Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) legt im Kontext seiner Berufsbildungsforschung einen Bericht über die Zugangswege junger Menschen mit Behinderung in Ausbildung vor: Die amtlichen Statistiken lassen allerdings nur bedingt Analysen der Wege junger Menschen in das Maßnahme- , Ausbildungs- und Arbeitssystem zu. Jugendliche selber haben die Erfahrungen gemacht, dass sie aufgrund von behinderungsbedingten Einschränkungen im Auswahlverfahren unterlegen waren, obwohl sie sich selber als fachlich gleichwertig einschätzten. Vor allem Großunternehmen sind kaum bereit, ihre Zugangsvoraussetzungen an die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen. Kleinere Betriebe sind scheinbar flexibler in der Anwendung von Kriterien, die über die Vergabe von Ausbildungsplätzen entscheiden. Förderungen aus öffentlicher Hand sind ein tragendes Element der Ausbildung und Beschäftigung junger Menschen mit Behinderung.
Der Bericht „Zugangswege junger Menschen mit Behinderung in Ausbildung und Beruf“ stellt die Ergebnisse einer Studie im Auftrag des BMBF vor. Die Studie wurde vom Forscherteam Friedrich-Gärtner, Kaul, Klinkhammer, Menzel und Niehaus an der Universität Köln durchgeführt. Die Forschungsarbeiten fanden zwischen Januar und September 2010 statt. Auszüge aus dem Bericht:
„(…) Schulentlassene mit Behinderung als Aspiranten für den Ausbildungsmarkt: Nahezu 80 Prozent ohne Hauptschulabschluss
Zur Abschätzung der Größenordnung und zur Bedarfsplanung ist die Kenntnis über die Personengruppe „junge Menschen mit Behinderung“ notwendig. Die Frage, wie viele Schulentlassene mit Behinderung mit welchen Abschlüssen, die potenziell dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, es gibt, kann mit Statistiken des Schulsystems annähernd beantwortet werden. Im schulischen System wird allerdings nicht von Schülern und Schülerinnen mit Behinderung, sondern systemspezifisch von Schülern und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesprochen. Hierbei werden unterschiedliche Förderschwerpunkte differenziert:
- Lernen (früher Lernbehinderte),
- Sehen (früher Sehbehinderte und Blinde),
- Hören (früher Schwerhörige und Gehörlose),
- Sprache (früher Sprachbehinderte),
- körperliche und motorische Entwicklung (früher Körperbehinderte),
- geistige Entwicklung (früher Geistigbehinderte) sowie
- emotionale und soziale Entwicklung (früher Erziehungsschwierige).
(…) Die Verteilung auf die einzelnen Förderschwerpunkte veränderte sich in den letzten 20 Jahren kaum. Ungefähr die Hälfte der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen werden im Förderschwerpunkt „Lernen“ unterrichtet. Im Schuljahr 2008/2009 waren rund 37 Prozent der Förderbedürftigen weiblich. Zu den schülerbezogenen Daten im Bereich Migrationshintergrund stellt die KMK fest, dass dieser teilweise schwer zu erfassen ist. (…) Ein Großteil verlässt die Förderschule ohne Hauptschulabschluss, rund 76 Prozent im Jahr 2008. Die Möglichkeit eines nachträglichen Erwerbs eines allgemeinbildenden Abschlusses an einer beruflichen Schule besteht in allen Länder. Wie viele Schülerinnen und Schüler einer Förderschule oder integrativ Beschulte ohne Hauptschulabschluss einen allgemeinbildenden Abschluss an einer beruflichen Schule nachträglich erwerben, ist in den Statistiken allerdings nicht ausgewiesen. (…)
Aussagen zur Größenordnung der Personengruppe „junge Menschen mit Behinderung“, die als Schulentlassene dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, können hinsichtlich der Größenordnung nur annähernd getroffen werden. Rund 5 Prozent der Gesamtschülerzahl bis Klasse 10 sind definiert als Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Den größten Anteil stellen hierbei junge Männer mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Rund drei Viertel der Schüler und Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Mit den Restriktionen der amtlichen Statistiken sind weiter gehende Analysen, beispielsweise eine Ausdifferenzierung hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Migrationshintergrund und Schulabschluss, im Vergleich zwischen Bundesländern schwierig und im Vergleich zwischen den Förderorten allgemeine Schule versus Förderschule nicht möglich. Zudem enthalten die Schulstatistiken keine Angaben über den weiteren Verbleib der Schulentlassenen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Teilhabe junger Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben: Geringe Eintritte in betriebliche Ausbildung, breites Übergangssystem und wachsender zweiter Arbeitsmarkt
Für eine Analyse der Zugangswege junger Menschen mit Behinderung in Ausbildung und Beschäftigung ist auf den rechtlichen Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe am Arbeitsleben zu verweisen. Dieser manifestiert sich im deutschen Recht an mehreren Stellen, angefangen bei dem Grundgesetz, welches über das Gleichstellungsgebot explizit Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung vorgreifen soll, bis hin zu den speziellen Regelungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft über das SGB IX und den Regelungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im SGB III. (…)
Zu beachten ist allerdings, dass mit dem Wechsel vom System Schule in das rechtliche Rahmenwerk zur Regelung der Teilhabe am Arbeitsleben sich die Definitionen der Zielgruppe ändern. Es wird nicht mehr von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesprochen, sondern von Rehabilitanden, von Schwerbehinderten, von Menschen mit Behinderung, denen entsprechende gesetzliche Kategoriensysteme zugrunde liegen. Damit einhergehend verliert sich die Spur von den Schulentlassenen mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Insgesamt ergeben sich für die Schulentlassenen mit Behinderung drei unterschiedliche Verbleibmöglichkeiten:
- So können sie als Auszubildende oder Beschäftigte mit oder ohne Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit auf den ersten Arbeitsmarkt gelangen,
- oder sie können zum einen in die nachschulischen Qualifizierungsmaßnahmen des Maßnahmensystems der Bundesagentur für Arbeit beispielsweise als Rehabilitanden einmünden,
- während sie zum anderen aber auch in den zweiten Arbeitsmarkt in eine der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) eintreten können. (…)
Eine Annäherung für den Zugangsweg von der Schule in die betriebliche Ausbildung ist u. a. über das Anzeigeverfahren im Sinne des SGB IX für die Ausgleichsabgabe – und damit nur für die Gruppe der schwerbehinderten Menschen – zu erreichen. Weitere Angaben zu diesem Personenkreis werden der Statistik zu den „Eingliederungs- und Arbeitgeberzuschüssen für schwerbehinderte Menschen“ der Bundesagentur für Arbeit entnommen. In Abgrenzung dazu werden neu abgeschlossene Ausbildungsverträge speziell für Menschen mit Behinderung in der Berufsbildungsstatistik des Bundesinstituts für Berufsbildung erkennbar.
So kann für den ersten Arbeitsmarkt festgehalten werden, dass die Zahl der Auszubildenden mit Schwerbehinderung in den Jahren zwischen 2005 und 2008 von ca. 5.500 auf ca. 6.000 leicht zugenommen hat. Für eine Analyse der Abgänge aus dem Schulsystem und Eintritte in das Ausbildungssystem sind insbesondere die jüngeren Auszubildenden mit Schwerbehinderung von Interesse. Hier zeigt sich im gleichen Zeitraum ein Anstieg von ca. 2.600 auf ca. 2.700 Auszubildende im Alter unter 20 Jahren. (…)
Bei den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zu den „Eingliederungs- und Arbeitgeberzuschüssen für schwerbehinderte Menschen“ zeigt sich, dass insbesondere die Ausbildungszuschüsse für schwerbehinderte Menschen (ca. 1.600) und behinderte Menschen (ca. 3.200) sowie die Probebeschäftigung (ca. 4.000) die größten Jahreseintritte zu verzeichnen haben. Insgesamt wurden im Jahr 2009 demnach 9.849 Auszubildende unter 25 Jahren mit Schwerbehinderung über die Ausbildungszuschüsse gefördert. Deutlich wird, dass finanzielle Zuwendungen aus öffentlicher Hand ein tragendes Element der Ausbildung und Beschäftigung junger Menschen mit Behinderung sind.
Ausführlichere Statistiken liegen über die Berufsbildungsstatistik des Bundesinstituts für Berufsbildung zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen speziell für Menschen mit Behinderung (§ 66 BBiG und § 42m HwO) vor. (…) Aktuell kann festgehalten werden, dass 2009 ca. 14.000 Menschen eine Ausbildung speziell für Menschen mit Behinderung begonnen haben. (…)
Über das breite Übergangssystem gibt folgende amtliche Datensammlung zur Förderung der beruflichen Rehabilitation Auskunft. Dem Ausbildungssystem auf dem ersten Arbeitsmarkt angelagert ist das System zur „Förderung der Rehabilitation“ der Bundesagentur für Arbeit, welches in der gleichnamigen Statistik ausgewiesen ist. Mit einem Fokus auf Schulentlassene sind hier insbesondere die Eintritte in Maßnahmen zur Ersteingliederung in den Arbeitsmarkt von Interesse. Die sich speziell an Menschen mit Behinderung richtenden Maßnahmen sind als „rehaspezifisch“ aufgeführt. So haben im Berichtsjahr 2009 ca. 17.200 junge Menschen eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB) begonnen. Bei den rehaspezifischen besonderen Maßnahmen zur Ausbildungsförderung (Reha-bMA) liegen die Eintritte bei ca. 19.600 Rehabilitanden. Besondere Maßnahmen zur Weiterbildung (Reha-bMW) erhielten im Jahr 2009 erstmalig ca. 2.400 Rehabilitanden. Mit der Statistik zur „Förderung der Rehabilitation“ ist es schwierig, den Zugang in das Maßnahmensystem nachzuzeichnen, da kein Bezug zur Gruppe der Schulentlassenen mit sonderpädagogischem Förderbedarf hergestellt werden kann.
Neben den beschriebenen Zugängen in ein betriebliches Ausbildungsverhältnis oder in das ausdifferenzierte Übergangssystem besteht die Möglichkeit, direkt von der Schule in den zweiten Arbeitsmarkt in eine Werkstatt für behinderte Menschen zu wechseln. (…)
Insgesamt kann festgehalten werden, dass mit den vorliegenden Statistiken die Wege junger Menschen mit Behinderung von der Schule in das Maßnahmen-, Ausbildungs- und Arbeitsmarktsystem nicht analysiert werden können. Die Analyse der Zielsituation (Wie viele junge Menschen mit welchen Behinderungen treten in welchen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ein?) kann im Abgleich mit der Analyse der Ausgangssituation (Wie viele Schulentlassene mit welchen Behinderung gibt es, die potenziell in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt eintreten können?) nicht über die amtlichen Statistiken erfolgen. Somit sind keine Aussagen über Zugangswege, sondern nur bedingt über Förderorte möglich. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse sind Empfehlungen für die Optimierung der Datenerhebungslage auszusprechen. (…)
Deshalb wird im Rahmen dieser Studie mit einer explorativ angelegten qualitativen Befragung erhoben, wie Jugendliche mit Behinderung erfolgreich einen Bewerbungsprozess durchlaufen und welche Barrieren sie dabei überwinden müssen. (…)
Aus der Perspektive Jugendlicher mit Behinderung hängt der Zugang in Ausbildung vor allem vom eigenen Engagement im Bewerbungsverhalten ab. Das häufig erfolglose Bemühen um einen Ausbildungsvertrag wird nicht selten als Auswirkung der eigenen Behinderung gesehen. So haben die befragten Auszubildenden oft die Erfahrung gemacht, dass sie aufgrund von behinderungsbedingten Einschränkungen im Wettbewerb mit anderen Jugendlichen im Auswahlverfahren unterlegen waren, obwohl sie sich fachlich als gleichwertig einschätzten. Häufig wurden vonseiten des Ausbildungsbetriebes keine besonderen Maßnahmen vorgenommen, um z. B. die Einstellungstests auf die individuellen Bedürfnisse der behinderten Jugendlichen anzupassen oder Konzessionen bei Auswahlkriterien einzugehen. (…)
Die befragten Jugendlichen haben auch aufgrund von Unkenntnis selten auf institutionalisierte Angebote zurückgegriffen. Die Vermittlung und Beratung durch die Arbeitsagentur spielt innerhalb der individuell gestalteten Bewerbungsstrategien eine untergeordnete Rolle. Andere Einrichtungen, wie z. B. die Integrationsämter oder Integrationsfachdienste, sind den Jugendlichen in ihrer Funktion kaum bekannt. Wichtigster Partner im Bewerbungsprozess sind neben den Eltern vor allem die Lehrer, die die Bedürfnisse und Fähigkeiten ihrer Schüler gut einschätzen können.
Aus der Sicht der befragten betrieblichen Akteure sind Jugendliche mit Behinderung häufig weder den kognitiven noch den körperlichen Anforderungen der Ausbildung und Beruf in ihrem Unternehmen gewachsen. Vor allem vonseiten des Personalwesens wird beklagt, dass keine oder nur wenige geeignete Bewerbungen von Jugendlichen mit Behinderung eingehen. Allerdings sind vor allem die Großunternehmen offensichtlich kaum bereit oder in der Lage, ihre Zugangsvoraussetzungen an die jeweiligen Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, sodass viele Bewerber schon an den Barrieren der Auswahlverfahren scheitern. Die Ergebnisse deuten an, dass kleinere Betriebe flexibler sind in der Anwendung von Kriterien, die über die Vergabe von Ausbildungsplätzen entscheiden. Sie sind auch eher bereit, ein Risiko einzugehen, wenn auf der anderen Seite positive Erwartungen (motivierte Auszubildende, finanzielle Unterstützung) überwiegen.
Um den Zugang von Jugendlichen mit Behinderung in Ausbildung grundlegend zu erleichtern, ist (…) vor allem eine Verbesserung des Übergangsmanagements erforderlich. Bereits in der Schule sollte den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, die Arbeitswelt unter dem Gesichtspunkt der dualen Berufsausbildung kennenzulernen. Im weiteren Prozess sollten andere Instanzen systematisch in den Prozess eingebunden werden, sodass den Jugendlichen die ihnen zustehenden Unterstützungsleistungen zugänglich sind. (…)
Um die Zugangswege Jugendlicher mit Behinderung in die berufliche Ausbildung durch gezielte Interventionen zu optimieren, sind allerdings noch weitere wissenschaftliche Erkenntnisse erforderlich. (…)
Empfehlungen zu Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsmarktstatistiken
Unter Berücksichtigung von Datenschutz und Erhebungsaufwand wird ein quantitatives Querschnittsdesign vorgeschlagen, welches für weiterführende Analysen als Grundlage für ein Längsschnittdesign geeignet ist, wie es mit den vorhandenen Datenquellen, beispielsweise der Berufsbildungsstatistik des BIBB und den VerBIS-Daten der BA, unter Einbezug weiterer empfohlener Merkmale entwickelt werden kann. (…)
Die Empfehlungen für die in diesem Forschungsbericht ausgewiesenen Statistiken zu dem abgebenden Schulsystem und den verschiedenen Aufnahmesystemen lauten:
- Die Bestrebungen der KMK, die statistische Datenerhebung zu harmonisieren (bspw. zum Migrationshintergrund), müssen weiter unterstützt werden.
- Um einen Vergleich zwischen Schulentlassenen des Förderschulsystems und der integrativen Beschulung zu ermöglichen, müssen im System der allgemeinen Schulen die Daten über Schulentlassene mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereitgestellt werden.
- Es sollte eine Abstimmung zwischen den Daten der KMK und dem Statistischen Bundesamt erfolgen.
- Die amtlichen Statistiken mit Bezug zu Ausbildung und Arbeitsmarkt müssen um Merkmale
– zum abgebenden Schulsystem (z. B. besuchte Schulform, Jahr der Schulentlassung, Schulabschluss),
– zum Individuum (z. B. Geburtsjahr, Geschlecht, Behinderung),
– zum Maßnahmesystem und Arbeitsmarkt (z. B. Eintrittsdatum in eine Maßnahme bzw. Ausbildung) erweitert werden. - Die VerBIS-Daten der BA müssen um Informationen aus der Berufsberatung hinsichtlich der zuvor besuchten Schulform von den Teilnehmenden an Maßnahmen ergänzt werden.
- Es wird eine Integration der Berufsbildungsstatistik des BIBB und der VerBIS-Daten der BA empfohlen.
- Die integrierten Erwerbsbiografien des IAB müssen die Zielgruppe der Menschen mit Behinderung berücksichtigen.
- Es sollte eine internationale Vergleichbarkeit hinsichtlich der Kategorisierung Förderbedarf/Behinderung hergestellt werden (z. B. International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF-Klassifikation).“
Quelle: BMBF