Ausnahmeregelungen beim Mindeslohn schaden den Arbeitsmarktchancen von Langzeitarbeitslosen

Auszüge aus der WSI-Studie „Kein Mindestlohn für Langzeitarbeitslose?“ von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten:
“ Nachdem die grundsätzliche Entscheidung für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gefallen ist, dreht sich die aktuelle Debatte vor allem darum, ob bestimmte Beschäftigtengruppen vom Mindestlohn ausgenommen werden sollen. Würden alle zeitweilig erhobenen Forderungen nach Ausnahmeregelungen erfüllt werden, so blieben bis zu einem Drittel aller potenziellen Mindestlohnbezieher von der neuen Mindestlohnregelung ausgeschlossen. Um die Wirksamkeit des Mindestlohns nicht von vornherein stark einzuschränken, hat der nun vorliegende Entwurf der Bundesregierung für ein Mindestlohngesetz von Ausnahmeregelungen weitgehend Abstand genommen. Sieht man von Auszubildenden und Praktikanten ab, die nicht als Arbeitnehmer gelten und deshalb auch von dem Gesetz nicht oder nur eingeschränkt betroffen sind, so sind es nach dem Willen der Bundesregierung im Wesentlichen zwei Beschäftigtengruppen, die auch zukünftig unterhalb des Mindestlohns bezahlt werden dürfen. Hierbei handelt es sich zum einen um Jugendliche unter 18 Jahren, bei denen es sich in der Praxis hauptsächlich um hinzuverdienende Schülerinnen und Schüler handelt. Zum anderen geht es um die etwas mehr als eine Millionen Langzeitarbeitslose, bei denen die Ausnahmeregelung eine wesentlich größere Wirkung entfalten könnte. …

Insgesamt ist die Gruppe der Langzeitarbeitslosen keineswegs so homogen, wie dies oft angenommen wird. Langzeitarbeitslose finden sich faktisch in fast allen Altersklassen. Knapp 74 % sind jünger als 55 Jahre. Mit etwa 30 % findet sich der größte Anteil bei den 45 bis 54 jährigen. Aber auch jüngere Beschäftigte zwischen 25 und 34 Jahren weisen mit 18 % einen relevanten Anteil der Langzeitarbeitslosen aus.

Zwar sind Geringqualifizierte, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland im europäischen Vergleich eher niedrig ist, überdurchschnittlich stark betroffen und machen fast die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen aus. Das Fehlen einer abgeschlossenen Berufsausbildung ist jedoch nicht der einzige entscheidende Risikofaktor für Langzeitarbeitslosigkeit. Fast 42 % der Langzeitarbeitslosen verfügen über eine betriebliche oder schulische Ausbildung, 4,4 % sogar über einen akademischen Abschluss. …

Individuelle Förderung statt pauschaler Lohnsenkungen
Mit Langzeitarbeitslosigkeit geht häufig eine Kumulation multipler und komplexer Risikofaktoren einher. … Sozial-integrative Leistungen bei sozialen, psychischen und gesundheitlichen Problemen sind für diese Personengruppe daher besonders wichtig. Auch wenn laut einer Studie des DGB das Angebot an kommunalen Eingliederungsleistungen nach § 16a SGB II bei weitem nicht ausreichend ist, waren im Jahr 2013 rund ein Fünftel aller Teilnehmer Langzeitarbeitslose.

Daneben gibt es eine Vielzahl von vermittlungsorientierten Förderungen, die auf einen gezielten Abbau der Beschäftigungsbarrieren im Einzelfall setzen. In 2013 wurden in insgesamt rund 21.000 Fällen Langzeitarbeitslose bei dem Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt gefördert. Das entspricht 12,6 % aller Beschäftigungsaufnahmen dieser Gruppe. Damit war der Anteil geförderter Beschäftigungsaufnahmen bei Langzeitarbeitslosen im Vergleich zu Personen, die weniger als ein Jahr lang arbeitslos gemeldet sind, mehr als doppelt so hoch. Zu den hier betrachteten Fördermaßnahmen zählen neben Maßnahmen zur Berufswahl, Berufsausbildung und beruflichen Weiterbildung, auch die Förderung abhängiger Beschäftigung zum Beispiel durch Eingliederungszuschüsse. …

Eingliederungszuschüsse sind Einzelfallmaßnahmen, die auf eine stabile Wiedereingliederung abzielen und damit Substitutions- und Drehtüreffekte verhindern sollen. Entscheidend ist dabei das Element der Einzelfallbewertung und -betreuung. Demgegenüber tritt mit der nun geplanten Ausnahmeregelung vom gesetzlichen Mindestlohn statt einer individuellen Eingliederungshilfe zukünftig die pauschale Absenkung der Vergütung von Langzeitarbeitslosen in den ersten 6 Monaten.
Inwieweit das Instrument der bisherigen Eingliederungszuschüsse von betrieblicher Seite in Zukunft noch nachgefragt werden wird, erscheint damit fraglich. …

Gefährdung des dauerhaften Wiedereinstiegs von Langzeitarbeitslosen
Dass Niedriglöhne die Beschäftigungschance von Langzeitarbeitslosen keineswegs erhöhen, zeigt dass auch vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns die Abgangsrate von Langzeitarbeitslosen über alle Altersgruppen hinweg weit unter dem Durchschnitt lieg. Im Jahr 2013 lag die Chance für eine Beschäftigungsaufnahme am ersten Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose pro Monat gerade mal bei 1,4 %.3 Im Vergleich dazu betrug die Chance für alle Arbeitslosen durchschnittlich 6,2 %. …

Ohnehin sind für SGB-II-Leistungsempfänger, die den Großteil der Langzeitarbeitslosen ausmachen, die erreichbaren Beschäftigungsverhältnisse häufig nicht stabil. Bei Langzeitarbeitslosigkeit gelingt der Wiedereinstieg in eine dauerhafte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt deutlich seltener als bei kürzerer Arbeitslosigkeit: Lediglich knapp 61 % der Langzeitarbeitslosen haben nach dem beruflichen Wiedereinstieg auch nach sechs Monaten noch ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, nach zwölf Monaten sind es mit etwa 52 % nur noch knapp die Hälfte. Bei männlichen Arbeitslosen treten diese Differenzen in verstärkter Weise hervor, während Frauen insgesamt häufiger einen nachhaltigen Abgang in die Beschäftigung schafften.

Die bereits heute bestehende hohe Hürde für Langzeitarbeitslose, auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder dauerhaft Fuß zu fassen, wird durch die geplante Ausnahmeregelung beim Mindestlohn noch einmal erheblich erhöht, da die Unternehmen einen zusätzlichen starken Anreiz erhalten, nach einem Zeitraum von sechs Monaten den vormaligen Langzeitarbeitslosen wieder zu entlassen und durch einen neuen „günstigeren“ Langzeitarbeitslosen zu ersetzen. …

Fazit
… Geht man davon aus, dass auch bei Langzeitarbeitslosen zukünftig keine sittenwidrigen Löhne gezahlt werden dürfen, so könnten die Löhne nach Einführung des allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro für diese Beschäftigtengruppe auf bis zu 5,67 Euro abgesenkt werden. Die Ausnahmeregelung beim Mindestlohn wirkt damit wie eine pauschale Lohnsubvention, die nach dem Gießkannenprinzip auf alle Langzeitarbeitslose übertragen wird, ohne dass damit individuelle Fördermaßnahmen verbunden wären. Im Ergebnis wird dies zu umfangreichen Substitutions- und Drehtüreffekten führen. Gerade bei eher gering qualifizierten Tätigkeiten wird für die Unternehmen ein starker Anreiz geschaffen, bestehende Beschäftigungsverhältnisse durch „billigere“ Langzeitarbeitslose zu ersetzen. Deren Beschäftigungsperspektive dürfte in vielen Fällen von vornherein auf maximal sechs Monate begrenzt sein, bevor sie wieder durch neue Langzeitarbeitslose ausgetauscht werden. …

Gerade bei der Rückkehr in stabile und langfristige Beschäftigungsverhältnisse spielen oft individuelle Fördermaßnahmen, die auch Eingliederungszuschüsse für Unternehmen enthalten können, eine wichtige Rolle. Eine wirksamere Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit müsste deshalb darauf setzen, die bestehenden individuellen Förderprogramme deutlich auszubauen. Stattdessen besteht nun sogar die Gefahr, dass von der nun vorgesehenen Pauschalsubventionierung durch die Ausnahmeregelung beim Mindestlohn negative Auswirkungen auf die etablierte Förderpraxis ausgehen.

Offensichtlich ist sich die Bundesregierung bei den zu erwartenden Arbeitsmarktef-fekten, die von der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose ausgehen, selber sehr unsicher. So enthält das Mindestlohngesetz eine Selbstverpflichtung, wonach die Bundesregierung bereits nach zwei Jahren dem Parlament eine Evaluation dieser Regelung vorlegen soll, in der geprüft werden soll, ob die Ausnahme vom Mindestlohn tatsächlich die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt gefördert hat. Auf der Grundlage dieser Evaluierung soll dann entscheiden werden, ob diese Regelung weiter fortbestehen soll. Angesichts der erheblichen Risiken, die mit dieser Regelung verbunden sind, wäre es sehr viel plausibler den umgekehrten Weg zu gehen und erst einmal zu evaluieren, ob mit dem Mindestlohn tatsächlich negative Beschäftigungseffekte für Langzeitarbeitslose verbunden sind. … „

Die WSI-Studie wurde veröffentlicht in Ausgabe 15/2014 des WSI-Reports. Über aufgeführten Link ist die Studie abrufbar.

www.boeckler.de
www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_15_2014.pdf
www.boeckler.de/index_wsi.htm

Quelle: Hans Böckler Stiftung – Wirtschaft- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)

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