzdefizit und damit Niveauprobleme gekennzeichnet. Im Jahr 2007 werden aller Voraussicht nach im Jahresdurchschnitt rd. 5,4 Mio. Beschäftigungsmöglichkeiten fehlen, die durchschnittliche Zahl der Arbeitslosen dürfte zwischen 3,8 und 3,9 Mio. liegen. … Die Arbeitslosigkeit ist nicht nur hoch, sondern darin zeigen sich auch Probleme der Strukturalisierung und Verfestigung. Fest machen lässt sich dies an dem in der letzten Dekade stark steigenden Bestand an Langzeitarbeitslosen, also an Personen, die länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet sind. … Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen wuchs … von 32,0% auf 39,3%. Sie sind überproportional im Rechtskreis SGB II vertreten. Die weiterhin hohe und verfestigte Arbeitslosigkeit lässt sich nicht monokausal erklären, es gibt eine Vielzahl von Gründen für die Beschäftigungskrise. Sie reichen von einem gebremsten Strukturwandel aufgrund mangelnder Zukunftsinvestitionen, zu wenig Fortschritte in den Bereichen Bildung und Ausbildung und einer noch immer überbordenden Bürokratie über den stockenden Aufholprozess in Ostdeutschland bis hin zu Funktionsmängeln der Arbeitsmarktinstitutionen, wie z. B. der Flexibilität des Arbeitsrechts, der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik und der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. … Die andere Hauptlinie der Arbeitsmarktreformen betraf die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, insbesondere durch eine veränderte Organisation mit dem Schwerpunkt einer neu aufgestellten, wirkungsorientiert arbeitenden BA und mehr Betätigungsmöglichkeiten für private Personaldienstleister sowie einigen neuen Instrumenten im SGB III … und im SGB II (Arbeitsgelegenheiten, Einstiegsgeld). Entscheidend ist aber die neue Philosophie der Arbeitsmarktpolitik, die auf die konsequente Aktivierung von Arbeitslosen und neben dem Fördern noch mehr das Fordern betont. Ein wesentliches Element der nun stärker auf Fordern setzenden Arbeitsmarktpolitik sind die weniger großzügigen Transferleistungen für Langzeitarbeitslose. … Darüber hinaus beinhaltet das Fordern im SGB II striktere Bedingungen für den Bezug der Grundsicherung. Insbesondere im Vergleich zur früheren Arbeitslosenhilfe werden die Verfügbarkeit genauer überprüft, Eigenbemühungen und aktive Mitwirkung der Leistungsempfänger stärker eingefordert, eine wesentlich höhere Kontaktdichte realisiert sowie bei Pflichtverletzungen Sanktionen konsequenter verhängt. Diese fordernden Maßnahmen zielen vor allem auf eine Intensivierung der Arbeitsplatzsuche. … Für den Erfolg der Suchbemühungen von Arbeitslosen ist dabei von großer Bedeutung, was ihnen im Falle des Bezugs von Transferleistungen zugemutet wird und was sie sich abhängig oder unabhängig davon selbst zumuten. Es geht also im Kern um die Konzessionsbereitschaft der Arbeitslosen, die sich auf ganz verschiedene Aspekte beziehen kann, wie z. B. den Verbleib im bisher ausgeübten Beruf, der Lage oder auch der Länge der Arbeitszeit, der Notwendigkeit von langen Wegstrecken zum Arbeitsplatz oder gar eines Umzugs sowie mögliche Lohneinbußen im Vergleich zu früherer Beschäftigung. … Die wesentliche Frage des Beitrags besteht darin, zu klären, ob sich … ermittelten Befunde zur Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen hinsichtlich ihrer Lohnerwartungen nach Einführung des SGB II merklich geändert haben. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Relation zwischen dem letzten Lohn vor Arbeitslosigkeit und dem Reservationslohn, der Abhängigkeit dieser Relation von der Dauer der Arbeitslosigkeit und den Bestimmungsfaktoren des Reservationslohns. … 2 Anspruchslöhne und Arbeitslosigkeit: Theoretischer Ausgangspunkt, Forschungsstand und Fragestellung Die Arbeitsplatzsuche von Arbeitnehmern ist ein mehrstufiger Prozess und kann auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen … Variierbar ist auch die Intensität der Suche, denn es können mehrere Suchwege gleichzeitig genutzt und dann mehr oder weniger Bewerbungen eingereicht werden. Hat dann im Ergebnis der Suchbemühungen mehr als ein Betrieb Interesse an dem Arbeitnehmer, stellt sich als nächste Frage, in welcher Reihenfolge mit ihnen verhandelt werden soll. … Schließlich bedarf es definierter Kriterien, anhand welcher beurteilt wird, ob ein Angebot akzeptiert wird oder nicht. Bei der Festlegung der Kriterien kommt der Konzessionsbereitschaft des Arbeitsuchenden eine besondere Rolle zu. Es muss entschieden werden, ob man im bisher ausgeübten Beruf verbleiben möchte, sich die Lage oder auch die Länge der Arbeitszeit verändern kann, lange Wegstrecken zum Arbeitsplatz oder gar eines Umzugs in Kauf genommen und Lohneinbußen im Vergleich zur letzten Beschäftigung akzeptiert werden. … Es geht um das Suchverhalten von Arbeitslosen, also insbesondere um Fälle, bei denen der Wechsel von Job zu Job nicht realisiert werden konnte. Darüber gibt es bei den hier besonders interessierenden Grundsicherungsempfängern natürlich auch noch die Möglichkeit, dass Leistungsbezieher noch nie einen Arbeitsplatz innehatten. … Es geht um ein besonders wichtiges Kriterium für die Bewertung von Stellenangeboten, nämlich die Lohnerwartung des Arbeitslosen. Ein anderer Begriff hierfür ist der Reservations- oder Anspruchslohn, der den Lohnsatz beziffert, zu dem der Arbeitslose bereit ist, eine Beschäftigung aufzunehmen. Der fiktive Reservationslohn basiert auf suchtheoretischen Überlegungen. Im Suchprozess maximiert der Arbeitslose sein Einkommen und seinen Nutzen, indem er die Kosten und Erträge von faktischen und potentiellen Lohnofferten zu bewerten hat. Wird ein über dem Niveau der Transferleistung liegendes Lohnangebot abgelehnt, sind damit Kosten in Höhe der Differenz von Verdienstausfällen und der Transferzahlungen bei Arbeitslosigkeit bis zum Finden einer alternativen Beschäftigung verbunden. Der potentielle Ertrag eines abgelehnten Beschäftigungsangebotes besteht darin, dass bei einer späteren Lohnofferte möglicherweise ein höheres Einkommen realisiert werden kann. Bei Annahme des Angebotes sichert sich der Arbeitslose zwar kurzfristig einen über die Transferleistung hinaus gehenden Verdienst, verzichtet aber auf mögliche höhere Einkommen bei fortgesetzter Suche. … Je länger Transferleistungen in Anspruch genommen werden, desto stärker entwertet sich das Humankapital. Fachliche und soziale Qualifikationen gehen verloren, wodurch das Risiko einer „Transferkarriere“ wächst. Darüber hinaus kann die Aufnahme eines niedrig entlohnten Arbeitsverhältnisses auch als „Sprungbrett“ genutzt werden, … Die Höhe des für die Entscheidung über die Aufnahme einer Beschäftigung wichtigen Reservationslohns hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: Erstens von der Wahrscheinlichkeit, dass der Arbeitslose überhaupt ein Beschäftigungs- und damit ein Lohnangebot erhält. … Zweitens kann der Arbeitslose von einer gewissen Verteilung der ihm offerierten Löhne ausgehen. Dabei dürfte seine Produktivität eine herausragende Rolle spielen. Wichtige Variablen in diesem Zusammenhang sind der letzte Lohn vor Arbeitslosigkeit und die Qualifikation des Arbeitslosen. Schließlich ist drittens die Höhe der Transferleistungen bei Arbeitslosigkeit (ALG I und ALG II) zu berücksichtigen, weil … dadurch bestimmt wird, wie hoch das entgangene Einkommen bei weiterer Suche ausfallen wird. Aus diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen folgt: Je höher der Reservationslohn in Relation zur Transferleistung ist und je niedriger die Wahrscheinlichkeit ausfällt, diesen realisieren zu können, desto weniger intensiv wird gesucht und desto länger dauert die Arbeitsplatzsuche. Von daher ist die Höhe des Reservationslohns eine für die Erklärung der Persistenz von Arbeitslosigkeit relevante Größe. … Simulationsrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben gezeigt, wer zu den „Gewinnern“ und wer zu den „Verlierern“ gehört. Eine Veränderung der Einkommenssituation ergab sich dabei vor allem bei ehemaligen Beziehern der Arbeitslosenhilfe (Alhi). Gut ein Sechstel der Alhi-Empfänger erhielt wegen der stärkeren Anrechnung von Partnereinkommen und dem damit verbundenen Wegfall der Bedürftigkeit keine Leistungen mehr. Bei den Bedürftigen verteilen sich die Gewinner und Verlierer dann relativ gleichmäßig. Höhere regelmäßige Leistungen ergeben sich bei ehemaligen Empfängern der Sozialhilfe (SOHI) durch die stärkere Pauschalierung und bei ehemaligen Alhi-Empfängern mit niedrigem Anspruch, die weder Wohngeld noch aufstockende Sozialhilfe beantragt hatten. Geringere Leistungen beziehen dagegen ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger mit entweder vormals hohem Anspruch (durch den letzten Lohn vor Arbeitslosigkeit) oder mit stärkerer Anrechnung von Einkommen. Gewinner (Verlierer) der Reform finden sich eher im Westen (im Osten), bei den Männern (Frauen), den Jüngeren (Älteren) und bei den Alleinerziehenden sowie Paaren mit Kindern (Alleinstehenden und kinderlosen Paaren). … Die Frage … ist … , inwieweit sich durch die Einführung des SGB II Maßgebliches an der Konzessionsbereitschaft von Arbeitslosen (hier: von Grundsicherungsempfängern) geändert hat. Auf der Basis seiner Untersuchungen zu den Reservationslöhnen vermutet Christensen (2005), dass durch die Arbeitsmarktreformen die Reservationslöhne sinken und deshalb schnellere Übergänge aus der Arbeitslosigkeit in die Erwerbstätigkeit erreicht werden könnten. Jedoch beträfe dies in erster Linie Personen mit einem relativ hohen letzten Lohn vor der Arbeitslosigkeit und Arbeitslose ohne Anspruch auf Transferleistungen. Dagegen führten die Arbeitsmarktreformen bei Geringqualifizierten und Niedrigverdienern eher nicht zu einer höheren Konzessionsbereitschaft. … 3 Datensatz und deskriptive Auswertungen … 3.2 Deskriptive Auswertungen … Welche Einschränkungen sind Arbeitslose also bereit, in Kauf zu nehmen, um einen neuen Job aufzunehmen? … Die größte Konzessionsbereitschaft zeigen Arbeitslose … mit … etwa 60% Zustimmung beim Berufswechsel, die geringste Konzessionsbereitschaft findet sich beim Wohnort. Auch ein geringeres Einkommen als im letzten Job sind … nur wenige Arbeitslose bereit zu akzeptieren: In der aktuellen Befragung geben nur gut 20% an, ein geringeres Einkommen ohne weiteres in Kauf zu nehmen. Über die reine Bekundung der Konzessionsbereitschaft hinaus enthält die Querschnittsbefragung 2005 weitere, detaillierte Fragen zum Umfang der Konzessionsbereitschaft beim Einkommen. Insbesondere wurde abgefragt, zu welchem Nettomonatslohn die befragten Personen gerade noch bereit wären, eine Beschäftigung aufzunehmen. … Betrachtet man zunächst die Höhe des durchschnittlichen Reservationslohns auf Stundenbasis für die gesamte … befragte Gruppe so liegt er mit knapp € 6,80 in dem für diese Personen potenziell auch erreichbaren Niedriglohnsegment. Dies entspricht in etwa einem Nettomonatslohn von durchschnittlich € 1.088. … Aktuell Erwerbstätige geben im Durchschnitt an, für mindestens € 6,90 pro Stunde eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, Personen ohne Erwerbstätigkeit liegen mit durchschnittlich € 6,76 nur unwesentlich darunter. Allerdings differieren die Angaben erheblich nach Art der Beschäftigung: Während Personen, die gegenwärtig einem Ein-Euro-Job nachgehen, einen Reservationslohn von nur € 6,28 haben, ist er bei gegenwärtig regulär Beschäftigten mit € 6,86 erheblich höher. Hier mag sich durchaus widerspiegeln, dass die so genannten „Aufstocker“ unter den ALG-II-Beziehern in dieser Gruppe diejenigen mit der größeren Arbeitsmarktnähe sind. … Während allein lebende Personen angeben, für mindestens € 6,60 einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu wollen, steigt dieser Wert bei den Personen mit Partnern im Durchschnitt auf gut € 7,05, Dabei differiert der Reservationslohn sehr stark nach Erwerbsstatus des Partners: Ist er vollzeiterwerbstätig, so sinkt der Reservationslohn auf € 6,13, bei teilzeitbeschäftigtem Partner oder Partner ohne Erwerbstätigkeit liegt er dagegen mit € 7,27 bzw. € 7,25 deutlich höher. Noch stärker ist … die Abhängigkeit des Reservationslohns von der Haushaltsgröße insgesamt. … So geben Personen in Haushalten mit mehr als zwei Kindern im Durchschnitt ein Mindestnettomonatseinkommen von € 1.285,- an und damit einen Stunden-Reservationslohn von € 7,98 an. … 5 Fazit Analysen zur Konzessionsbereitschaft von ALG-II-Empfängern auf Basis der IAB-Befragung „Lebenssituation und soziale Sicherung 2005“ zeigen, dass sich die Reservationslöhne von Arbeitslosen im Vergleich zur Situation vor Einführung des SGB II nicht wesentlich geändert haben. … Die deskriptiven Ergebnisse zeigen, dass die Höhe des Reservationslohnes weitgehend unabhängig vom aktuellen Erwerbsstatus des Hilfeempfängers ist. Von Bedeutung ist jedoch der Haushaltskontext. Je mehr Kinder sich im Haushalt befinden, desto höher sind die angegebenen Reservationslöhne. Wird der Reservation Wage Ratio (RWR) zugrunde gelegt, ergibt sich, dass die Befragten im Durchschnitt erst bei einem um 13% höheren Nettolohn im Vergleich zu dem vor Arbeitslosigkeit bereit wären, eine Beschäftigung aufzunehmen. Zudem fällt der RWR bei Kurzfrist- und Langzeitarbeitslosen in etwa gleich hoch aus. Im multivariaten Schätzmodell dominieren Merkmale der letzten Beschäftigung des Hilfeempfängers als Erklärungsgröße für den Reservationslohn. So kommt dem letzten Lohn vor Arbeitslosigkeit und der Stellung im letzten Beruf die größte Bedeutung zu. … … die Ergebnisse … basieren auf der Situation im Einführungsjahr des SGB II. „Hartz IV“ wird nicht zu Unrecht häufig als die größte Reform in der deutschen Sozialgeschichte betrachtet. Gerade wegen der an vielen Stellen beobachtbaren Anlaufschwierigkeiten der Bedarfsträger des SGB II war möglicherweise noch gar nicht zu erwarten, dass sich das neue Regime bereits ganz schnell in den Daten und hier insbesondere in den Angaben zu den Reservationslöhnen wieder findet. Das bedeutet natürlich noch nicht im Umkehrschluss, dass spätere Wellen zwangsläufig eine höhere Lohnkonzessionsbereitschaft von ALG-II-Empfängern zeigen werden. Eine Erklärung hierfür könnte darin bestehen, dass es insbesondere bei wettbewerbsschwächeren Arbeitnehmern nach wie vor an einem ausreichenden Lohnabstand und damit spürbaren Arbeitsanreizen fehlt. Mehr Klarheit darüber wird man aber letztendlich erst dann haben, wenn … für mehrere Jahre Erhebungsdaten zu den Reservationslöhnen vorliegen. …“ Die Studie des IAB stellt auch den Reservation Wage Ration (= Verhältnis von Reservationslohn zu letztem Lohn) dar. Dadurch wird ein Vergleich mit anderen Studien zur Thematik möglich. Das IAB-Diskussionspapier in vollem Umfang steht Ihnen im Anhang oder über aufgeführten Link zum Download bereit.

http://www.iab.de/de/183/section.aspx/Publikation/k070904n09

Quelle: IAB Discussion Paper No. 23/2007

Dokumente: IAB_Was_muten_sich_Arbeitslose_zu_dp2307.pdf

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