Bevor Renate Schmidt Bundesministerin wurde, nannte der damalige Kanzler Gerhard Schröder ihren Zuständigkeitsbereich für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Gedöns“. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung bestätigt sie, dass der Stellenwert für die vier Gruppen aus ihrer Sicht nach wie vor nicht gut ist. Den stetigen Anstieg der Kinder- und Jugendarmut nennt Renate Schmidt skandalös.
„Kinderarmut ist offensichtlich für die Politik hierzulande kein vordringliches Problem. Sie sieht es einfach nicht. Genauso wenig ist zu fassen, wie der Staat während Corona mit Kindern und Jugendlichen umgegangen ist“, sagt die ehemalige Bundesjugendministerin. Kinder seien in Deutschland eine Minderheit, zudem keine Wähler*innen. „Daraus resultiert die Missachtung von Interessen von Kindern und Familien“, sagt Renate Schmidt.
Wahlalter auf 16 senken
Eine Möglichkeit, das zu ändern, ist ein Senken des Wahlalters auf 16. Ältere Menschen – gleich in welcher geistigen Verfassung – behielten ihr Wahlrecht. „Aber bei den 16-Jährigen heißt es dann, die wissen ja nicht Bescheid“, sagt die 80-Jährige. Sie betont, das Wahlrecht niemandem wegnehmen zu wollen, findet aber die Begründung blödsinnig, mit Verweis auf politisches Wissen Jugendlichen das Recht auf Wählen zu verweigern.
Das Interview kommt zum Ende auf die Debatte zur Kindergrundsicherung. Renate Schmidt berichtet, sie habe vor 20 Jahren bereits als Bundesministerin darüber gesprochen. Konfrontiert mit dem Argument von Finanzminister Christian Lindner, nicht Familie, sondern Schulen bräuchten mehr Geld, sagt die Politikerin: „Bei 2,9 Millionen armen Kindern ist Lindners Argumentation bescheuert. Wir brauchen Geld für die Kindergrundsicherung und für die Schulen“. Lehrkräfte würden gebraucht und sozialpädagogische Begleitungen in den Klassen. Das habe aber mit dem Lebensunterhalt von Kindern und Jugendlichen nichts zu tun. „Da geht es nicht um irgendwelchen Luxus, sondern um Kinder, die sich dann nicht mehr vorher melden müssen, um zu sagen, dass sie sich die Klassenfahrt nicht leisten können. Sie können einfach mitfahren“, erklärt Renate Schmidt.
8 von 12 Milliarden stehen zur Verfügung
Eine Erklärung, warum ein Vorhaben wie die Grundsicherung unabhängig von gegenseitigen Vorwürfen lange Zeit benötige, liefert die Politikerin ebenfalls: Bund und Länder müssen sich einigen, denn eine Grundsicherung ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. Bundes- und Landesmittel sowie Beiträge aus dem Bürgergeld sollen schließlich in der Grundsicherung zusammenfließen. Die Debatte um die Summe von 12 Milliarden findet Renate Schmidt verzerrt, denn rund 6 Milliarden stünden bereits durch Kindergeld und Kinderzuschlag zur Verfügung, blieben 6 Milliarden, von denen 2 im Haushalt durch den Finanzminister zugestanden seien. „Also muss Frau Paus schauen, dass sie ihm vielleicht noch mal zwei zusätzlich aus den Rippen leiert“, erklärt Renate Schmidt gegenüber der Süddeutschen Zeitung (vom 07.07.2023).
Im Interview setzt die Sozialdemokratin wichtige Akzente aus Sicht der BAG KJS: Kinder und Jugendliche müssen mit ihren Bedarfen stärker in den Mittelpunkt von Politik und Gesellschaft gerückt werden. Sie müssen politisch stärker mitentscheiden, ab 16 sogar wählen können. Das etwa beschreiben wir in der Position „Gute Lebensperspektiven für junge Menschen“. Zudem müssen sie einen armutssicheren Lebensunterhalt bekommen, um vollwertig teilhaben zu können.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, BAG KJS