Kindergrundsicherung: Bundesregierung und Parlament müssen dringend nachbessern

Die Pläne der Bundesregierung für eine Kinder- und Jugendgrundsicherung sind eine Enttäuschung. Als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. äußert Dr. Stefan Ottersbach Kritik und formuliert Erwartungen aus Sicht der Jugendsozialarbeit.

„Jede und jeder soll das eigene Leben frei und selbstbestimmt gestalten können. Aber die Chancen sind nicht für alle gleich verteilt. […] Wir wollen Familien stärken und mehr Kinder aus der Armut holen. Dafür führen wir eine Kindergrundsicherung ein“, schrieben die Regierungsparteien in ihren Koalitionsvertrag. Bei allen, die mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen arbeiten, die Ideen und Erwartungen an eine Grundsicherung entwickelt hatten, entstand Hoffnung. Die wurde bereits durch den Streit zwischen Bundesfinanzminister Christian Lindner und seinen Parteikolleg*innen mit Bundesjugendministerin Lisa Paus und den Grünen über die Finanzierung auf eine harte Probe gestellt. Sie wurde durch den Gesetzentwurf und den Kabinettsbeschluss arg strapaziert. Weil die Hoffnung jedoch zuletzt stirbt, blicken wir nun auf die parlamentarische Debatte.

Höhe der Transferleistungen muss die Lebensrealität junger Menschen abbilden

Die Höhe der geplanten Transferleistungen reicht aus unserer Sicht nicht aus. Die Neuorganisation und Namensänderung von Leistungen bringen armen Familien und den Kindern und Jugendlichen keine Sicherheit vor Armut; ganz zu schweigen von der Chance, die Armut hinter sich zu lassen. Statistiken als Berechnungsgrundlage können Orientierung geben. Aber sie müssen bewertet und mit der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen abgeglichen werden. Wir fordern deswegen eine Kommission, die regelmäßig eine angemessene Höhe von Leistungen empfiehlt. Als Beispiel kann die Mindestlohn-Kommission dienen. In der Grundsicherung-Kommission müssen unbedingt junge Menschen mitwirken und Fachkräfte aus der Jugendsozialarbeit.

Die digitalen Vorhaben zur Grundsicherung klingen innovativ: Ein Check, der auf alle notwendigen Daten und Dokumente bei unterschiedlichen Behörden zugreift, den Anspruch berechnet und ermuntert, die Ansprüche geltend zu machen – der Staat wird zum Dienstleister. Leider bleibt es beim Check. Für einen Antrag müssen Leistungsberechtigte bedauerlicherweise doch durch die Mühlen der Bürokratie, müssen Daten und Dokumente eigenständig zusammentragen und auf Papier einreichen. Abgesehen davon sind digitale Zugänge und Hardware gerade in armen Haushalten, vor allem mit mehreren Kindern und Jugendlichen, nicht selbstverständlich. Der richtige und zukunftsweisende Ansatz wird ad absurdum geführt. Absurd ist zudem die kurze Bewilligungsdauer von einem halben Jahr, in dessen Folge Prüfung und Antrag erneut notwendig werden.

Stigmatisierung Hilfebedürftiger Menschen unterlassen

Verärgert sind wir darüber, dass für Kinder von Geflüchteten nicht die gleichen globalen Kinderrechte in Deutschland umgesetzt werden. Geflüchtete Kinder und Jugendliche sollen laut Gesetzentwurf weder Zusätze noch Sonderzahlungen bekommen. Sie werden damit diskriminiert – ausgerechnet in einer Sozialreform. Das ist eine Schande für ein Land, das seinen Reichtum aus internationalem Handel und globalen Lieferketten mehrt. Latent nehmen wir in der Debatte wahr, dass bei einigen Akteuren generell ein stigmatisierender Blick auf diejenigen Menschen herrscht, deren Perspektiven mit einer Kinder- und Jugendgrundsicherung verbessert werden sollen. Das äußert sich zum Beispiel in Ideen zu mehr Arbeitsanreiz und Druck, um arme Menschen zu zwingen, ihre Situation eigenverantwortlich zu ändern.

Was im Ansatz der Kinder- und Jugendgrundsicherung vollkommen fehlt, ist ein systemischer Blick auf Armut. Transferleistungen für Bedürftige sind ein wichtiger Baustein, dazu gehört zusätzlich eine gemeinwohlorientierte Infrastruktur. Wenn Wohnraum, Ernährung, schulische und außerschulische Bildung, Gesundheit, Mobilität und digitale Teilhabe für alle kostenfrei oder mindestens finanzierbar wären, würden Armut und soziale Barrieren deutlich reduziert – im besten Fall beseitigt. Ein solcher Gedanke fehlt im Konzept der Kinder- und Jugendgrundsicherung. Das wiegt teilweise schwerer als die mangelhafte Höhe der staatlichen Leistungen.

Bundesregierung und Parlament müssen das Gesetz dringend nachbessern. Notwendig sind höhere Transferleistungen und deren bedarfsgerechte Weiterentwicklung durch eine Fachkommission, Investitionen in gemeinwohlorientierte Infrastruktur sowie eine barrierefreie und unbürokratische Form der Antragstellung.

 

Autor: Dr. Stefan Ottersbach, Vorsitzender der BAG KJS

Ein Meinungsbeitrag ist eine persönliche Meinungsäußerung und muss nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.

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