Expertise zur Situation ausgegrenzter Jugendlicher

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) legt eine Expertise zur Situation ausgegrenzter Jugendlicher vor: Jugend braucht eine Zukunft – doch wie es heute um die jungen Menschen und ihre Zukunftschancen bestellt ist, ist unklar. Es existieren kaum einheitliche oder aktuelle Daten. Nach den Erfahrungen der Jugendsozialarbeit in katholischer Trägerschaft nimmt der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener, die von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen und von Armut betroffen sind, zu. Vor allem die bisherige Datenlage, aber auch die Erkenntnisse zu den Motiven und Hintergründen ausgegrenzter Jugendlicher am Übergang Schule – Beruf, sind aber unbefriedigend. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) wurde daher mit der Erstellung einer Expertise beauftragt. Die Forscher kommen aufgrund einer explorativen Erhebung zu dem Schluss, dass mindestens 80.000 junge Menschen am Rande unserer Gesellschaft leben und von Teilhabe ausgeschlossen sind. Zur Vermeidung von Exklusion muss die Integrationsleistung des Bildungswesens deutlich erhöht werden. Hinsichtlich strukturell angelegter Ausgrenzungsverfahren ist die derzeitige Sanktionspraxis junger Erwerbsloser im SGB II zu überdenken.

Viele Veränderungen in der Jugendphase erhöhen das Exklusionsrisiko

Etwa seit Beginn der letzten Dekade vollzieht sich in Deutschland ein weitreichender Strukturwandel der Jugendphase, der sich einerseits in einer „doppelseitigen Ausdehnung“ (Ferchhoff 2011: 96) – verlängerten Bildungswegen sowie verspäteter Ablösung vom Elternhaus – widerspiegelt. Andererseits treten zunehmende Unsicherheit und Unübersichtlichkeit von Wegen ins Erwachsenenalter auf, die durch den Wandel der Arbeitswelt sowie einen Rückzug des Sozialstaates mit bedingt sind (Kieselbach et al. 2006). Die Folge sind gestiegene Exklusionsrisiken auf dem Übergangsweg von der Schule ins Erwerbsleben. Die Intention des vorliegenden Projektberichts ist es, die Situation ausgegrenzter Jugendlicher bzw. junger Erwachsener anhand einer recherchierten Datenlage sowie eigener primär erhobener Befunde empirisch näher zu beschreiben.

Fazit der Expertise „Situation ausgegrenzter Jugendlicher – Expertise unter Einbeziehung der Praxis“ von Frank Tillmann und Carsten Gehne:

Exklusionsprozessse sind bereits im Bildungssystem angelegt

„(…) Über die Befragung von Fachkräften der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe konnte ein umfangreiches Praxiswissen abgebildet und zur Betrachtung solcher Fassetten der sozialen Realität genutzt werden, die sich nicht in prozessproduzierten Daten der öffentlichen Statistik widerspiegelt. So konnten auf der Grundlage konkreter Problemsichten und Wirkungszuschreibungen verallgemeinernde Aussagen über Ausgrenzungsphänomene gewonnen werden. Die zentrale Bedeutung fehlender Bildungsressourcen als Ausgrenzungsrisiko legt dabei nahe, dass Exklusionsprozesse bereits im Bildungssystem angelegt sind.

Die (…) Ausgrenzungsrisiken liefern ein Bild von Exklusionsmechanismen, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Komplex aus selbstbeeinflussten und strukturell angelegten Bedingungsfaktoren bestehen. Besonders kritisch muss hierbei die Sanktionierungspraxis bei jungen Erwerbslosen gesehen werden, die ein Dasein unterhalb des Existenzminimums und damit ein Abrutschen in verschärfte Ausgrenzung in Kauf nimmt, indem sie jungen Klientinnen und Klienten eine zugeschlagene der Tür zur Solidargemeinschaft signalisiert.

Die Befunde zeigen, dass Jugendliche häufiger riskante und kurzzeitige Problemlösungsstrategien wahrnehmen als auf Angebote der Jugendhilfe zurückzugreifen. Dabei scheint zuzutreffen, dass sowohl strukturelle als auch subjektiv beeinflussbare Faktoren den Beginn von Exklusionsprozessen bilden, die Re-Integration jedoch seitens der Jugendlichen durch ihr destruktives Problemlösungsverhalten (selbstexklusiv) jedoch enorm erschwert wird. Dies demonstriert einerseits die gesellschaftliche Brisanz dieser stark exkludierten Bevölkerungsgruppe, weist aber andererseits darauf hin, dass die Jugendhilfe diese Zielgruppe noch stärker in den Blick nehmen muss. Auch die Mithilfe eines kleinen Ausschnitts der Jugendhilfepraxis ermittelte Schätzung von bundesweit ca. 80.000 jungen Menschen, die aus sämtlichen institutionellen Kontexten herausgefallen sind, wirft ein Licht auf den erheblichen sozialpolitischen Handlungsbedarf.

Handlungsansätze

Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse stellen sich in Bezug auf die Verminderung struktureller Exklusionsrisiken auf der einen und eine Verbesserung der Zugänge zu exkludierten Jugendlichen andererseits dringende Aufgaben. Insgesamt wurde deutlich, dass es sich bei den bestehenden Ausgrenzungserscheinungen junger Menschen um ein permanentes Problem handelt, das jedoch vielfach mit zeitlich und regional begrenzten projektförmigen Integrationsmaßnahmen bearbeitet wird. Hierbei ist unübersehbar, dass es in diesem Handlungsfeld institutionalisierter Lösungen und Hilfesysteme erfordert.

Zur Eindämmung bestehender struktureller Gefährdungspotenziale muss einerseits die Integrationsleistung des Bildungswesens wesentlich erhöht werden. Nach Einschätzung der Praktiker/-innen sind hier Ansätze einer individuellen Lernbegleitung erfolgversprechend, die zu einer überregionalen und verstetigten Hilfestruktur ausgebaut werden müssten. Dabei sollten sich die individuellen Lernbegleitungen nicht wie bisher vorrangig auf den beruflichen Bereich erstrecken, sondern bereits stärker im frühen Schulalter Angebote unterbreiten. (…)

Hinsichtlich strukturell angelegter Ausgrenzungsgefahren sollte außerdem die derzeitige Sanktionierungspraxis junger Erwerbsloser im SGB-II-Bereich grundsätzlich überdacht werden. Denn es ist davon auszugehen, dass vielen Jugendlichen die Ressourcen fehlen, um solche Hilfen in Anspruch nehmen zu können. Hier könnte die Jugendhilfe reguläre Formen schaffen, bei denen Alimentierungsleistungen unter sinnvollen Arrangements in Zuständigkeit der Träger der Jugendhilfe erfolgen. Auch ist deutlich geworden, dass es bei irregulär beendeten Übergangsepisoden kontinuierlicher Auffangsysteme bedarf, die an solchen vulnerablen Punkten unterstützend eingreifen. Darüber hinaus sollten aufsuchende Hilfen verstärkt werden.

Forschungsdesiderate

Ausgrenzungsphänomene, die sich am Rande der Gesellschaft vollziehen, befinden sich derzeit weitgehend außerhalb der Beobachtung durch sozialwissenschaftliche Forschung. Aus der vorliegenden Untersuchung ergeben sich daher folgende Anschlussfragen:

  • Welche Einstellungen, Lebenssichten und Handlungspräferenzen liegen bei ausgegrenzten Jugendlichen angesichts der für sie bestehenden Spielräume vor?
  • Wie lassen sich die aus der Praxis in verallgemeinerter Form aufgezeigten Einflüsse auf der Individualebene der ausgegrenzten Jugendlichen selbst quantifizierend nachvollziehen?
  • Welche Rolle spielt das Aufwachsen in sozialen Brennpunkten für stattfindende Exklusionsprozesse?
  • Wie werden die Angebote der Jugendhilfe aus Sicht ausgegrenzter Jugendlicher wahrgenommen, und welche besonderen Anforderungen und Bedarfe sehen sie selbst?
  • Wie gestalten sich gelungene Re-Integrationswege junger Menschen aus einer Situation starker Ausgrenzung, und wie konnten sie erreicht werden? (…)

Die aufgezeigten Unzulänglichkeiten des Wissensstandes über die soziale Wirklichkeit geben einen Hinweis darauf, dass die empirische Untersuchung von fortgeschrittener Ausgrenzung unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Ansätzen und Methoden der Dunkelfeldforschung betrieben werden müsste. Dafür ist eine aufwändige längsschnittlich angelegte Grundlagenforschung erforderlich, die sich innovativer Feldzugänge und Forschungsmethoden bedient.

Quelle: BAG KJS

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