Situation von Kindern und Jugendlichen in Erstaufnahmeeinrichtungen

Im Auftrag von UNICEF hat der Bundesfachverband unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (Bumf) einen Bericht zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften erstellt. Der Bericht analysiert die aktuellen Gesetzesänderungen und beleuchtet die Lebenssituation der jungen Geflüchteten. In Folge der hohen Zugangszahlen im Jahr 2015 haben sich die Zeiten des prekären Aufenthalts in Not- und Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) massiv verlängert. Die oft monatelangen Wartezeiten bis zur Registrierung und Antragsstellung verlängern die Zeiträume des unsicheren Aufenthalts und Verzögern die Integration in die kommunalen Systeme wie etwa die Regelschule. Die rechtlichen Änderungen in 2015 verstärken zudem für Kinder und Jugendliche, denen eine geringe Bleibeperspektive unterstellt wird, die unsichere Aufenthaltssituation und führen zugleich zu neuen umfassenden Formen der Ausgrenzung. Die unübersichtliche und sich wandelnde Gesetzeslage schafft zusätzliche Handlungsunsicherheit und trägt zur Überforderung engagierter Akteur/-innen bei. In diesem Kontext finden Bedürfnisse und Rechte Minderjähriger kaum Beachtung. Der Bericht bezieht sich auf den Zeitraum November 2015 bis Januar 2016.

Auszüge aus dem Bericht „Factfinding zur Situaton von Kindern und Jugendlichen in EAE und Notunterkünften“:

„(…) Einschätzung zu allgemeinen Tendenzen in den Gesetzesänderungen (…)

  • Seit September 2015 werden in der Bundesregierung sogenannte „Maßnahmepakete Asyl“ beschlossen. Im Unterschied zu anderen Gesetzgebungsverfahren werden nicht nur einzelne Bereiche geändert, sondern umfassende Rechtsänderungen in Bezug auf Flüchtlinge vorgenommen. Hierbei werden in vielen Lebensbereichen Sonderregelungen für Flüchtlinge eingeführt.
  • Es wird dabei zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen unterschieden. Dabei gibt es eine pauschale Schlechterstellung von Flüchtlingen aus Staaten, in denen angenommen wird, dass dort Sicherheit vor Verfolgung besteht: Dies umfasst neben den „sicheren Herkunftsstaaten“ auch Staaten mit angenommenen inländischen Fluchtalternativen und Staaten mit angenommenen sicheren staatlichen Strukturen. (…)
  • Die Schlechterstellung schließt die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien von Integrationsmöglichkeiten aus und erschwert eine Aufenthaltsverfestigung. Besonders bedenklich ist dabei die Einführung von Schnellverfahren in Kombination mit der Unterbringung in Sonderlagern, wodurch Flüchtlingskinder und ihre Familien sowohl rechtlich als auch räumlich von fairen Asylverfahren und essentiellen Grund- und Kinderrechten ausgeschlossen zu werden drohen.
  • Ziel und Ausrichtung der laufenden und beschlossenen Gesetzgebungsverfahren ist die
    Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Als Folge dessen werden die Neuregelungen so gefasst, dass sie eine vereinfachte Rückschiebung in Fluchtregionen und in andere europäische Staaten ermöglichen und die Lebensbedingungen für „unerwünschte“ Schutzsuchende verschlechtert werden, in der Hoffnung, dass diese „freiwillig“ ausreisen.
  • Dabei bieten immer wieder gesellschaftspolitisch erschütternde – wie medial präsente Ereignisse den Anstoß für massive Gesetzesverschärfungen, welche zuvor in der Regierung umstritten waren. Bedenklich ist dabei eine zunehmend an tagespolitischen Ereignissen orientierte Gesetzgebung mit weitreichenden Folgen für Bürger-, Gleichheits- und Freiheitsrechte in Europa. (…)

Fehlender Zugang zu Bildung, Betreuung und externen Angeboten

Bis zur Einschulung vergehen Berichten aus den Kommunen zufolge oft mehrere Monate, die Schulpflicht wird z.T. durch die Teilnahme an Sprachkurse als erfüllt betrachtet. In einer Notunterkunft in Berlin waren im November 2015 bspw. von ca. 180 Kindern nur etwa 40-50 beschult. Am dramatischsten ist die Situation in den sogenannten „Balkan-Sonderlagern“ in Manching und Bamberg (Bayern). Hier berichtet der Bayerische Flüchtlingsrat, dass Kinder zunächst nicht beschult wurden, obwohl sie z.T. schon 7-8 Monate in Deutschland lebten.

Mittlerweile erhalten die Kinder in einrichtungsinternen Großklassen mit bis zu 45 Personen eine Art „Beschulung light“ ohne Deutschspracherwerb. Die wenigen Kinder die bereits kommunale Schulen in Manching und Bamberg besuchen, sollen diese nun wieder verlassen. Bayern plant darüber hinaus, die Schulpflicht abzuändern, so dass erst nach der Erstaufnahme eine Pflicht besteht. Dies ist in Hinblick auf die Sondereinrichtungen für Balkan-Flüchtlinge extrem problematisch, da ggf. dauerhaft nicht-schulpflichtige Kinder dort leben werden.

In den untersuchten Notunterkünften gehen die Kinder bis auf wenige Ausnahmen nicht in die Schule, u.a. da die Sozialarbeiter/-innen bei den kurzen Kostenübernahmen von z.T. nur zwei Wochen den langwierigen Prozess der Anmeldung in den Schulen gar nicht erst beginnen. In der Berliner Traglufthalle gingen im Dezember 2015 bspw. von etwa 50 Kindern zwischen sechs und 18 Jahren nur zwei in die Schule, bei vier weiteren liefen Gespräche. In Tempelhof gingen im Dezember 2015 vier von etwa 600 Kindern zur Schule. Der Bildungs- und Betreuungszugang wird somit in EAE und Notunterkünften insbesondere im Rahmen der Registrierungs-Phase strukturell verhindert. (…)

Es zeichnet sich zudem eine Favorisierung des Aufbaus externer Strukturen in Not- und Erstaufnahmen anstatt der Integration in das Regelschulsystem ab. Insofern kindgerechte Unterstützung, Informationen und Angebote vorhanden sind, werden sie häufig ehrenamtlich bzw. von nicht speziell qualifiziertem Personal organisiert und beziehen sie sich auf den Alltag in der Massenunterkunft. Angebote und „Brücken“ nach außen sowie die Integration in reguläre Strukturen der Jugendhilfe und die Anbindung vor Ort fehlen meist. (…)

Teilhabe

Das Thema der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe sollte sich nach Maßgabe der UN-Kinderrechtskonvention durch alle aufgeführten Themen (Gesundheit, Bildung, Freizeitgestaltung etc.) ziehen, taucht jedoch kaum auf. Vielmehr scheinen geflüchtete Kinder und Jugendliche weitgehend in die Strukturen der Notunterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen eingeschlossen zu sein. Spezifische Angebote sind häufig ehrenamtlich organisiert und beziehen sich auf den Alltag in der Massenunterkunft. (…)

Die Frage nach sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe stellt sich in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen. Dennoch gibt es auf dem Land spezifische strukturelle Formen der Ausgrenzung von Teilhabe, wie bspw. fehlende Infrastruktur. So berichtete der Flüchtlingsrat Sachsen Anhalt von einer Familie, die den Ort der Unterbringung kaum verlassen kann, da es vor Ort nur einen Rufbus gibt, der nur auf Deutsch bestellt werden kann.

Ein ortsunabhängiger Faktor für Teilhabe ist Internetzugang, welcher für den Kontakt zu Familie und Freunden, für Übersetzungen und Informationen, Hausaufgaben und Schule gerade für Flüchtlingskinder essentiell ist. Nach einer Information von netzpolitik.org hatten im ersten Halbjahr 2015 nur 15% der Unterkünfte Internetzugang, bundesweite Regelungen fehlen und seit Jahren sind es hauptsächlich ehrenamtliche Initiativen, die sich für die nötige Netz-Infrastruktur einsetzen.“

Quelle: Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e. V.

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