Stellungnahmen zum 5. Armuts- und Reichstumbericht der Bundesregierung

Auszug aus der Caritas-Stellungnahme zum Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts:
“ (…) ## Chancengerechtigkeit in der Schule fördern – Um ein chancengerechtes Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen zu realisieren und die Inklusion voranzubringen, müssen Möglichkeiten für längeres gemeinsames Lernen, eine auf individuelle Förderung ausgerichtete Pädagogik sowie eine gute Kooperation verschiedener an Schulen tätigen pädagogischen Professionen gewährleistet sein. Generell sind flächendeckende Angebote im Rahmen der Schulsozialarbeit oder der schulbezogenen Jugendsozialarbeit in allen Schulformen notwendig. Darüber hinaus hat es sich als sinnvoll erwiesen, dass die Schule mit den außerschulischen Unterstützungssystemen und Einrichtungen im Wohnumfeld der Kinder und Jugendlichen kooperiert. Die Rahmenbedingungen und finanzielle Ausstattung für diese Kooperationen sind zu verbessern.
## Bildungs- und Teilhabepaket weiterentwickeln – Das Bildungs- und Teilhabepaket muss bedarfsgerecht weiterentwickelt und bürokratische Hürden abgebaut werden. Dazu sollte unter anderem ein bundesweiter Globalantrag eingeführt werden. Der Schulbedarf sollte für Bezieher(innen) von Kinderzuschlag und Wohngeld ebenfalls antragsfrei gewährt werden. Die Eigenanteile bei Schülerbeförderung und Mittagessen sind zu streichen, wie auch der Bundesrat aus Gründen der Vermeidung von hohen Bürokratiekosten fordert. Die Kosten für das Schulstarterprogramm sind aus Sicht der Caritas zu niedrig angesetzt. Zudem ist der für diese Leistungen vorgesehene Betrag von derzeit 10 Euro pro Monat zu erhöhen. Ausgeweitet werden müssen auch die Fördervoraussetzungen für die Lernförderung. Diese darf nicht nur bei akuter Versetzungsgefahr eingesetzt werden, sondern muss frühzeitig greifen. (…)
## Sogenannte „entkoppelte“ Jugendliche in den Blick nehmen – Die Zahl der jungen Menschen, die weder in Ausbildung noch im Beruf stehen und durch die Angebote der Bundesagentur für Arbeit nicht (mehr) erreicht wurden, betrug laut Bericht 2014 94.000. Diese Gruppe hat auch langfristig ein deutlich erhöhtes Risiko für unzureichende Beschäftigungsfähigkeit und eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe. Mit gezielten Programmen sollen sog. „entkoppelte“ Jugendliche über niedrigschwellige sozialpädagogische Angebote erreicht werden. Für diese jungen Menschen darf nicht allein der gängige Fördergrundsatz „Fördern ohne Fordern“ gelten, sondern vertrauensbildende Angebote müssen im Mittelpunkt der Förderung stehen. Hierzu ist es dringend erforderlich, die Sondersanktionen im SGB II zu streichen. Diese führen nach Praxiserfahrungen dazu, dass sich Jugendliche aus den Hilfesystemen verabschieden und nur noch schwer zu erreichen sind. Da die jungen Menschen nicht selten in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe landen, müssen auch die Träger der Sozialhilfe entsprechende niedrigschwellige Angebote bereithalten. Zentrale Instrumente der Jugendhilfe für diese Zielgruppe sind § 41 SGB VIII (Hilfen für junge Volljährige) und § 13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit). Beide Instrumente müssen in der Praxis tatsächlich angewendet und ausgeweitet werden.
## Junge Menschen im Übergangssystem besser begleiten – Die zunehmende Komplexität der schulischen und beruflichen Wege stellt hohe Anforderungen, die nicht alle jungen Menschen erfüllen können. Viele benötigen daher Unterstützung beim Übergang von der Schule in den Beruf. Die Maßnahmen in diesem Bereich sind zwar zahlreich, erreichen aber nicht alle förderbedürftigen Jugendlichen. Um junge Menschen effektiv und passgenau unterstützen zu können, müssen sie einen – im Konfliktfall einklagbaren – Anspruch auf berufsfördernde Angebote aus dem SGB III und auf Angebote nach § 13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit) erhalten. Dies muss für alle jungen Menschen gelten, unabhängig davon, ob sie Leistungen nach dem SGB II, III, VIII oder XII beziehen. Eine koordinierte Hilfeplanung der unterschiedlichen Akteure kann nur regelhaft gelingen, wenn die gesetzliche Verpflichtung zur Kooperation in allen für die Jugendlichen relevanten Rechtskreisen verankert wird und konkret beschrieben ist. Die Caritas begrüßt die dauerhafte Verankerung der Berufseinstiegsbegleitung im SGB III, da sie ein wirksames Förderinstrument ist, um mit jungen Menschen bereits in der Schule an ihrer beruflichen Orientierung zu arbeiten. (…) Die künftig erforderliche Kofinanzierung stellt jedoch ein Risiko für den Erhalt der Berufseinstiegsbegleitung an den aktuellen Schulstandorten dar. Angesichts der aktuellen Ausbildungsbilanz mit einer zunehmenden Spaltung des Ausbildungsmarktes und wachsenden Passungsproblemen begrüßt der DCV die gesetzliche Einführung der Assistierten Ausbildung als ein wichtiges Angebot. Durch intensive Begleitung und Unterstützung junger Menschen vor und während der Ausbildung fördert die Assistierte Ausbildung berufliche und somit auch gesellschaftliche Teilhabe. Allerdings muss sie konzeptionell auf die individuellen Bedarfe der jungen Menschen flexibel reagieren können und gleichzeitig den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Betriebe gerecht werden. Eine kontinuierliche Finanzierung von Berufsorientierung und Berufseinstiegsbegleitung muss sichergestellt werden, um jungen Menschen bereits in der Schule verlässliche berufliche Orientierungsangebote zu eröffnen. Die Caritas fordert zudem eine Evaluation der Assistierten Ausbildung und eine Weiterentwicklung des Instruments im Hinblick auf eine flexiblere und individuelle Ausgestaltung. Umsetzungsprobleme im Rahmen der öffentlichen Ausschreibungen müssen durch konzeptionelle Anpassungen behoben werden.
## Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss – Die Bundesregierung beschreibt im Bericht ausführlich den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen. Dieser Zusammenhang hat sich laut Bericht etwas verringert, ist aber weiterhin deutlich ausgeprägt. (…) Es wird die Frage außer Acht gelassen, wie man verhindern kann, dass Jugendliche die Schule ganz ohne Abschluss verlassen. Die Zielgruppe der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss wird erst bei der Fragestellung nach dem Übergang von der Schule in Beruf in den Blick genommen – also wenn es zu spät ist, den Schulabschluss im allgemeinen Schulsystem zu erreichen. Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss haben ein hohes Risiko später arbeitslos zu werden oder im Niedriglohnbereich zu arbeiten. So ist auch ihr Armutsrisiko sehr hoch. Es muss also erklärtes Ziel einer armutsvorbeugenden Politik sein, dass möglichst viele Jugendliche zumindest den Hauptschulabschluss erreichen. (…) Sie sind mehr als doppelt so häufig von Ausbildungsabbrüchen betroffen wie Auszubildende mit Hochschulzugangsberechtigung. 13 Prozent der 20- bis 29-Jährigen haben keine abgeschlossene Ausbildung. Die Arbeitslosenquote dieser Gruppe liegt mit knapp 20 Prozent deutlich über dem Gesamtdurchschnitt von ca. sieben Prozent. (…)“

Auszüge aus der Stellungnahme des Paritätischen zum Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts:
“ (…) ## Der Berichtsentwurf räumt ein, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft erheblich zugenommen hat: „Die Ungleichheit der Markteinkommen in Deutschland ist ab Mitte der 1990er Jahre und verstärkt in der ersten Hälfte der 2000er Jahre deutlich angestiegen“. Er stellt diese Entwicklung jedoch als eine weitgehend überwundene Entwicklung dar, die zudem durch das Sozial- und Steuersystem abgeschwächt werde. Damit wird der bestehende Handlungsbedarf nicht nur deutlich zu gering bemessen, es fehlen auch konkrete Vorschläge zur nachhaltigen Bekämpfung von Armut und Ungleichheit.
## Die Armutsquote gemessen an 60 Prozent des Medianeinkommens ist ein möglicher Armutsindikator – aber ein bedeutender. Der Berichtsentwurf versucht an verschiedenen Stellen, die Bedeutung der Armutsquote zu relativieren, (…). Detaillierte Zahlen zur allgemeinen Armutsquote finden sich erst ab Seite 544 im Berichtsentwurf. Angesichts einer bundesweiten Armutsquote von aktuell 15,7 Prozent wäre eine deutliche Zuspitzung und eindeutige Bewertung unter Berücksichtigung aller aktuellen Fakten zu erwarten gewesen. Der Paritätische fordert, dass die herausragend hohen Armutsquoten etwa bei Alleinerziehenden und Erwerbslosen auch im Berichtsteil unter Beachtung aller Fakten angemessen berücksichtigt werden, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, der Berichtbeschönige die tatsächliche Situation.
Im Berichtsentwurf wird argumentiert, eine bundeseinheitliche Armutsquote berücksichtige Kaufkraftunterschiede nicht. Die Argumentation nimmt dabei positiv auf Arbeiten des Instituts der Deutschen Wirtschaft Bezug. Der Paritätische hält diese Bezugnahme für methodisch unzulässig. Die im Berichtsentwurf zitierte Studie des IW aus 2016 beruht auf einer Pilotstudie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), die lediglich explorativen Charakter hat, nur einen Teil der Konsumausgaben privater Haushalte einbezieht und sich auf Preisangaben aus den Jahren 2006 bis 2008 sowie zum Teil noch ältere Angaben stützt. Die Studie arbeitet auch mit einem einheitlichen Warenkorb für alle Haushalte und berücksichtigte dabei die erheblich divergierenden Ansätze zwischen Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen sowie der unterschiedlichen Ausgabenzwischen Stadt und Land (z.B. weniger Ausgaben für Miete, mehr für Mobilität) nicht. Der Berichtsentwurf stützt sich damit auf Daten, die nicht valide sind.
## Abgesehen von einer Aufzählung von sozialpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung enthält der Bericht nahezu keine konzeptionellen Hinweise zur Bekämpfung von Armut, (…).
## Der Bericht zeigt, wie weit die Bundesregierung davon entfernt ist, das Ziel der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen, die im September 2015 von 193 Staats- und Regierungschefs angenommen wurde, zu erreichen. Deutschland hat sich dabei verpflichtet, „bis 2030 den Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition leben, mindestens um die Hälfte (zu) senken“ (Ziel 1.2). Fakt ist, dass die Armutsquote seit 2010 von 14,5 Prozent auf 15,7 Prozent (Statistisches Bundesamt: Mikrozensus) kontinuierlich gewachsen ist. (…)
## In keiner Weise ausreichend ist die Einbeziehung der Perspektive von Armut betroffener Menschen. So fand im Zuge der Erarbeitung des Berichts lediglich am 7. Oktober 2015 ein einziges Treffen mit von Armut betroffenen Menschen statt, und auch dieses nur auf eine Initiative der Nationalen Armutskonferenz (NAK), (…). Der Paritätische fordert, die Perspektive der von Armut betroffenen Menschen mit in den endgültigen Berichtstext einzubeziehen, wie es – etwa im Sozialbericht des Landes NRW – ganz selbstverständlich geschehen ist.
## Skandalös ist, dass der Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts das erhebliche Ausmaß an „verdeckter Armut“ und die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen an keiner Stelle thematisiert, obwohl deren Ausmaß ein wesentlicher Indikator für die Wirkung sozialstaatlicher Maßnahmen, für den Erfolg von Prävention und erfolgreiche Armutsbekämpfung ist. Es zeugt von armutspolitischer Ignoranz, das Ausmaß der Nichtinanspruchnahme, das nach seriösen Analysen bei etwa 40 Prozent liegt, gänzlich unerwähnt zu lassen.
## Der Entwurf des Armuts- und Reichtumsberichts zeigt auf, dass die
Langzeitarbeitslosigkeit seit dem Jahr 2009 nicht mehr zurückgegangen ist und auf dem Niveau von rund einer Million Menschen verharrt. Nach Auffassung des Paritätischen haben die in den letzten Jahren erfolgten massiven Kürzungen der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Chancen der Betroffenen auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt bzw. auf Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit deutlich verringert. Die Jobcenter haben im Jahr 2015 nur rund jeden zwölften erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme gefördert. (…)“

Quelle: Deutscher Caritasverband; Der Paritätische

Dokumente: 5_NARB_Caritas_DCV_Stellungnahme.pdf

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