Wie kann die Grundsicherung in Zukunft aussehen?

Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht eine Expertise zur Zukunft der Grundsicherung: Mit der Einführung einer Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“) gab es in Deutschland einen gravierenden Einschnitt in der Sozialpolitik. Diese grundlegende Reform war und ist immer noch heftig umstritten. Aktuell steht eine weitere Reform der Reform an. Die Expertise von Matthias Knuth und Martin Brussig zieht ein Resümee über bisherige Entwicklungen in der Grundsicherung, liefert aber auch provokante Impulse zur zukünftigen Gestaltung. Die aktuell anstehende „Instrumentenreform“ halten die Autoren für wenig zielführend. Bisher gelingt es weder der Politik noch der Verwaltung, der ungeheuren Heterogenität der Leistungsberechtigten oder der Vielfalt ihrer Lebensbedingungen Rechnung zu tragen.

Auszüge aus der Expertise „Die Zukunft der Grundsicherung – Individualisieren, konzentrieren intensivieren“ von Martin Brüssig und Matthias Knuth:

„(…) Bilanz der Reform im Überblick

(…) Die Leistungsberechtigten nach dem SGB II sind eine durchaus heterogene Gruppe. Ein Teil verbleibt jeweils nur kurze Zeit im Leistungsbezug, kehrt aber u.U. auch nach kurzer Zeit wieder zurück; ein nicht unbeträchtlicher Anteil befindet sich aber relativ dauerhaft im Leistungsbezug. Dauerhafter Leistungsbezug kann seine Ursache in Arbeitsmarktferne haben, aber dieses muss nicht der Fall sein; an den Extremen handelt es sich entweder um längerfristig nicht gegebene Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt trotz möglicherweise guter Beschäftigungsfähigkeit (Alleinerziehende, Schülerinnen und Schüler) oder, am anderen Extrem, um dauerhaft nicht bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit. Insgesamt jedoch sind Personen mit Merkmalen, die statistisch mit Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt einhergehen, gegenüber der Bevölkerung oder den Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld deutlich überrepräsentiert. (…)

Bei der Aktivierung durch die Jobcenter werden Probleme und Hemmnisse, die einer Arbeitsaufnahme entgegenstehen, oft nicht thematisiert und noch seltener wirklich bearbeitet; aber auch die eigentlich intendierte „work first“-Orientierung wird mangels Stellenangeboten, die den Leistungsberechtigten unterbreitet werden könnten, nicht realisiert. Die Arbeitsaufnahme ist im Rechtskreis des SGB II, wenn man das SGB III als Vergleichsmaßstab heranzieht, ungleich seltener, und sie ist einer neueren Untersuchung zufolge durch die Reform im Vergleich zu den Vorläufersystemen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht häufiger geworden. Die mit der Reform intendierte „Aktivierung“ scheint weniger durch „moderne Dienstleistungen“ stattzufinden und weniger die SGB II-Leistungsberechtigten zu erfassen als vielmehr die Beschäftigten und die versicherten Arbeitslosen im Rechtskreis des SGB II. Die Wirkungen auf beide Gruppen sind widersprüchlich: Während die kurzzeitig Arbeitslosen mit Versicherungsanspruch rascher als vor der Reform wieder Beschäftigung aufnehmen, fürchten die Beschäftigten die Risiken des Arbeitsmarktes mehr als zuvor und zeigen daher weniger Mobilität. Im Ergebnis ist Beschäftigung zugleich unsicherer und dauerhafter geworden.

Reformoptionen im strukturellen Leistungsrecht

(…) Durch die Hartz-IV-Reform ist die versicherungsförmige oder versicherungsähnliche relative Lebensstandardsicherung bei Arbeitslosigkeit regelrecht marginalisiert worden. Wenn 2008 weniger als ein Sechstel der Bezieher von arbeitsmarktbezogenen Sozialleistungen Arbeitslosengeld erhielten, so ist das zwar teilweise auch ein erfreuliches Ergebnis guter Konjunktur. Doch auch im internationalen Vergleich ist die Absicherung bei Arbeitslosigkeit in Deutschland eher bescheiden. Deshalb sprechen wir uns für eine Verlängerung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes aus, verbunden mit einer „bedürftigkeitsfesten“ Degression sowie der Beendigung der Sonderbehandlung Älterer.

Für Personen mit eingeschränkter Erwerbsfähigkeit sollten freiwillige Ausstiegsoptionen aus dem SGB II in nicht arbeitsmarktbezogene Sozialleistungen in mindestens gleicher Höhe geschaffen werden. Die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaft im SGB II sollte beschränkt werden auf Regelungen zur Anrechnung von Einkommen. Eine Person, die bei individueller Betrachtung für den eigenen Unterhalt sorgen kann, würde dann zwar noch in die Einkommensanrechnung einbezogen, aber nicht mehr als „bedürftig“ konstruiert und dem Aktivierungsregime des SGB II unterworfen. Die Anrechnung des Erwerbseinkommens von individuell suffizienten Familienernährerinnen und Familienernährern würde mit besserer Anreizwirkung gerahmt: Bei steigenden Verdiensten würden sie ihren Angehörigen mehr geben, nicht das eigene Transfereinkommen zu Gunsten des Staates reduzieren. Im Übrigen sollten auch nur Einkommen von Personen angerechnet werden, die einer zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtung unterliegen. Durch diese Maßnahmen würde der Personenkreis, der unmittelbar den Regelungen des SGB II unterworfen ist, erheblich reduziert auf diejenigen, bei denen der Anspruch der Aktivierung und Erwerbsaufnahme aktuell oder perspektivisch (nach Gesundung, nach Beendigung der Schule, wenn die Kinder älter geworden sind) gerechtfertigt ist.

Für die nach Individualisierung der Definition von Bedürftigkeit verbleibenden erwerbstätigen Aufstocker sollten die Regeln der Anrechnung von Erwerbseinkommen einfach, transparent und stabil gestaltet werden. Die ständigen Veränderungen der Anrechnungsformel bewirken nichts außer Verunsicherung und Verunklarung der Zusammenhänge. Es gibt keine Zauberformel höherer Arbeitsanreize in Kombination mit Leistungsbezug, wenn man nicht die Grenze, bei der der Leistungsbezug endet, sehr stark anheben und sich damit dem „bedingungslosen Grundeinkommen“ nähern will. (…)

Reformoptionen im Bereich Aktivierung, Arbeitsvermittlung und Arbeitsförderung

(…) Die anstehende Reform „zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“ lässt wesentliche gesellschaftliche Problemlagen, die gleichzeitig intensiv diskutiert werden, völlig unberücksichtigt. Hierzu gehören der Fachkräftemangel, der demografi sche Wandel und die zunehmende Diversität des Arbeitskräftepotenzials, die sich wegen der höheren Hilfequoten in Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund besonders stark im SGB II widerspiegelt. Die Konzentration auf eine „Instrumentenreform“, also auf die üblicherweise Dritten übertragenen Formen der Förderung, weicht der Tatsache aus, dass die mit den Hartz-Reformen versprochenen Verbesserungen bei der Betreuung und Vermittlung bisher nicht realisiert werden konnten. Sowohl Modellversuche als auch das Bundesprogramm „Perspektive 50plus“ zeigen die zentrale Bedeutung und Wirksamkeit einer Verbesserung der Betreuungsschlüssel in den Jobcentern auf.

Im Kontext der Instrumentenreform ist das Fehlen einer Qualifizierungsoffensive zu kritisieren. Nachdem die mittelfristige Wirksamkeit der abschlussbezogenen beruflichen Weiterbildung für den Arbeitsmarkterfolg nachgewiesen wurde, ist es an der Zeit, die vorherrschende Konzentration auf Kurzzeit-Maßnahmen, die die Qualifikation der Teilnehmenden nicht verbessern, aufzugeben.

Die öffentlich geförderte Beschäftigung sollte verstärkt mit Qualifizierungselementen verbunden und in mehrstufi ge Konzepte integriert werden. Die erkennbar werdende Zweiteilung in ein marktfernes Instrument (Arbeitsgelegenheiten) und ein marktnahes (geförderte Arbeitsverhältnisse) ist akzeptabel, wenn sie konsequent durchgehalten wird. Das heißt zum einen, dass bei der Bewertung von Arbeitsgelegenheiten künftig akzeptiert wird, dass sie i. d. R. nicht unmittelbar in den regulären Arbeitsmarkt führen, dass sie aber eben aus diesem Grunde mit unmittelbar anschließenden Schritten der Förderung verbunden werden müssen. Das heißt zum anderen, dass die zu nur maximal 75 Prozent der Lohnkosten geförderten Arbeitsverhältnisse wirklich die Chance erhalten, die fehlenden Kostenbestandteile (und dazu gehören weitaus mehr als die fehlenden 25 Prozent der Lohnkosten) in Märkten zu verdienen. Dazu brauchen die Träger, die sich als „Soziale Betriebe“ betätigen werden, stabile Rahmenbedingungen und keine jährliche Veränderung der Förderkonditionen. Und sie brauchen … ein Verfahren der regionalen Konsensbildung, das sie vor dem Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung und Verdrängung schützt. Unter dieser Voraussetzung kann die Beschränkung der Förderung auf nur fünf Prozent des Eingliederungstitels ausgeweitet werden, ohne dass negative Auswirkungen auf Wirtschaft und ungeförderten Arbeitsmarkt zu befürchten sind. (…)

Ausblick

Die Vierte Stufe der Hartz-Reformen war eine radikale, in gewissem Sinne „pfadbrechende“, in jedem Falle aber eine „pfadverschiebende“ Reform: Traditionen und Begründungslogiken der Sozialfürsorge sind dadurch für den nach Betroffenen und Ausgabevolumen dominanten Teil der Arbeitsmarktpolitik pfadbestimmend geworden, was zu einem dem System der Grundsicherung inhärenten Trend zur immer weiteren Kommunalisierung und – aufgrund der Stellung der Kommunen im deutschen Staatswesen – zu künftig wachsender Verantwortung der Länder geführt hat. Angestoßen durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts von weit reichender Bedeutung, war die Politik zur „Reform der Reform“ bisher weitgehend damit beschäftigt, die Verfassung und das SGB II an die politischen Konsensmöglichkeiten zur Organisationsform der Jobcenter anzupassen sowie dem nicht explizit aus dem Bundessozialhilfegesetz in das SGB II übernommenen Grundsatz der „Würde des Menschen“ als Maßstab der Leistungsgewährung widerwillig nachzukommen („Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen“ vom 24. März 2011).

Über diesen unabweisbaren Reparaturarbeiten am System der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, durch die anhaltenden Organisationsdebatten und Umorganisierungen der Jobcenter und durch die nur befristete Einstellung von Personal wegen ungesicherter organisatorischer Zukunft sind die inhaltlichen Ansprüche der Hartz-Reformen vernachlässigt worden. (…)

Bisher gelingt es weder der Politik noch der Bundesagentur für Arbeit als einflussreichem Akteur für die Verwaltung eines Teils der Grundsicherung, der ungeheuren Heterogenität der Leistungsberechtigten nach dem SGB II und der Vielfalt ihrer Lebenslagen angemessen Rechnung zu tragen. War die erste Fassung des SGB II noch vergleichsweise offen hinsichtlich der Frage, auf welche Weise der Anspruch des Förderns einzulösen sei, so beobachten wir seitdem die zunehmende gesetzgeberische „Instrumentierung“ des SGB II, teils durch SGB II-spezifi sche Instrumente, teils durch Ankoppelung der SGB II-Förderung an das SGB III. Die aktuelle „Instrumentenreform“ ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Die Steuerung der Arbeitsmarktpolitik qua Gesetzgebung ist nie besonders erfolgreich gewesen; angesichts der sozialen und Regionalen Heterogenität in der Grundsicherung ist nicht zu erwarten, dass sie ausgerechnet hier erfolgreicher sein könnte. Die Ergänzung der Regelsteuerung durch die Steuerung qua Zielvereinbarungen auf mehreren Ebenen und durch den Wettbewerb um Ergebnisindikatoren führt zu einer widersprüchlichen „Über-Steuerung“, aber nicht zu größerer Wirksamkeit. (…)

Während der inkludierende Anspruch der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ in der Dimension des Aktivierens und Förderns bisher kaum eingelöst wurde, stellt dieses System in der Dimension administrativer Subsumtion ein gigantisches Inklusionsprojekt dar. Mit seiner extensiven Definition von Erwerbsfähigkeit und aufgrund der „horizontalen“ Methode der Ermittlung von Bedürftigkeit werden Personen in das System hineindefiniert, gegenüber denen der Anspruch der Arbeitsuche perspektivisch unangemessen ist oder die bei individueller Betrachtung nicht bedürftig wären. Dadurch wird die Anzahl der Leistungsberechtigten aufgebläht und das System mit der Verwaltung von „Fällen“ belastet, für die es keine Lösung anzubieten hat oder die kein Problem haben, das gelöst werden müsste. Wir schlagen deshalb vor, das Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ im Leistungsrecht und in der Aktivierung und Förderung aufzugeben und lediglich bei der Einkommensanrechnung in einer auf zivilrechtlich normierte Ansprüche reduzierten Form beizubehalten. (…)“

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung

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