Zu wenig sozialintegrative Leistungen im Hartz-IV-System?

Auszüge aus der DGB-Erhebung „Sozialintegrative Leistungen der Kommunen im Hartz IV-System – Beratung „aus einer Hand“ erfolgt meist nicht“ von Dr. Wilhelm Adamy und Elena Zavlaris:
“ Das Sozialgesetzbuch (SGB) II regelt im Kapitel 3 die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit. Dazu gehören die arbeitsmarktpolitischen Leistungen (§ 16 SGB II) sowie die sogenannten kommunalen Eingliederungsleistungen (§ 16a SGB II). Der § 16a SGB II ist eine kommunale Kann-Regelung. Die sozialen Integrationshilfen liegen in der Entscheidungsautonomie von Städten und Gemeinden und deren tatsächliche Erbringung hängt von den vorhandenen beziehungsweise bereit gestellten finanziellen Ressourcen einer Kommune ab.

Eine gemeinsame Einrichtung, also ein Jobcenter, das durch Arbeitsagentur und Kommune gemeinsam betrieben wird, hat nur dann Einfluss auf Umfang und Ausgestaltung der kommunalen Eingliederungsleistungen, wenn sie diese Aufgabe selbst wahrnimmt und nicht – wie nach § 44b Abs. 4 SGB II möglich – an die Kommune übertragen hat. In drei Viertel aller gemeinsamen Einrichtungen wurden jedoch alle, in weiteren zehn Prozent fast alle sozialintegrativen Leistungen auf den kommunalen Träger übertragen. Durch die sogenannten Optionskommunen, d. h. Jobcenter in alleiniger Trägerschaft der Kommunen, werden die kommunalen Eingliederungsleistungen nach § 6a SGB II erbracht. Aber auch hier kommt es darauf an, ob der Hartz-IV-Träger eine bestimmte Aufgabe selbst wahrnimmt oder eine andere kommunale Instanz, beispielsweise das Sozial- oder Gesundheitsamt. Zwar sieht das SGB II Zielvereinbarungen für alle Leistungen sowie die Nachhaltung der Zielerreichung vor, doch für die kommunalen Leistungen greift dies meist nicht. … Einheitliche und verbindliche Standards wie auch valide und bundesweit zugängliche Daten fehlen, sodass es keinerlei Transparenz über die Leistungserbringung gibt.

Großer Unterstützungsbedarf
In Deutschland gab es im Jahr 2012 fast 4,5 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen. Davon waren mehr als zwei Drittel im Langzeitbezug, d. h. sie haben innerhalb der letzten 24 Monate mindestens 21 Monate Leistungen bezogen. Gerade bei diesem Personenkreis erschweren oft Schulden, Sucht oder psychosoziale Probleme den Weg aus dem Leistungsbezug – häufig treten mehrere Problemlagen gleichzeitig auf beziehungsweisebedingen oder verstärken sich gegenseitig. Umgekehrt führt Arbeitslosigkeit zu zunehmender sozialer Not.

Nach vorsichtigen Schätzungen ist etwa die Hälfte der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen betroffen. Das bedeutet, dass mehr als zwei Millionen Menschen Bedarf an Schulden-, Sucht- oder psycho-sozialer Beratung haben. Der Forschungsbericht im Auftrag des BMAS geht von 25 Prozent erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit Schuldenproblemen, 10 Prozent mit Suchtproblemen und 20 Prozent mit Bedarf an psychosozialer Betreuung aus. …

Ganzheitliche Unterstützung gelingt nur selten
… Das Hartz-IV-System sieht die Erbringung von kommunalen Eingliederungsleistungen nur dann vor, wenn sie für die Eingliederung in Arbeit erforderlich sind. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Jobcentern sind mit dieser Ermessensentscheidung oft überfordert. Die Integrationsfachkräfte in den Hartz-IV-Stellen müssen zunächst erkennen, dass der/die Hilfebedürftige sich in einer besonderen sozialen Problemlage befindet. Weiterhin müssen sie entscheiden, ob und welche Art der kommunalen Leistung für die Eingliederung erforderlich ist. Auf der anderen Seite haben die häufig von Wohlfahrtsverbänden betriebenen Leistungsanbieter ein Eigeninteresse daran, ausreichend Beratungsfälle zu betreuen, um die Finanzierung abzusichern. Unterschiedliche Auffassungen über die Richtigkeit der Entscheidung zwischen Jobcenter und ausführender Stelle sind keine Seltenheit und führen dazu, dass das „Ziehen an einem Strang“ beziehungsweise die integrierte Beratung oft nur auf dem Papier steht.

Probleme entstehen auch dann, wenn die Jobcenter die Hilfebedürftigen über die Eingliederungsvereinbarung dazu zwingen, ein Beratungsangebot aufzusuchen und Sanktionen androhen. Dies ist meist keine geeignete Grundlage für eine vertrauensvolle und damit Erfolg versprechende Beratung.

Beim Vollzug von Sanktionen verschlimmert sich die Situation der Hilfebedürftigen sogar meist noch, was eine Integration in Arbeit weiter erschwert. Das Aufsuchen und die Inanspruchnahme sozialintegrativer Hilfen sollten daher grundsätzlich freiwillig und nicht sanktionsbewährt sein. Vielmehr sollte die Beratungskompetenz der Vermittlungsfachkräfte dahingehend verbessert werden, dass eine freiwillige Inanspruchnahme der Betroffenen erfolgt.

Am besten gelingt die vertrauensvolle Zusammenarbeit, wenn Jobcenter und Beratungsstellen möglichst auch räumlich eng zusammen arbeiten und damit Barrieren für alle Beteiligten abgebaut werden. …

Organisatorischer Flickenteppich
Die sozialintegrativen Leistungen werden bundesweit in sehr unterschiedlichen Strukturen erbracht. Abhängig davon, ## ob das Jobcenter als gemeinsame Einrichtung oder Optionskommune organisiert ist,
## ob in einer gemeinsamen Einrichtung die sozialintegrativen Leistungen auf die Kommune übertragen wurden oder im Jobcenter verbleiben und
## ob die Kommune die Leistungen selbst erbringt oder an Dritte vergeben hat,
ist der unmittelbare Zugriff der Jobcenter auf die Leistungen mehr oder weniger begrenzt.

Der Einfluss eines Jobcenters auf die sozialintegrativen Leistungen und die Verzahnung mit den arbeitsmarktpolitischen Leistungen hängt auch davon ab, ob es ein eigenständiges Budget hat, wie die Vertragsgestaltung aussieht und davon, inwieweit die handelnden Akteure zu Abstimmungen bereit sind.

In den meisten Fällen führen die Kommunen die Beratung nicht selbst durch, sondern haben Dritte damit beauftragt. Dabei divergieren wiederum die Verträge hinsichtlich Beratungsleistung, Zugangswegen, Beratungsumfang, Berichtspflichten und Finanzierung erheblich. Die Jobcenter wissen häufig gar nicht, wozu die von den Kommunen beauftragten Dritten in ihren Verträgen verpflichtet sind. Enthalten die Verträge keine Regelungen zu Zugangswegen oder Verfahren des Sozialdatenschutzes, so kommt es vor, dass sich die Dritten weigern, diesbezüglich mit dem Jobcenter zu kooperieren. …

Obwohl es Anspruch von Hartz IV war, die verschiedenen Hilfesysteme zu integrieren und Leistungen abgestimmt aus einer Hand zu gewähren, fehlen die rechtlichen Regelungen, um dies verbindlich zu gewährleisten. Die Realität zeigt, dass sich in Deutschland eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen entwickelt hat, in denen je nach Ausgestaltung unterschiedliche Akteure unterschiedliche Zuständigkeiten haben und die Hilfebedürftigen darauf angewiesen sind, dass die Kompetenz und der Wille zu Abstimmungen vorhanden sind.

Häufig mangelt es aber genau an der Kompetenz und/oder dem Willen der Akteure. Insbesondere das gegenseitige Verständnis der Partner mit der aus der ehemaligen Sozialhilfe gewachsenen Ausrichtung auf den Hilfebedarf des Menschen einerseits und dem auf Arbeitsmarktintegration ausgerichteten Fokus andererseits behindern den gemeinsamen Aufbau eines abgestimmten Systems mit integrierenden Ansätzen. …

Im Ergebnis findet keine Betreuung aus einer Hand, sondern überwiegend ein Nebeneinander gelegentlich sogar ein Gegeneinander getrennter Systeme auf dem Rücken der Hilfebedürftigen statt. …

Empfehlungen aus gewerkschaftlicher Sicht
Mit Hartz IV sollten soziale und arbeitsmarktliche Integrationshilfen zusammengefasst und aus einer Hand erbracht werden. Das System schafft aber weder in rechtlicher noch in finanzieller Sicht die Voraussetzungen dafür, dass dies verbindlich flächendeckend umgesetzt wird. Es sind daher Nachbesserungen in rechtlicher Hinsicht sowie finanzielle Korrekturen erforderlich. ## Es sollte ein Rechtsanspruch auf die sozialintegrativen Leistungen bestehen möglichst unabhängig von der Rechtskreiszugehörigkeit der Hilfesuchenden. Die Inanspruchnahme der sozialintegrativen Leistungen sollte grundsätzlich freiwillig sein, da nur so eine Erfolg versprechende Beratung möglich ist.
## Es muss ein System aufgebaut werden, das sicherstellt, dass bundesweit qualitativ und quantitativ ausreichende Angebote an sozialintegrativen Leistungen bereitgestellt werden. Dafür muss zunächst Transparenz über die Erbringung von sozialintegrativen Leistungen geschaffen werden. Weiter müssen bundesweit verbindliche Standards gelten, die einen schnellen und qualitativ hochwertigen Zugang zu den Leistungen absichern. …
## Schriftliche Vereinbarungen zwischen den Trägern und den Leistungsanbietern müssen die Erbringung der sozialintegrativen Leistungen regeln. Dabei hat die Vertragsgestaltung mit den Leistungsanbietern Mindestanforderungen zu genügen. So müssen Leistungsinhalte und –umfänge, Prozessstandards, Kooperationsstandards und Berichtspflichten enthalten sein. Sozialdatenschutzrechtliche Fragen sind in besonderer Weise zu regeln, um den für eine verzahnte Leistungserbringung erforderlichen Informationsaustausch auf eine sichere Basis zu stellen.
## Die Hilfestellung aus einer Hand sollte möglichst so umgesetzt werden, dass die kommunalen Eingliederungsleistungen Schulden-, Sucht- und psychosoziale Beratung in dem Jobcenter angeboten werden. Dafür sind entsprechende gesetzliche Regelungen zu treffen oder finanzielle Anreize zu setzen. … Wichtig sind in jedem Fall gut geregelte Zugangswege zu den Leistungsanbietern und enge Absprachen hinsichtlich aufeinander abgestimmter sozialer und beruflicher Unterstützungsleistungen. …
## Arbeitsgelegenheiten sind vorrangig als Instrument der sozialen Teilhabe und persönlichen Stabilisation zu nutzen. Sie sind so zu öffnen, dass die Erbringung sozialintegrativer Leistungen als integraler Bestandteil des Maßnahmeinhalts möglich ist.
## Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Hartz-IV-Stellen sind so zu qualifizieren, dass sie Bedarfe besser erkennen, in angemessener Weise thematisieren und geeignete Lösungsstrategien entwickeln können. Die Qualifizierung kann auch durch die Schuldner-, Sucht- oder psychosozialen Beratungsstellen selber erfolgen. … „
Das DGB-Papier in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.

Quelle: DGB Bundesvorstand

Dokumente: StudieSozialintegrativeLeistungenKommunenHartzIV.pdf

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