Lebenswelten und Denkmuster muslimischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland

Die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlicht eine Publikation zu den Lebenswelten muslimischer Jugendlicher in Deutschland: Die Debatte um Integrationsversäumnisse der Politik einerseits und Integrationsunwilligkeit der Migranten andererseits reißt nicht ab. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund – insbesondere muslimische Jugendliche – geraten immer wieder in den Fokus der Diskussion, vor allem, wenn es um Schulabschlüsse oder den nicht erfolgreichen Übergang in Ausbildung und Beruf geht. Das Buch von Aladin El-Mafaalani und Ahmet Toprak reiht sich in eben diese Integrationsdebatte ein. Es greift die Debatte problemorientiert auf und liefert wertvolle Informationen und Eindrücke für all diejenigen, die sich in der Arbeit mit Jugendlichen engagieren. Auf Grundlage einer Analyse der Sozialisationsbedingungen in Deutschland geborener Kinder und Jugendlicher mit Migrationshintergrund wird erklärt, wie es zu irritierendem, befremdlichem oder sozial unerwünschtem Verhalten der jungen Menschen kommt. Dadurch lassen sich Verhaltens- und Handlungsmuster verstehen, was für eine migrations- und ungleichheitssensible, pädagogische Praxis notwendig ist.

Jugendliche entwickeln sich unterschiedlich auch im Hinblick auf das jeweilige Erziehungs- und Bildungsverständnis

Jugendliche wachsen mit unterschiedlichen Voraussetzungen auf, die ihre Eltern ihnen ermöglichen. Ihre Entwicklungsmöglichkeiten hängen erheblich davon ab, ob sie im Schatten von Arbeitslosigkeit aufwachsen, mit ungelösten Migrationsproblemen heranwachsen oder von engagierten Eltern gefördert werden. Die Lebenswelten, in denen die Jugendlichen sich heute entwickeln, differenzieren nicht nur in ökonomischer und kultureller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf ein unterschiedliches Erziehungs- und Bildungsverständnis.

In der vorliegenden Publikation setzen sich die Verfasser ausführlich mit der Lebenswelt muslimischer Jugendlicher auseinander. Trotz zahlreicher Analysen wissen wir wenig über die Lebenswelt muslimischer Jugendlicher in Deutschland. Wir haben kaum Einblick in ihre Alltagswelt, die Erziehungsstile und Erziehungspraktiken ihrer Eltern, mit denen sie heranwachsen. Vor allem dann, wenn die Jugendlichen die Hauptschule besuchen und ihre Eltern die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist uns ihre Lebenswelt weitgehend verschlossen.

Jugendliche mit Wurzeln in muslimisch geprägten Mittelmeer-Staaten stellen Pädagogen vor besondere Herausforderungen

Die Verfasser des Buches möchten Lehrern, Lehrerinnen und pädagogisch Interessierten aufzeigen, wie es zu irritierendem, befremdlichem und sozial unerwünschtem Verhalten kommt, um daraus konkrete Verhaltens- und Handlungsmuster abzuleiten.

Scheinbar sind nicht Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Allgemeinen eine Zielgruppe, die die pädagogische Arbeit vor besondere Herausforderungen stellt, sondern in besonderem Maße die Nachkommen von Einwanderern, die aus muslimisch geprägten Staaten des Mittelmeerraums stammen. Daher befasst sich die Veröffentlichung nicht nur mit „muslimischen Jugendlichen in Deutschland”, sondern dabei insbesondere mit türkei- und arabischstämmigen jungen Menschen, die sich in sozial benachteiligten Lebenslagen befinden. Jene muslimische Jugendliche, die erfolgreich waren und sind – ja, natürlich gibt es auch solche –, werden zum Schluss „statt eines Fazits” thematisiert.

5 Thesen sollen Interessierten problemorientierte Ansätze aufzeigen

Auszüge aus der Zusammenfassung der Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung „Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland“ von Aladin El-Mafaalani und Ahmet Toprak:

„(…) Dieses Buch reiht sich in die vielschichtige Integrationsdebatte ein. (…) Es wird ein problemorientierter Zugriff vorgenommen, der insbesondere für all jene von Interesse sein wird, die sich professionell oder ehrenamtlich im Bereich Migration und Integration engagieren. Dabei wird ein selektiver Ausschnitt der Muslime in Deutschland thematisiert. Es werden Kindheit und Jugend in traditionell-muslimischen Milieus durchleuchtet. Konservative und zugleich benachteiligte arabisch- und türkeistämmige Familien stehen hierbei im Mittelpunkt.
Auf der Grundlage der Analyse der Sozialisationsbedingungen in Deutschland geborener Migrantenkinder folgen Darstellungen, die für eine migrations- und ungleichheitssensible pädagogische Praxis von Relevanz sind. Dabei entwickeln und vertreten die Autoren folgende Thesen:

These 1: Das Zusammentreffen schwieriger Lebensumstände und traditionsorientierter Lebensweisen erschwert den Integrationsprozess.

(…) Das zentrale Problem entwickelte sich durch die Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungen: In den 1960ern und 1970ern sind (Gast-)Arbeiter gekommen, während gleichzeitig durch die Bildungsexpansion die Mittelschichtgesellschaft entstand. Von der Ausweitung des allgemeinen Bildungsniveaus konnten die Migranten nicht profitieren. Von dem Strukturwandel der Wirtschaft sind sie heute besonders betroffen. Entsprechend finden sich die Zuwanderer von damals auch heute noch überproportional häufig in den unteren Schichten der Sozialstruktur wieder.

(…) Die teilweise schwierigen und stockenden Integrationsprozesse sind durch das Zusammentreffen benachteiligter Lebensverhältnisse und traditionsorientierter Lebensweisen in traditionellen Migrantenmilieus begründbar. Dabei bilden soziale und kulturelle Aspekte in diesen Milieus eine Einheit und können entsprechend kaum unterschieden werden. Daher wird die Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen nur dann gelingen, wenn die milieuspezifischen Rahmenbedingungen in ihrer Gesamtheit erkannt und berücksichtigt werden. Das Bildungs- und Erziehungssystem ist für die Integration der Kinder mit Migrationshintergrund die zentrale Instanz. Hier werden Chancen generiert oder blockiert. Und genau hierin liegen die Probleme begründet: In Deutschland haben sich noch keine Strukturen etabliert, die mit Diversität und Ungleichheit erfolgreich umgehen.

These 2: Eltern und Schule konkurrieren – es fehlt die Kooperation.

Die pädagogischen Institutionen sind gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil benachteiligte Migrantenfamilien kaum in der Lage sind, ihren Kindern beim schulischen Lernen und bei der sozialen Etablierung zu helfen. Im Gegenteil: Sie kennen sich kaum mit dem Schul- und Ausbildungssystem aus, verstehen häufig nicht die pädagogischen Ziele und überschätzen die Funktion der Schule in Deutschland. Das führt dazu, dass die Eltern die pädagogische Verantwortung umfassend an die Schulen und Lehrkräfte abtreten, was von den Lehrkräften dann häufig als Desinteresse gedeutet wird. Während in den traditionell-muslimischen Familien Autorität und Loyalität die dominierenden Werte darstellen, werden in der Schule Selbstständigkeit und Selbstdisziplin erwartet. Gleichzeitig werden an den Nachwuchs hohe Erwartungen gestellt: Die Eltern erwarten sowohl Erfolge in Schule und Beruf als auch Loyalität gegenüber den traditionellen Werten. Dies stellt ihre Kinder vor besondere Herausforderungen. Sie müssen sich in sehr unterschiedlichen Erziehungslogiken und Wertesystemen zurechtfinden und häufig gleichzeitig sprachliche Rückstände ausgleichen.

Das deutsche Schulsystem ist kaum in der Lage, adäquat auf diese Lebensumstände der Kinder einzugehen. Zu stark sind historisch gewachsene Normalitätsannahmen (deutsche Mittelschichtfamilie). Entsprechend machen arabisch- und türkeistämmige Jugendliche seltener als ihre Altersgenossen hochwertige Schulabschlüsse, verlassen das Schulsystem deutlich häufiger ohne Abschluss und haben entsprechend auch größere Probleme beim Übergang von der Schule in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Der Misserfolg bzw. die ausbleibende gesellschaftliche Etablierung (…) wird von konservativen Eltern häufig auf den Mangel an Kontrolle, Strenge und Autorität in der Mehrheitsgesellschaft zurückgeführt, wodurch sie sich gezwungen fühlen, durch eine noch stärkere Verfolgung traditioneller Erziehungsziele und -stile entgegenzusteuern, was dann die Widersprüche und Spannungsverhältnisse auch für Kinder folgender Generationen konserviert. Gleichzeitig wird genau dieses Verhalten der Eltern von den pädagogischen Institutionen angeprangert. Ohne systematische Kommunikation und Kooperation zwischen Institutionen und Eltern wird dieser „Teufelskreis” nicht durchbrochen.

These 3: Anerkennung führt zu Integration. Gute Sprachkenntnisse und erfolgreiche Bildungskarrieren sind Ausdruck von erfahrener Anerkennung – nicht umgekehrt.

(…) Anerkennung und Bindungen sind die zentralen Aspekte, die Integration generieren. Entsprechend ist die Jugendphase über alle Herkunftsgrenzen hinweg geprägt durch die Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung. Wenn die Chance, Anerkennung außerhalb des ethnischen Kollektivs zu erfahren, ungewiss ist bzw. als unwahrscheinlich eingeschätzt wird, werden die Bindungen zur ethnischen Community forciert. Diese Erfolglosigkeit und das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, begünstigen Selbstethnisierung- und Selbstausschlusstendenzen.

Viele in Deutschland aufgewachsene Jugendliche definieren sich selbst als Türken bzw. Araber. Dabei ist ihr Referenzpunkt nicht das tatsächliche Heimatland ihrer Eltern – darüber wissen sie in der Regel relativ wenig – sondern vielmehr eine Vorstellung, ein Narrativ desselben. Es wird gewissermaßen eine Wunschvorstellung der eigenen Herkunft geformt, was psychologisch betrachtet durchaus funktional ist. Fühlt man sich nicht zugehörig, gleichberechtigt oder erwünscht, dann werden Vorstellungen entwickelt, die es erleichtern, mit diesem subjektiv wahrgenommenen Zustand zu leben. Ähnlich ist auch die häufig beobachtbare Selbstbeschreibung als Muslim zu interpretieren. (…) In den prekären Verhältnissen, in denen sich viele muslimische Jugendliche in Deutschland befinden, ist eine solch „einfache” und zugleich Orientierung stiftende Identitätsarbeit durchaus rational. Es muss gewissermaßen ein eigenes Milieu geschaffen werden, ein Lebensraum, der sich weder strikt an der Herkunftsgesellschaft oder der Lebensweise der Eltern noch an der Mehrheitsgesellschaft orientiert. (…)

Es existieren bei arabisch- und türkeistämmigen Kindern und Jugendlichen zwei parallel laufende Anerkennungsmodi, die sich insbesondere in den Geschlechterrollen ausdrücken: einerseits ein mehrheitsgesellschaftlich gewünschtes Bild von Männlichkeit und Weiblichkeit, (…) andererseits traditionelle Geschlechtsbilder des Herkunftsmilieus. Dies stellt eine enorme Herausforderung für das einzelne Individuum dar, denn es handelt sich um zwei unterschiedliche Identitäten, zwei verschiedene kulturelle Codes mit zwei divergierenden Geschlechtsmodellen, also im wörtlichen und metaphorischen Sinne um zwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsenden als Sprecher und Übersetzer zugleich üben müssen. Diese zu vollziehenden komplexen Syntheseleistungen zwischen herkunftsbezogenen und aufnahmeland-bezogenen Erwartungen werden um schichtspezifische Problemstellungen verstärkt. Die Art, in der Jungen und Mädchen eine Möglichkeit erhalten bzw. erkennen, Anerkennung in Schule und Beruf zu erfahren, bestimmt entscheidend mit, inwieweit sie die traditionellen Denk- und Handlungsmuster aufrechterhalten, verstärken oder den „deutschen” Verhältnissen angleichen.

These 4: In einem Anerkennungsvakuum ist abweichendes Verhalten rational.

Aus der subjektiven Perspektive begünstigen folgende Faktoren gewaltbereites Verhalten:

  1. wenig Zeit bzw. kein Handlungsspielraum,
  2. eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten und fehlende soziale bzw. kognitive Kompetenzen für kommunikative Konfliktlösungen und
  3. kein Risikobewusstsein, weil man kaum etwas zu verlieren hat. Problematisch wird ein Zustand dann, wenn eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen unter Sozialisationsbedingungen aufwächst, die langfristig alle drei Faktoren kritisch erscheinen lassen. (…)

Die fehlende Anerkennung in der Schule und die als unzeitgemäß wahrgenommene Lebensweise der Eltern können dann dazu führen, dass die Lebenswelt in Jugendgangs zur alles dominierenden Sozialisationsinstanz wird. Hier versteht man sich, man teilt gemeinsame Erfahrungen und kann Stärke und Überlegenheit demonstrieren. Es wird ein Raum geschaffen, in dem Anerkennung über die Verteidigung von Ehre und Respekt erfahren wird. In diesen Jugendgangs treten die Jugendlichen häufig in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft und zur ethnischen Community.

These 5: Interkulturelle Kompetenz ist eine Schlüsselkompetenz für pädagogische Berufe.

Was ist Kultur, was ist jugendliche Rebellion? Wann liegt soziale Ausgrenzung vor, wann kulturelle oder religiöse Selbstbestimmung? Diese komplexen Fragen bringen pädagogische Fachkräfte nicht selten in widersprüchliche Situationen, in denen immer auch Fingerspitzengefühl eine besondere Rolle spielt. Interkulturell kompetente Fachkräfte imitieren nicht die Eltern der Heranwachsenden oder weichen von den eigenen Werten ab. Im Gegenteil: Sie reflektieren ihre eigenen Wertvorstellungen und interessieren sich für andere. Und sie setzen sich dafür ein, dass den ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen die gesellschaftliche Etablierung bestmöglich gelingt. Hierfür ist es offensichtlich erforderlich, dass sich die Kinder mit der deutschen Kultur (Sprache, Geschichte, Literatur, Politik etc.) gut auskennen. Dies mit dem Argument kultureller Selbstbestimmung zu negieren, trägt nicht zur Verbesserung der sozialen Lage der Migranten bei. Gleichzeitig ist eine Öffnung der Curricula und Lehrpläne für orientalische Sprachen und Geschichte sowie für die islamische Religion wünschenswert und gewinnbringend.

Interkulturelle Kompetenz ist also die Grundlage für gemeinsames Lernen und umfassende Verständigung. Bisher sind weite Teile der Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung in den Bereich der Familie ausgelagert und werden in der Schule implizit vorausgesetzt. Stattdessen sollte expliziert werden, was bisher vorausgesetzt wird. (…)“

Quelle: Konrad Adenauer Stiftung

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