Von „Glücksrittern“, 1.000 Fragen und etwas Aufbruchstimmung im Bildungssystem – Das Startchancen-Programm als bildungspolitische Trendwende?

Es ist so weit: Zum 1. August 2024 werden bundesweit die ersten 2.060 Schulen im Rahmen des Startchancen-Programms gefördert. Weitere Schulen werden im Schuljahr 2025/2026 folgen. Als vermeintlich letzten formalen Akt haben die Bundesbildungsministerin und die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz am 4. Juni die Vereinbarungen für das Startchancen-Programm unterzeichnet. Eine Änderung des Finanzausgleichsgesetz zur Finanzierung des Programms ist auf den Weg gebracht.

Im Folgenden kommentiert Julia Schad-Heim, Referentin für Bildung und Jugendsozialarbeit bei IN VIA Deutschland im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. die aktuellen Entwicklungen und formuliert dringende Klärungsbedarfe für einen gelingenden Programm-Start aus Sicht der katholischen Jugendsozialarbeit.

Kein Paukenschlag, konzeptionell aber ein Schritt in die richtige Richtung

Zehn Jahre Zeit, um für einen Teil junger Menschen aus sozio-ökonomisch benachteiligtem Umfeld bessere Bildungschancen zu erlangen. Darauf zielt – verkürzt gesagt – das Startchancen-Programm. Die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems soll nachhaltig verbessert, Bildungs- und Chancengerechtigkeit erhöht und somit insgesamt die verfestigte Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland aufgebrochen werden. Hehre Ziele angesichts der Förderung von nur zehn Prozent der Schulen in Deutschland.

Immer noch hagelt es Kritik seitens der politischen Opposition sowie von Bildungsakteuren: Zu spät, zu klein, zu wenig. Sicherlich kann mittlerweile auf einen langwierigen Prozess zurückgeblickt werden, bis Bund und Länder endlich die ersten Programm-Eckpunkte im Herbst 2023 und dann die Vereinbarungen im Februar 2024 veröffentlichten. Die Unterzeichnung der Verträge und das Aufstellung der Programmarchitektur in den 16 Bundesländern musste dann im Turbo-Zeitraum bis Juni 2024 erfolgen. Abgeschlossen ist die Programmaufstellung immer noch nicht. Bis die ersten 2.060 ausgewählten Programm-Schulen mit konkreten Maßnahmen und erweitertem Personaltableau starten können, wird es weit in das kommende Schuljahr hinein dauern.

Nichtsdestotrotz: Das Programm ist da und muss in den nächsten zehn Jahren wichtige Erkenntnisse und Handlungsbedarfe liefern, um das gesamte Bildungssystem perspektivisch gerechter zu gestalten. Als wichtige Potenziale sind dabei sicherlich die Offenheit für die bedarfsgerechte Ausgestaltung des Programms vor Ort, die Anlage als „lernendes Programm“ sowie die Absicht einer tiefgreifenden Verbesserung der Zusammenarbeit von Bildungsverantwortlichen zu nennen („Kooperationsgebot“ statt „Kooperationsverbot“).

Bund und Länder scheinen nicht ganz auf derselben Spur zu sein

Im April 2024 hatte das Bundesbildungsministerium die Zivilgesellschaft zur Informationsveranstaltung zum Startchancen-Programm eingeladen. Die Initiator*innen der Bundesebene wurden nicht müde zu betonen, dass zivilgesellschaftliche Akteure „enorm“ wichtig seien. Nur so könne das Programm bestmöglich umgesetzt werden entlang der Bedarfe der Zielgruppen, d.h. der jungen Menschen aus sozial-ökonomisch benachteiligtem Umfeld. Aus der Verhandlungsgruppe der Bundesländer haben die Kultusministerien Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfahlen Vertretungen entsendet. Im Rahmen der Informationsveranstaltung betonten die Vertreter*innen der Länder jedoch, dass es sich um ein „Schulprogramm“ handele und zu hohe Erwartungen an das Programm fehl am Platz seien. Erstes Ziel sei es, die Basiskompetenzen der beteiligten Schüler*innen zu verbessern, und zwar messbar. „Allmachtsphantasien“ und das übergroße Interesse am Programm von privaten Anbietern, Vereinen und weiteren Bildungsakteuren, die wie „Glücksritter“ auftreten würden, sei nicht angebracht, so aus der Verhandlungsgruppe.

Das ist sicherlich richtig angesichts der Programmgröße. Es ist aber auch falsch angesichts des zugrundliegenden Programmkonzepts. Explizit sind individuelle Bedarfe junger Menschen, ihre gesellschaftliche Teilhabe, Motivation und die Begleitung in der Persönlichkeitsentwicklung handlungsleitende Elemente des Programms ebenso wie die sozialräumliche Arbeit. Ihre Lebensthemen und -herausforderungen wollen bearbeitet werden, damit sie nachhaltige Bildungschancen und -erfolge verbuchen können.

Hier deuten sich also erste Diskrepanzen in den Vorstellungen von Bund und Ländern an. Blickt man zudem auf die jetzige Schulauswahl ist mal mehr, mal weniger fachlich nachvollziehbar, warum bestimmte Schulen in den verschiedenen Bundesländern ausgewählt wurden. Eine bundesweite Vergleichbarkeit der angewandten Sozialindizes ist jedenfalls nicht gegeben.

Kommunikation mit freien Trägern der Jugendsozialarbeit lässt zu wünschen übrig

Die ersten Programmschulen starten zum kommenden Schuljahr. Schon jetzt gibt es aus der katholischen Jugendsozialarbeit Hinweise, in welchem Ausmaß auch Angebote der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Jugendsozialarbeit in den beteiligten Schulen vertreten sind. Hierbei handelt es sich teils um Schulsozialarbeit bzw. Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS), teils aber auch um weitere Angebote der schulbezogenen Jugendsozialarbeit, wie Präventionsprogramme und Absentismus-Projekte. Konkrete Zahlen werden hierzu aktuell von unterschiedlichen Verbänden und Trägern erhoben. So haben nicht nur die Schulleitungen selbst, sondern eben auch Fachkräfte und Träger der Jugendsozialarbeit mindestens 1.000 Fragen zur Programmgestaltung und ihrer Rolle dabei. Beispielsweise werden Befürchtungen geäußert, dass sich mit dem Startchancen-Programm Parallelstrukturen etablieren könnten. Das würde an den inhaltlichen Zielsetzungen des Programms vorbeiführen und Ressourcen verschwenden. Auch Konkurrenzsituationen und Qualitätsverluste sind zu vermeiden. Auf bestehende, bewährte Kooperationen und Angebote muss daher aufgebaut werden.

Weder in der Konzipierung des Programms auf der Bundesebene noch auf der Ebene der Länder gibt es bisher eine hinreichende Kommunikation mit dem Jugendhilfe-System. Angesicht der gleichen Zielgruppen und gemeinsamer Ziele, wie einer Verbesserung von Teilhabechancen aller jungen Menschen, muss sich das für den weiteren Programmverlauf ändern. Schule ist mehr als Schule. Sie ist ein Lern- und Lebensort für junge Menschen.

Start des Programms: Darauf kommt es jetzt an

In den nächsten Monaten werden vor Ort in und mit den Schulen sowie auf den verschiedenen Steuerungsebenen zahlreiche Überlegungen sortiert und konzeptioniert. Wenn es mit den Bedarfen der Zielgruppe junger Menschen aus sozio-ökonomisch benachteiligen Umfeld ernst gemeint ist, so müssen sie selbst in der Programmgestaltung partizipieren können. Zudem muss es zu verbindlichen Kooperationen zwischen Schulen und freien Trägern der Jugendhilfe auf verschiedenen Ebenen kommen: In den Schulen selbst sowie in Lenkungs- und Monitoring-Strukturen auf den Landesebenen sowie der Bundesebene.

Wie bereits in früheren Stellungnahmen des Deutschen Caritasverbandes (DCV) und des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit angesprochen, sind jetzt kluge und zielführende Lösungen für offene Fragen anzustreben:

  • Wie kann Partizipation junger Menschen in der Programmgestaltung über verbindliche Beteiligungsverfahren gelingen?
  • Wie kann an bestehende Angebote und Kooperationen der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit in den Programm-Schulen angeknüpft werden?
  • Wie können Parallelstrukturen neben vorhandenem Angebot in der Jugendhilfe bzw. Jugendsozialarbeit vermieden werden?
  • Wie gelingt die Kooperation zwischen Schulsystem und der freien Jugendhilfe bzw. Jugendsozialarbeit in Lenkungs- und Monitoring Strukturen?

Insofern: Das große Interesse von Bildungsakteuren aus der Zivilgesellschaft am Programm hat durchaus seine Berechtigung. Denn nun kommt es auf ein zielführendes Zusammenspiel zwischen Bildungs- und Jugendhilfesystem an. Auf diese Weise kann das Programm seine Potenziale entfalten und der Aufbruchstimmung gerecht werden.

Ob die viel zitierte bildungspolitische Trendwende gelingt, muss sich über die Programmlaufzeit beweisen. Zu hoffen ist, dass einer der zukünftigen Nationalen Bildungsberichte erstmals nicht mehr die manifeste Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland nachweisen muss.

Quelle: Es kommentierte Julia Schad-Heim, Bundesreferentin IN VIA Deutschland. IN VIA ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. Es handelt sich um eine persönliche Stellungnahme der Autor*in, die nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln muss.

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