WARUM DEMOKRATIEBILDUNG IM JUGENDALTER UNVERZICHTBAR IST …aus der Sicht von Julia Schad-Heim und Robert Kläsener

Im 16. Kinder- und Jugendbericht steht das Thema „Demokratische Bildung im Kindes- und Jugendalter“ im Mittelpunkt. Die “Jugendsozialarbeit News” haben in den vergangenen Wochen ihr Augenmerk auf die Rolle, Beiträge und Handlungserfordernisse der Jugendsozialarbeit in Bezug auf demokratische Bildung gerichtet. Expert*innen und Praktiker*innen wurden gefragt “WARUM DEMOKRATIEBILDUNG IM JUGENDALTER UNVERZICHTBAR IST…”. Abschließend beantworten heute Julia Schad-Heim und Robert Kläsener Fragen von Thomas Hohenschue. Sie beschäftigen sich vor allem mit der Frage was Jugendsozialarbeit und politische Jugendbildung bei der Demokratiebildung voneinander lernen und zusammen erreichen können. Julia Schad-Heim ist Referentin für Jugendsozialarbeit und Bildung bei IN VIA Deutschland sowie im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS). Robert Kläsener ist Referent für Politische Bildung beim Sozialinstitut Kommende Dortmund und leitet eine Fachgruppe bei der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in Deutschland (AKSB). Das vollständige Interview wird in einer entsprechend längeren Version im Juni 2021 in der Zeitschrift „AKSB-inform“ erscheinen.

Sie beide engagieren sich in der „Arbeitsgruppe Demokratiebildung“. Hierbei loten Aktive aus der katholischen Jugendsozialarbeit und der katholischen politischen Jugendbildung aus, wie eine vertiefte Zusammenarbeit aussehen kann, insbesondere zur Demokratiebildung mit den Zielgruppen der Jugendsozialarbeit. Sich zu verständigen, erfordert meistens, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wie sieht das in Ihrem konkreten Fall aus?

Robert Kläsener: In der Tat ringen wir in der AG Demokratiebildung um Worte, das ist ein Dauerthema. So reden wir zwar von denselben Jugendlichen. Aber unterschiedliche Förderlogiken zwingen uns, sie anders zu betrachten. Das prägt auch unser Bild von unserem professionellen Gegenüber. Ein holzschnittartiges Beispiel, aus Perspektive der Bildner*innen: Für die Jugendsozialarbeit müssen die Jugendlichen einen Hilfebedarf haben, damit sie sich mit ihnen befassen darf. Und für uns politische Bildner*innen sollen sie junge Bürger*innen mit bereits ausgeprägten Kompetenzen sein, die wir auf dem Weg zur Mündigkeit begleiten. Noch zugespitzter gesagt: Die Jugendsozialarbeit hat eher von Defiziten auszugehen, die politische Bildung eher von Ressourcen.

Julia Schad-Heim: Unterschiedliche Förderlogiken können zu diesem vereinfachten Schema führen. Als Jugendsozialarbeitende finden wir uns so aber nicht widergespiegelt. Dazu ist das Feld zu vielfältig. Zwar beziehen sich unsere gesetzlichen Grundlagen tatsächlich eher auf Notlagen und Hilfebedürftigkeit. In der konkreten Arbeit jedoch setzen wir auf Begleitung, Empowerment, auf die individuellen Stärken der jungen Menschen, auf systemische Ansätze. So sagen viele von uns auch nicht, dass Jugendliche benachteiligt sind. Sondern wir sagen, sie werden benachteiligt. Barrieren im Zugang zur Teilhabe liegen vorrangig nicht in den jungen Menschen selbst, sondern in ihrem Umfeld, im Bildungssystem, im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.

Solche Gegenüberstellungen wirken durchaus polarisierend. Trotzdem steigen wir damit in unser Gespräch ein. Haben sie letztlich also einen konstruktiven Kern?

Robert Kläsener: Ja. Denn wenn wir miteinander über unsere Fremd- und Selbstwahrnehmungen sprechen, hilft uns das, manche Vorurteile zu überwinden. Zum Beispiel genießen wir politischen Bildner*innen bei der Jugendsozialarbeit oft den Ruf, im akademischen Elfenbeinturm zu sitzen, zu theoretisieren, ohne Alltags- und Lebensbezug, und unsere Bildungsarbeit einseitig an bürgerlichen Milieus und Gymnasiast*innen auszurichten. Ich möchte nicht bestreiten, dass es solche Ansätze in unserer breit gefächerten Trägerlandschaft auch gibt. Aber diese Beobachtung auf alle Bildungseinrichtungen hin zu verallgemeinern, ist in meinen Augen nicht richtig. Diese Konfrontation mit den Klischees hilft uns Träger und Einrichtungen der politischen Bildung, die eigene Arbeit selbstkritisch zu prüfen.

Julia Schad-Heim: Das kann ich nur unterstreichen. Nur das, über das man offen spricht und streitet, kann man auch gut einschätzen. Und so habe ich in unserem bisherigen Austausch bereits viel dazu gelernt, was meinen Blick auf die politische Jugendbildung beeinflusst. Heute weiß ich, dass es Einrichtungen wie die Kommende Dortmund gibt, die mit unseren Zielgruppen arbeiten, sehr nah an deren Anliegen, Problemen, Themen dran sind, die Jugendlichen in ihrer Resilienz und Selbstständigkeit stärken. Und umgekehrt wissen die Kolleg*innen nun, dass wir Jugendsozialarbeiter*innen durchaus Interesse an demokratischer Bildung und an gesamtgesellschaftlichen Themen haben.

Was kann aus diesem Kennenlernen und aus der Verständigung entstehen?

Robert Kläsener: Die Bundesregierung hat uns im 16. Kinder- und Jugendbericht aufgefordert, gemeinsam Lernräume für Jugendliche zu erschließen. Wir können da einiges an Potenzial und Ressourcen zusammenbringen. Zurzeit erproben wir das modellhaft z.B. in dem Vorhaben „Respekt-Coaches“. Dies ist öffentlich gefördert. Ohne diese zusätzlichen Mittel geht es nicht – institutionell ist die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Jugendbildung noch nicht verankert, da braucht es über unseren Einsatz hinaus eine neue Regelförderung.

Julia Schad-Heim: Ja, wir haben sehr viele Ideen, aber im Moment ist alles, was wir in dem Feld tun, on top auf das, was unser Regelgeschäft ist. Im Bereich der Persönlichkeits- und politischen Bildung sehe ich große Potenziale, die Arbeit in Kooperationen zu qualifizieren. Insofern setzen wir auch als einen wichtigen Baustein auf die gemeinsame Fort- und Weiterbildung von Fachkräften.

Robert Kläsener: Ich sehe auch schon heute ganz praktische Vorteile in einer verstärkten Zusammenarbeit. Die Häuser, die eine politische Jugendbildung anbieten, tun dies in der Regel in ihren Mauern. Der Zugang zur Zielgruppe kommt vor allem über Kooperationspartner*innen wie Schulen. Mit Hilfe der Jugendsozialarbeit kann sich der Zugang zu den Jugendlichen vervielfältigen. Das ist auch dringend notwendig, wenn politische Bildung nicht nur für einen exklusiven Teil der Jugendlichen beschränkt bleiben soll.

Wie kann das konkret funktionieren?

Julia Schad-Heim: Wir sind tagtäglich im Kontakt mit unseren Zielgruppen, über die vielen verschiedenen Stränge von Jugendsozialarbeit, von der Schule, der Ausbildung über Wohnheime, Jugendtreffs bis hin zu Straßen und Plätzen. Da kann die politische Bildung sicherlich von uns lernen, wenn sie mag.

Robert Kläsener: Der Meinung bin ich auch. Wir müssen raus aus den Schneckenhäusern, in denen es sich manche Kolleg*innen in den Einrichtungen gemütlich gemacht haben. Denn so erreichen wir diese Jugendlichen nicht. Wir müssen stärker von diesen her denken, als nur die Auslastung der Häuser ins Zentrum der Konzepte zu stellen. Das ist angesichts der wirtschaftlichen Nöte der Träger leichter gesagt als getan. Da muss sich etwas an den Finanzierungsstrukturen ändern, denn sie setzen falsche Anreize.

Wie geht es darüber hinaus weiter?

Julia Schad-Heim: Das Kooperationsprogramm „Respekt-Coaches“ wird fortlaufend intensiv ausgewertet, um Lehren zu ziehen zum Beispiel für eine nachhaltige gemeinsame Arbeit. Wie anfangs skizziert, stehen wir ja noch vielmals am Anfang. Es gilt, ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, zum Beispiel was Demokratiebildung für uns jeweils bedeutet. Das fängt ja schon bei der Ausgestaltung von Bildungssettings an. Wenn echte Partizipation bei der Gestaltung von Abläufen in Einrichtungen oder der Organisation gemeinsamer Aktivitäten ermöglicht wird, kann das durchaus hoch politisch sein. Bisher kam es dabei jedoch sehr auf das Engagement der einzelnen Fachkraft an, ob dieser Blick auch zum Tragen kommt. Wichtig ist natürlich hierbei den Transfer zu demokratischen Abläufen und gesellschaftlichen Herausforderungen herzustellen.

Robert Kläsener: Auch im Bereich der politischen Bildung darf es in meinen Augen nicht auf den Zufall beschränkt sein, dass es auf eine einzelne Fachkraft oder Einrichtungsleitung ankommt, ob die Gruppe der bildungsbenachteiligten Jugendlichen im Blick ist oder nicht. Wir appellieren an das soziale Gewissen der Häuser, sich hier zu engagieren, im Sinne der christlichen Werte, die uns verbinden, aber auch im Sinne der Demokratie. Letztlich müssen sich da einerseits die Fördergeber, aber auch die Träger stärker engagieren. Es ist einfacher, sich mit anderen Zielgruppen zu beschäftigen, aber es ist sehr wichtig, auch die abgehängten Bevölkerungsgruppen in den Blick zu nehmen.

Julia Schad-Heim: In diesem Sinne systematisieren wir in der AG Demokratiebildung gerade, mit welchen Herangehensweisen und Methoden wir im Feld der Jugendsozialarbeit und der politischen Jugendbildung unterwegs sind. So können wir voneinander lernen und unsere jeweilige Arbeit weiterentwickeln. Im Vorfeld der Bundestagswahlen planen wir aktuell z.B. gemeinsame Aktionen, unter den Bedingungen der Pandemie. Diese selbst erhöht den Bedarf an Demokratiebildung, denn die Jugendlichen, um die es uns geht, stehen durch die Kontaktbeschränkungen noch einmal mehr vor Schwierigkeiten. Es mangelt massiv an Beteiligung und der Beachtung ihrer Perspektiven. Viele haben das Gefühl, allein zu sein. Hier braucht es wichtige Kontrastpunkte und Angebote. Wir alle sind gefordert, diese zu liefern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Quelle: AKSB und BAG KJS – Das Interview führte Thomas Hohenschue – Kommunikationsberater

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