Umsetzungsstand der UN-Behindertenrechtskonvention

Das Wichtigste aus dem Parallelbericht zu Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention:
„In Deutschland ist seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 eine gewisse Dynamik zugunsten ihrer Umsetzung zu verzeichnen: Bund, Länder und Gemeinden befassen sich mit der Zielsetzung der UN-BRK und bemühen sich, in ihren Zuständigkeitsbereichen die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern. Mit Blick auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurden im Namen der Konvention zahlreiche Maßnahmen eingeleitet.

Besonders ermutigend ist, dass viele nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Menschen mit Behinderungen, sich mit dem Auftrag der Konvention eng verbunden sehen und aktiv für die Verwirklichung ihrer Vorgaben eintreten.

Kritsch festzuhalten ist indes, dass trotz dieser positiven Entwicklungen der Paradigmenwechsel in der Politik hin zu mehr Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe an vielen Stellen bislang ausgeblieben ist. Der damit verbundene echte Strukturwandel steht noch aus.

Der Vertragsstaat hat im Zeitraum 2009-2015 aus der Sicht der Monitoring-Stelle (MSt) bei weitem nicht alles Notwendige und Mögliche unternommen, um die Konvention umzusetzen.

In vielen Bereichen bleiben Bedeutung und Tragweite der Konvention rechtlich und praktisch wirkungslos. Der menschenrechtliche Ansatz fehlt beispielsweise bei der Entwicklung von Regierungsprogrammen (…), in gesetzgeberischen Maßnahmen sowie in Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen (…). Zwar findet Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Verbänden häufig statt, aber nicht immer in geeigneten und sinnstiftenden Formaten (…). Nicht zuletzt haben einige Vorgaben aus der Konvention, etwa das Prinzip der Inklusion, eine gesellschaftspolitische Dimension. So wird im Vertragsstaat zwar eine kontroverse Diskussion über Inklusion geführt, auch und gerade in der Öffentlichkeit, die sich in einigen Darstellungen dieses Berichts widerspiegelt (…). Führende Stellen des Vertragsstaats (Bund wie Länder) jedoch treten vielfach dafür ein, besondere Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen unverändert beizubehalten, was in einzelnen Sektoren, etwa bei Bildung, Wohnen und Arbeit, flächendeckend die Aufrechterhaltung von Doppelstrukturen bedeutet (…). Solche Doppelstrukturen bergen ihrerseits die Gefahr von Ausgrenzung und Benachteiligung.

In der Gesamtschau bleibt festzustellen, dass die Vorgaben der UN-BRK hierzulande noch nicht hinreichend in der Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderungen angekommen sind. Politik und Regierung bedürfen eindringlicher Impulse seitens des CRPD-Ausschusses, um bestehende Problemlagen, bekannte Konfliktpunkte und ungeklärte Umsetzungsfragen entschlossen anzugehen. (…)“

Auszüge aus den Problembereichen, die die MSt dem Fachausschuss zur besonderen Befassung empfiehlt:
Gesetzliche Definition von Behinderung
Ist gemäß Artikel 1 UN-BRK der Behinderungsbegriff im deutschen Recht anzupassen?
Deutschland hat den gesetzlichen Begriff „Behinderung“ lange vor der Verabschiedung der UN-BRK definiert. Einzelne Bundesländer haben zwar im Zuge der Überarbeitung ihrer Behindertengleichstellungsgesetze den Behinderungsbegriff inzwischen an die Formulierung in Artikel 1 UN-BRK in unterschiedlicher Weise angepasst beziehungsweise angenähert. Jedoch ist der Begriff nicht in allen Behindertengleichstellungsgesetzen verändert worden. Insbesondere unverändert blieb der Begriff im Sinne einer Grundlage, auf der über sozialrechtliche Leistungsansprüche von Menschen mit Behinderungen entschieden wird (§ 2 Absatz 1 SGB IX).

Der Vertragsstaat merkt in seinem Bericht an, dass sich der geltende Behinderungsbegriff bereits an der ICF („International Classification of Functioning, Disability and Health“) orientiere. Der deutsche Begriff “Behinderung” basiere nicht nur auf gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sondern berücksichtige auch Teilhabeeinschränkungen.

Die Monitoring-Stelle weist darauf hin, dass die deutsche Rechtslage komplex ist, weil mit dem gesetzlich definierten Behinderungsbegriff unterschiedliche Wirkungsmechanismen verbunden werden (etwa Anerkennung, Zugänglichkeit, insbesondere Teilhabeleistungen sowie andere Leistungsformen).

Die MSt stellt fest, dass der Vertragsstaat das offene und dynamische Verständnis von Behinderung, das der UN-BRK zugrunde liegt, in seiner festgelegten Definition von Behinderung, auch in der Zusammenschau bestehender Regelungen, nicht beziehungsweise nicht zufriedenstellend abbildet. Zwar ist die bestehende Regelung der Auslegung zugänglich, aber die Praxis schöpft die Möglichkeiten weder einheitlich noch zufriedenstellend aus. Das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung im Sinne der UN-BRK kann und sollte in der sozialpolitischen Diskussion und den damit verbundenen Vorhaben (Gesetze, Politiken, Strategien) noch viel stärker ins Zentrum gerückt werden als bisher.

Die Monitoring-Stelle regt an, dass der CRPD-Ausschuss dem Vertragsstaat (Bund und Länder) empfiehlt, gemäß Artikel 1 UN-BRK die gesetzliche Definition von Behinderung im deutschen Recht neu zu fassen; darüber hinaus sollte das menschenrechtliche Verständnis von Behinderungen bei allen rechtspolitischen Vorhaben, die in Zusammenhang mit den von der UN-BRK erfassten Gruppen stehen, zu Grunde gelegt werden und so mittelfristig zu einer Harmonisierung von Recht und Praxis beitragen. (…)

Partizipation
Findet die Umsetzung der UN-BRK unter enger und aktiver Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und den sie vertretenden Organisationen statt?
Im Vertragsstaat findet Partizipation auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene in der Regel in etablierten Formaten statt: zum einen dauerhaft vermittelt durch Behindertenbeiräte, zum anderen anlassbezogen über schriftliche und/oder mündliche Anhörungen oder themenbezogene Fachveranstaltungen. Beiden Partizipationsformaten ist gemein, dass die Wirkmächtigkeit der jeweiligen Beteiligung oftmals nur sehr begrenzt oder jedenfalls nicht sichtbar ist und den beteiligten Personen beziehungsweise Organisationen für ihre Tätigkeiten nur geringe Ressourcen zur Verfügung stehen.

Die Bundesregierung bezeichnet die Einbeziehung der Zivilgesellschaft als eines ihrer wesentlichen Anliegen und verweist hierzu hauptsächlich auf den Nationalen Aktionsplan, der unter enger Einbeziehung der Zivilgesellschaft entwickelt worden sei und umgesetzt werde. Auch alle Länder-Aktionspläne seien unter Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen entstanden.

Die Monitoring-Stelle weist darauf hin, dass die Art und Weise, wie Beteiligung bislang praktiziert, wird den Anforderungen von Artikel 4 nicht hinreichend gerecht wird. In der Regel haben die Beteiligten keine ausreichende Klarheit über ihre jeweilige Rolle beziehungsweise Funktion und ihre daraus resultierende Wirkungsmacht, zudem fehlt es immer wieder an Transparenz und zugänglicher Kommunikation. Auch gelingt es nur selten, die ganze Bandbreite der Menschen mit Behinderungen in ihrer Vielfalt anzusprechen und ihre vielfältigen Interessen zu integrieren. Insbesondere sind die Interessen von Kindern mit Behinderungen kaum vertreten, geschweige denn durch Kinder und Jugendliche selbst.

Es bedarf daher neuer Konzepte und Beteiligungsmodelle, um sinnstiftende und wirksame Partizipation in der nötigen Breite zu gewährleisten, sowie einer Stärkung von Kapazitäten, Kompetenzen und Ressourcen insbesondere kleinerer Selbstvertretungsorganisationen.

Die Monitoring-Stelle regt an, dass der CRPD-Ausschuss dem Vertragsstaat (Bund und Länder) empfiehlt, Strategien und Strukturen für eine sinnstiftende und wirksame Beteiligung bei der Erarbeitung und Umsetzung von Gesetzen, Programmen und Strategien zur Umsetzung der Konvention zu entwickeln und im Ergebnis eine transparente, inklusive und wirksame Beteiligung aller Gruppen von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. (…)

Anforderungen an ein inklusives Schulsystem
Wie kann es gelingen, den Aufbau eines inklusiven Schulsystems voranzutreiben und gleichzeitig die schulische Segregation zu überwinden?
In Deutschland besteht eine hoch differenzierte bis segregierende Schulstruktur. So besuchten 2012/13 von schätzungsweise 500.000 Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen 28 Prozent eine allgemeine Schule und 72 Prozent eine so genannte Sonder- oder Förderschule. Seit 2009 ist zu beobachten, dass sich die allgemeinen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen stärker öffnen. Allerdings bestehen zwischen den Ländern große Unterschiede – so beträgt die Integrationsquote in die allgemeine Schule je nach Bundesland zwischen 15 und 63 Prozent. Von den Abgängerinnen und Abgängern der Sonder- oder Förderschulen im Vertragsstaat 2012 hatten fast drei Viertel keinen Hauptschulabschluss. (…)

Der Vertragsstaat hat in seinem Bericht die Vorzüge der Sonder- und Förderschulen in Deutschland dargestellt. Die Ausführungen zeigen, dass die Länder den gemeinsamen Unterricht von Menschen mit und ohne Behinderung zwar als Aufgabe erkennen. Jedoch verstehen sie das Ziel eines inklusiven Systems nicht auf die Weise, dass sie segregierende Orte der sonderpädagogischen Förderung als solche in Frage stellen; die Länder halten fast alle an gesonderten Strukturen im Bereich der schulischen Bildung fest. (…)

Die Monitoring-Stelle stellt fest, dass der Vertragsstaat von einem inklusiven Bildungssystem weit entfernt ist. Einige Länder verweigern sich offenkundig dem Auftrag, Inklusion strukturell zu begreifen und halten an der Doppelstruktur Regelschule und Sondereinrichtung ausdrücklich fest. (…) Das Festhalten an einer Doppelstruktur behindert den im Vertragsstaat erforderlichen Transformationsprozess, in dessen Zuge die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der sonderpädagogischen Förderung in die allgemeine Schule verlagert werden könnten. Von einer Weichenstellung hin zu einem „inklusiven System“ kann erst dann gesprochen werden, wenn die sonderpädagogische Förderung systematisch und strukturell in die allgemeine Schule verankert wird und gleichzeitig trennende Strukturen im Bereich der schulischen Bildung überwunden werden. Die Monitoring-Stelle regt an, dass der CRPD-Ausschuss dem Vertragsstaat (Länder) empfiehlt, soweit noch nicht geschehen, die Weichen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems zu stellen, insgesamt seine Anstrengungen in Bezug auf inklusive schulische Bildung zu verstärken und die schulische Segregation zu überwinden. (…)“

Den Bericht in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.

Link: www.institut-fuer-menschenrechte.de

Quelle: Monitoring Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention; DCV

Dokumente: Parallelbericht_an_den_UNFachausschuss_fuer_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen_150311.pdf

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