Partizipation im und mit dem Social Web – Herausforderungen für die politische Bildung

Das Institut für Medienpädagogik (JFF) legte eine im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung erstellte Expertise „Partizipation im und mit dem Social Web – Herausforderungen für die politische Bildung“ zu den Herausforderungen des Handlungsfeldes im Web 2.0 vor. Sie verfolgt das Ziel, mit Blick auf die neueren Medienentwicklungen im Social Web die Potenziale für Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Online-Medienhandelns zu eruieren.

Basis der Expertise ist dabei eine Definition von Partizipation, die soziale, kulturelle und politische Sphären umfasst und nicht auf die Unterscheidung zwischen Inklusion oder Exklusion an bzw. von Gesellschaft reduziert werden kann. Insbesondere mit Blick auf die neueren Medienentwicklungen im Social Web werden Fragen in Bezug auf die Verwirklichung von Mitsprache, Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung der Beteiligten an medialer Partizipation, insbesondere mit Blick auf Jugendliche und junge Erwachsene als Zielgruppe politischer Bildung, gestellt.

Auszüge aus der Expertise zu den zentralen Gundbedingungen sowie Thesen und Kriterien für die politische Bildungsarbeit im und mit dem Social Web:

Grundbedingungen für die politische Bildungsarbeit

„(…) Partizipation im und mit dem Social Web wird im Verständnis dieser Expertise folgendermaßen gefasst und impliziert damit bestimmte Grundbedingungen für pädagogisches Handeln:

Partizipation

  • sichert den Subjektstatus der Einzelnen und ihrer Entscheidungsmacht,
  • hat ihre Grundlage in der alltäglichen Lebensführung, in welcher Teilhabeinteresse und Teilhabefähigkeiten entwickelt werden,
  • ist verankert in der Lebenswelt der Subjekte, in der sowohl Potenziale als auch Beschränkungen liegen können,
  • nimmt Bezug auf persönliche, soziale und kulturelle Voraussetzungen und Ressourcen der Beteiligten (z.B. Entwicklungsstand und Verstehensfähigkeiten),
  • entfaltet „Wirkung“ im Sinne von Einflussnahme auf und Gestaltung von Entscheidungsprozessen,
  • ist zu differenzieren in unterschiedliche Formen der Online-Beteiligung, deren Spektrum von Mitwirkung über Mitbestimmung bis hin zur Selbstbestimmung reicht.

Die Qualität von Partizipation ist über die Möglichkeiten und Grenzen zu bestimmen, die sich in den Angebotsformen differenzieren lassen, und zwar in Bezug auf

  • Zugangsmöglichkeiten,
  • Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten (z.B. Kommunikationskanäle),
  • Reichweite der Entscheidungen,
  • Transparenz,
  • notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Social Web-Angeboten. (…)

Thesen für die politische Bildungsarbeit

Partizipationsprojekte im und mit dem Social Web müssen sich der Frage stellen, wie die Prinzipien der Orientierung am Subjekt und seinen Ressourcen im Rahmen handlungsorientierten Lernens umgesetzt werden können. Dabei werden unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Herausforderungen offenkundig, die in Form von fünf Thesen zusammengefasst werden:

  • Politische Bildung im Social Web muss Individualisierungstendenzen im Medienhandeln aufgreifen und hinterfragen. (…)
  • Die kommerziellen Entwicklungen im Social Web müssen von der politischen Bildung als Thema aufgegriffen werden und zugleich muss politische Bildungsarbeit nicht-kommerzielle Alternativen bereithalten. (…)
  • Transparenz durch den Einsatz digitaler Dienste ist zum einen Voraussetzung für die Realisierung von Partizipation, birgt zum anderen aber auch die Gefahr der Kontrolle über die Beteiligten. Dieses Spannungsfeld muss von politischer Bildung berücksichtigt und für ihre Zielgruppen erfahrbar gemacht werden. (…)
  • Prozesse der Entgrenzung von öffentlichen und privaten Sphären müssen Gegenstand politischer Bildungsarbeit werden. (…)
  • Projekte der politischen Bildungsarbeit müssen sich am normativen Ziel, den Beteiligten möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen, messen lassen. (…)

Kriterien für Partizipationsprojekte im und mit dem Social Web

Pädagogische Partizipationsprojekte, deren Leitlinien handlungsorientiertes Lernen und Ressourcenorientierung bilden und die sozialräumliche Aneignungsprozesse von Heranwachsenden berücksichtigen, ermöglichen es, Heranwachsende in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen zu begleiten, um gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. (…) Bei der politischen Arbeit im Social Web haben diese Leitlinien weiterhin Gültigkeit. Geschärft werden müssen aber die Kriterien, an denen Projekte der politischen Bildungsarbeit zu messen sind, die sich dieser medialen Werkzeuge bedienen. (…)

1. Partizipationsprojekte brauchen ein klares Profil.

Zentral ist für die Bestimmung der Projektziele zunächst eine Verortung im Spektrum an Partizipationsformen Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung. Dabei muss auch geklärt werden, ob und in welcher Form auf Social Web-Angebote eingegangen wird und ob und wie sie im Rahmen des Projekts eingesetzt werden (…). Der Charakter der eingebundenen medialen Strukturen muss von Anfang an geschärft werden, um Klarheit darüber zu haben, in welcher Art und Weise Partizipationsräume geschaffen werden. Dabei gilt es folgende Fragen zu klären:

  • Dienen Medien als Präsentationsfläche für bestimmte Aktionen?
  • Sind sie Werkräume für die Arbeit mit Heranwachsenden, in denen eine diskursive Auseinandersetzung und/oder die Produktion eigener Werke stattfindet?
  • Soll die Vernetzung zwischen den Nutzenden im Vordergrund stehen, also der Interaktion zwischen den Beteiligten Raum gegeben werden? (…)

2. Partizipationsprojekte müssen sich an den Aneignungs- und Handlungsweisen der Einzelnen in ihren Sozialräumen orientieren.

Das Wissen über die Aneignungs- und Handlungsweisen der Einzelnen in ihren Sozialräumen ist (weiterhin) Voraussetzung, um Projekte der politischen Bildungsarbeit zu konzipieren und umzusetzen. Für Partizipationsprojekte bedeutet dies, sich differenziert mit den anzusprechenden Zielgruppen und ihrem Medienhandeln zu beschäftigen. Medienhandeln erweist sich als sozial strukturiert und ist eng mit kulturellen Milieus und ihren spezifischen Ausdrucksformen, wie z.B. in bestimmten jugendkulturellen Szenen, verbunden. Umso wichtiger ist eine fundierte Auseinandersetzung mit der anvisierten Zielgruppe und

  • ihren Themen und Interessen sowie den damit verbundenen Motivlagen,
  • den medialen und nicht medialen Interaktions- und Kommunikationsformen in ihren Sozialräumen, vor allem im Peer-to-Peer-Kontakt,
  • den von ihnen gewählten produktiven Ausdrucksweisen (z.B. Videos oder Fotos) sowie
  • ihren ästhetischen Ansprüchen an die mediale Aufbereitung und Gestaltung von Themen.

Die Verwobenheit von On- und Offline-Interaktionen bedeutet, dass Sozialräume zunehmend über Social Web-Angebote, insbesondere Soziale Netzwerkdienste, von den Heranwachsenden strukturiert werden. Ihre Handlungspraktiken im Alltag sind es, die zunächst den Maßstab für den Einstieg in politische Bildungsarbeit setzen, um sie in der medialen Artikulation ihrer Interessen und Belange zu unterstützen und zu begleiten. (…)

3. Partizipationsprojekte müssen Resonanzräume schaffen, damit Jugendliche Anerkennung und Wirksamkeit erfahren.

Die Artikulation von Interessen und Belangen impliziert deren Veröffentlichung. Sich Gehör zu verschaffen für seine Anliegen ist aber ein schwieriges Unterfangen, da mit dem Prinzip, dass im Social Web potenziell jede/r senden und empfangen kann, es auch schwieriger geworden ist, Öffentlichkeit(en) anzusprechen und zu erreichen. Damit Partizipationsprojekte sich nicht nur mit einem „So-tun-als-ob“ begnügen, bei dem Partizipation auf einer Spielwiese erprobt wird, sondern die Stimmen der Jugendlichen auch gehört werden und sie die Wirksamkeit ihres Handelns erfahren können, sind Resonanzräume erforderlich. Diese Resonanzräume müssen in Projekten politischer Bildungsarbeit bewusst gestaltet werden, dabei sind insbesondere die Spezifika der Social Web-Angebote, z.B. Feedback-Kanäle, kooperative Arbeitsweisen etc. in den Blick zu nehmen. (…)

4. Partizipationsprojekte müssen ihre Unterstützungsleistungen differenzieren, die sie über medial gestützte Strukturen anbieten.

Heranwachsende erfahren vielfältige Unterstützung über ihre Peergroup und insbesondere in Sozialen Netzwerkdiensten in Form von sozialer Einbettung, Erleben von Kompetenz und Erfahrung von Autonomie. Für Partizipationsprojekte ist es wichtig, Unterstützung im Peer-to-Peer-Kontext als auch angeleitete oder mediale Unterstützungsangebote zu differenzieren. (…)

Information, Hilfestellungen und Materialien sind dabei ein wichtiger Bestandteil, um thematische Anknüpfungspunkte zu bieten. Zentral ist aber, die Beteiligungsmöglichkeiten zu differenzieren und je nach Zielstellung des Projekts ihren Einsatz zu überlegen. Die Kategorien der Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung sollten dabei leitend sein. Je nach Vorerfahrungen brauchen Jugendliche Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für ihre Fragen. Insbesondere Gleichaltrige werden dabei besonders geschätzt. (…) Insbesondere jene Jugendlichen, die weniger Erfahrung mit Social Web-Angeboten mitbringen, brauchen gezielte Unterstützungsangebote

  • zu den Zielen des Projekts,
  • zur Erläuterung der Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und
  • dazu, wie sie ihre Ansprechpersonen bei Fragen finden können.

5. Partizipationsprojekte müssen die Rollen der beteiligten pädagogischen Fachkräfte reflektieren.

Partizipationsprojekte, die in den Strukturen des Social Web durchgeführt werden, stellen auch Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte und ihre Medienkompetenz. Eine Orientierung an der Selbstbestimmung aller Beteiligten eines Projektes impliziert dabei auch, dass die pädagogischen Fachkräfte bestimmte Aufgaben abgeben oder zumindest arbeitsteilig mit anderen Beteiligten realisieren können/müssen. Dies ist insbesondere in zwei Bereichen denkbar bzw. im Sinne der Förderung von Selbstbestimmung und einer Partizipationskultur geradezu notwendig: (gegenseitige) Unterstützung und Bereitstellen von Information. (…)

Heranwachsenden die Rolle von Expertinnen und Experten zuzuerkennen, hat zur Folge, dass die Fachkräfte den Teilnehmenden größere Handlungsräume gewähren müssen. Für sie bedeutet bspw. die Abgabe von Souveränität über die Inhalte einen „Kontrollverlust“, der für die beteiligten Heranwachsenden mehr Selbstbestimmung und damit verbunden auch mehr Verantwortung im pädagogischen Prozess mit sich bringt. Diese Veränderung der Rollen im pädagogischen Prozess kann das Projekt an sich „demokratisieren“ und ermöglicht zugleich vielfältige Lernprozesse im Hinblick auf Autonomieerfahrungen und Selbstwirksamkeit als wichtige Bedingungen für Teilhabeinteresse und Teilhabefähigkeiten. Dies impliziert allerdings auch, Ressourcen bereitzustellen, mit denen haftungsrechtliche Fragen gelöst werden können (z.B. regelmäßiges „Screening“ der Inhalte).“

Die Autoren der Expertise sind Ulrike Wagner, Peter Gerlicher und Niels Brüggen.

Quelle: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis

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