Langsam zurück in die Normalität? Noch sind wir längst nicht im normalen Arbeitsmodus angekommen. Die finanzielle Absicherung von Trägern, Personal und Maßnahmen bestimmt nach wie vor die Debatte um die Auswirkungen des Lockdown. Ergänzend dazu richten die “Jugendsozialarbeit News” in dieser Zeit den Blick auf die Jugendlichen in der Jugendsozialarbeit. Wir fragen “WIE GEHT ES EIGENTLICH DEN JUGENDLICHEN…” und geben der Berichterstattung zur Coronakrise damit eine neue Ausrichtung. Heute sprechen wir mit Anna Henter. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin zusammen mit drei weiteren Kolleginnen im ZIMA – Zentrum für Interkulturelle Mädchen- und Frauenarbeit bei IN VIA Stuttgart. Im letzten Jahr gab es insgesamt 1045 Besuche im ZIMA.
Wer besucht Ihre Einrichtung?
Anna Henter: In unserem Zentrum für Interkulturelle Mädchen- und Frauenarbeit mitten in Stuttgart machen wir vielfältige Angebote für Mädchen und Frauen unterschiedlicher Herkunft zwischen 14 und 27 Jahren.
Wir haben einen Offenen Treff mit Freizeitangeboten, wie Schreibwerkstatt oder Yoga, aber bewusst auch mit angebotsfreien Räumen. Dort können die Besucherinnen gemütlich sitzen, reden oder kreativ sein. Der zweite Bereich sind präventive Bildungsangebote, von Sexueller Bildung bis Gewaltprävention. Für diese mädchenspezifischen Angebote werden wir u.a. auch von Schulen angefragt.
Die dritte Säule ist unsere Beratung. Die Beratungsanlässe ergeben sich oder erfolgen zwischen Tür und Angel entlang der Themen, die die Mädchen bewegen: Beziehungsprobleme, Konflikte in der Schule, Zwangsverheiratung etc.
Wie geht es den jungen Mädchen und Frauen, die sonst zu Ihnen kommen, momentan?
Anna Henter: Meine spontane Antwort: „Nicht so schlimm wie gedacht“. Als klar war, dass wir auch schließen müssen, war das für Stammbesucherinnen erstmal fast ein Schock. Da war ganz viel Sorge und Angst: Wie soll ich den Lernstoff verstehen, wenn ich nicht in die Schule gehen kann? Wie soll ich das allein machen? Was, so lange nur mit der Familie? Nicht rausgehen können, die Freundinnen nicht sehen können, nicht ins ZIMA gehen können.
Mittlerweile sieht das Bild etwas anders aus. Vor allem die jüngeren Mädchen, also die 14-15-Jährigen, berichten uns, dass sie es eigentlich ganz schön finden Zeit mit der Familie zu verbringen. Sie gehen mit ihren Geschwistern raus, kochen zusammen und spielen mit der Familie. Trotzdem merken wir langsam, dass auch diese Stimmung wieder kippt und je länger sich die Situation zieht, desto mehr wächst die Sorge vor allem in der Schule nicht mehr mitzukommen.
Für die Älteren ist es eine größere Herausforderung. Ihnen fehlt ihr „Freiraum“ außerhalb der Familie, sich mit der peer-group zu treffen. Viele haben Ziele, auf die sie vor der Corona-Krise sehr intensiv hingearbeitet haben und dieser Prozess steht jetzt erstmal still. Zum Beispiel eine Arbeitsstelle, die jetzt nicht angetreten werden kann. Und auch die jungen Frauen, die sich auf ihre Schulabschlüsse vorbereiten und nicht wissen, wann die Prüfung ist.
Was wir natürlich nicht beurteilen können, ist, wie es den Mädchen und jungen Frauen geht, von denen wir keine Kontaktadressen, Handynummer oder ähnliches haben. Um manche machen wir uns Sorgen.
Aber auch diese Seite gibt es: Vor ein paar Wochen haben uns zwei der jungen Frauen gefragt, wo sie sich ehrenamtlich engagieren können.
Mit welchen Schwierigkeiten haben die Mädchen und jungen Frauen besonders zu kämpfen?
Anna Henter: Sie kämpfen gerade vor allem mit dem Physical Distancing. Ihre Freund*innen nicht zu sehen, nicht in die Schule gehen zu können, ist hart.
Manche Mädchen kämpfen mit Langeweile. Interessant finde ich auch, wenn wir fragen: Was hast du heute so gemacht? Dann kommt erstmal als Antwort: Nix. Und wir sagen dann: Es ist ja schon eine ganze Menge, was du gemacht hast, wenn du deiner Mutter beim Aufräumen geholfen hast, wenn du spazieren gegangen bist oder ein Bild gemalt hast.
Kommen auch Mädchen und Frauen aus geflüchteten Familien ins ZIMA?
Anna Henter: Ja, viele unserer Stammbesucherinnen sind geflüchtete Mädchen und Frauen, die durch ihre Familie beim Lernen nicht die Unterstützung bekommen können. Es gibt oft auch nicht genügend Raum, um in Ruhe für ihre Abschlussprüfung zu lernen. Nicht nur physisch, es geht ja auch um die Lernatmosphäre. Aber das betrifft nicht allein geflüchtete Mädchen.
Was bieten Sie den Mädchen und jungen Frauen aktuell an?
Anna Henter: Wir haben ein wöchentliches Newsletter-Format entworfen. Darin spiegelt sich unser gesamtes freizeitpädagogisches Angebot wieder, wie Keep your Balance, ein Angebot zur Unterstützung der bio-psycho-sozialen Gesundheit. Das Themenspektrum reicht von Ernährung, Bewegung, hin zu Achtsamkeit, Entspannung etc. Im Kulturcafé bieten wir kreativ-künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten, wir diskutieren, bieten Schreibwerkstätten. Zuletzt haben wir ein Projekt über Frida Kahlo begonnen. Im Newsletter sind auch Rezepte, Song- und Workout-Tipps, Lerntipps und Infos über die aktuelle Lage zu finden.
Wie sieht Ihr Kontakt zu den Mädchen in Coronazeiten aus?
Anna Henter: In regelmäßigen Rundrufen bei den Stammbesucherinnen fragen wir, wie es ihnen geht und ob sie Wünsche und Ideen für den Newsletter haben. Wir machen kurze Beratungen und signalisieren ihnen, dass wir für sie erreichbar sind und in Notfällen auch eine Beratung mit Abstand durchführen können, z. B. ein gemeinsamer Spaziergang.
Wir planen auch eine Briefaktion: wir werden bei den Mädchen nachfragen, ob wir ihnen einen Brief schreiben dürfen. Wir möchten dabei den Fokus eher darauf lenken, was gerade nicht so gut läuft und wann es einem nicht so gut geht. Und legen dem Brief einen frankierten Umschlag bei für die Möglichkeit uns eine Antwort zurückzuschicken.
Wie sieht Ihre Förderung und Beratung, etwa über digitale Tools, aus?
Anna Henter: Aktuell arbeiten wir mit Mail und Handy, also Anrufe und SMS. Viele Jugendliche haben keine E-Mail Adresse, E-Mail ist nicht ihr Kommunikationsmittel. Deswegen arbeitet der Verband jetzt mit Hochdruck an einem Konzept zur Nutzung von Social Media und anderen digitalen Tools.
Was bräuchten die Mädchen und Frauen jetzt?
Anna Henter: Sie bräuchten außerfamiliäre Kontakte und Nähe, persönliche Begegnungen, Unterstützung und Ansprechpartner*innen in verschiedenen Lebensbereichen, sei es Schule oder familiäre Konflikte. Es müsste live sein.
Sie bräuchten auch Austausch und Motivation dran zu bleiben, sich zum Lernen zu motivieren, nicht aufzugeben, hoffnungsvoll zu bleiben, solidarisch zu sein. Manche bräuchten konkrete Unterstützung in schulischen Angelegenheiten.
Die jungen Menschen bräuchten genügend Rückzugsräume im eigenen Zuhause, was oft mit der Wohnsituation kollidiert. Einige leben mit der ganzen Familie in Gemeinschaftsunterkünften, das sind sehr schwierige Bedingungen.
Welche Unterstützung brauchen Sie als Einrichtung, um Jugendliche in dieser Situation besser begleiten zu können?
Anna Henter: Wir wünschen uns ein größeres Handlungsspektrum. Eine Idee wäre, in größeren Räumen (z. B. Turnhallen) Gruppenangebote für Kleingruppen zu machen, z. B. eine Filmvorführung, mit Sicherheitsvorkehrungen natürlich. Es bräuchte einfach Möglichkeiten, wieder ein Gefühl der Gemeinschaftlichkeit spüren zu können.
Wichtig finden wir auch, dass die Jugendlichen die Balance halten zwischen digitalen Angeboten und anderen Tätigkeiten nachzugehen.
Welche Rahmenbedingungen würden Sie sich in der aktuellen Situation von der Politik wünschen? Welche Ressourcen benötigen Sie?
Anna Henter: Insgesamt werden wir von der Stadt Stuttgart und dem Land in dieser Zeit gut unterstützt und begleitet.
Wichtig für uns ist, dass in den Entscheidungen der Politik die Vielfalt der unterschiedlichen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mitbedacht wird. Für einige bedeuten die Schulschließungen, dass sie in der Schule leistungstechnisch zurückfallen werden, die Frage ist, wie sie das aufholen sollen. Manche haben eben nicht die Privilegien von Rückzugsorten, technischer Ausstattung und der Unterstützung von Eltern oder Geschwistern.
Danke für das Gespräch! Das Interview führte Elise Bohlen von IN VIA Deutschland
Quelle: BAG KJS