Eltern mit Migrationshintergrund haben hohe Bildungsziele für ihre Kinder

Auszüge aus der Studie über die Bildungsziele von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland der Universität Düsseldorf im Auftrag der Stiftung Mercator und der Vodafone Stiftung:
“ (…) Der oft bestätigte Befund der Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund verbindet sich in der öffentlichen Wahrnehmung allzu häufig mit einem pauschalen Urteil über das vermeintlich fehlende Bildungsinteresse in Migrantenfamilien. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bildung, Milieu & Migration“ zeigen erstmals, wie sehr die stark ausgeprägten Bildungsaspirationen in den unterschiedlichen Lebenswelten aller Migrantenmilieus ein Potenzial für gelingende Bildungswege darstellen. Ein Potenzial, das häufig nicht ausgeschöpft werden kann, weil zu viele Barrieren entgegenstehen. Der Aufbruch in eine interkulturell sensibilisierte Schule hat zwar hier und dort begonnen. Vielschichtige strukturelle Probleme, organisatorische Hürden und mentale Blockaden erschweren den Weg zu besseren Bildungserfolgen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund jedoch noch immer. In den auf die unterschiedlichen Milieus fokussierten Bildungsprofilen in dieser Studie werden konkrete Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Bildungspraxis in Richtung interkulturelle Öffnung sichtbar. (…)

Eines der Kernergebnisse ist, dass Eltern mit Migrationshintergrund – entgegen der landläufigen Meinung – hohe Bildungsziele formulieren und ihre Kinder bestmöglich unterstützen möchten. Die für Hilfen bei der Bewältigung des Schulalltags aufgewendete Zeit geben über zwei Drittel der Eltern mit mehr als einer halben Stunde täglich an. 72 Prozent aller befragten Eltern sagen, dass sie ihre Kinder bei den Hausaufgaben immer oder häufig unterstützen. 84 Prozent berichten, dass sie immer oder häufig Elternsprechtage besuchen; häufig oder regelmäßig an Elternabenden nehmen 87 Prozent teil.

Hohe Bildungsziele
Den hohen Bildungsaspirationen von Migranten stehen zahlreiche Barrieren entgegen, mit denen Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern tagtäglich zu kämpfen haben. Deutlich wird dies insbesondere an der noch immer mangelnden interkulturellen Öffnung von Schulen in Deutschland. So wünschen sich 88 Prozent der befragten Eltern die Wertschätzung kultureller Vielfalt an Schulen, nur 66 Prozent geben allerdings an, dass sie dies im Schulalltag ihres Kindes auch erleben. Einen besonders hohen Stellenwert hat aus Sicht der Eltern die interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte, die von 92 Prozent der Befragten als sehr wichtig bzw. wichtig erachtet wird. Lediglich 60 Prozent geben jedoch an, dass sie dies an der Schule ihrer Kinder auch wahrnehmen. (…) Vor allem aus den qualitativen Interviews wird deutlich, dass milieuübergreifend Bildungswege entscheidend von einzelnen Lehrkräften beeinflusst werden. So führen falsche Schulempfehlungen zum Beispiel zu Bildungsumwegen, die für die betroffenen Schülerinnen und Schüler oft „verlorene Jahre“ bedeuten. Immerhin 45 Prozent der befragten Erwachsenen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, sagen, dass sie durch zusätzliche Schulwechsel ein oder mehrere Jahre verloren haben. (…)

Das Milieumodell führt zu differenzierten Ergebnissen
Das Milieumodell, das der Studie zugrunde liegt, unterscheidet gesellschaftliche Teilgruppen vornehmlich in Bezug auf ihre Wertorientierung, Alltagsästhetik und soziale Lage. In den acht Migrantenmilieus zeigen sich deutliche Unterschiede in den Bildungsmotiven: vom Wunsch nach Zugehörigkeit zur Mitte Deutschlands im Adaptiv-bürgerlichen Milieu, über die Wahrung traditioneller Werte im Religiös-verwurzelten Milieu bis hin zum Streben nach Selbstverwirklichung im Sinne eines humanistischen Bildungsideals im Intellektuell-kosmopolitischen Milieu.
Über alle Milieus hinweg wird jedoch der Wunsch geäußert, dass die Kinder „es einmal besser haben sollen“, womit in der Regel das Streben nach einer guten Bildung verbunden ist. Allerdings unterscheiden sich die Ressourcen, die Eltern hierfür aufbringen können, entscheidend milieuspezifisch. Während sich im Religiös-verwurzelten Milieu die Unterstützung der Kinder häufig auf die Frage nach den erledigten Hausaufgaben beschränkt, werden in den Milieus der bürgerlichen Mitte sämtliche Möglichkeiten der elterlichen Hilfe von der Hausaufgabenbetreuung über gemeinsames Lernen bis hin zur Begleitung auf Klassenfahrten ausgeschöpft. Im Hedonistisch-subkulturellen Milieu überlässt man die Gestaltung der Schullaufbahn weitgehend den Kindern selbst. Im gut gebildeten Intellektuell-kosmopolitischen Milieu wird besonders sensibel, aber auch selbstbewusst auf die Bildungsbenachteiligung von Migranten reagiert und die Milieuangehörigen setzen sich engagiert gegen Diskriminierung ein.

Die Beherrschung der deutschen Sprache gilt in allen Milieus als wichtige Grundvoraussetzung für das Leben in Deutschland. Andererseits wird Mehrsprachigkeit in allen Milieus befürwortet, lediglich die Gewichtung der einzelnen Sprachen variiert. Während man im Religiös-verwurzelten Milieu besonderen Wert auf die Herkunftssprache legt, ist in den Milieus der bürgerlichen Mitte Deutsch höher gewichtet als die Herkunftssprache. Unterrichtsangebote in der Herkunftssprache werden dementsprechend in den Milieus sehr unterschiedlich befürwortet: in den eher traditionell orientierten Milieus deutlich stärker als in den moderneren – interessanterweise im Religiös-verwurzelten Milieu wieder weniger stark. Hier hat man einerseits die Gewissheit, die Sprache noch direkt selbst vermitteln zu können, und will andererseits möglicherweise etwas so Wichtiges nicht deutschen Institutionen überlassen. In den ambitionierten Migrantenmilieus der Intellektuellen Kosmopoliten und der Multikulturellen Performer wird darüber hinaus der Stellenwert weiterer Fremdsprachen betont. (…)

Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
Aus der Studie lassen sich Kernaussagen ableiten, aus denen sich unmittelbar Handlungsempfehlungen ergeben: ## BILDUNGSOPTIMISMUS AUFGREIFEN
Es gibt bei den Eltern mit Migrationshintergrund eine grundlegende hohe Wertschätzung von Bildung. Dies betrifft die eher auf Soft Skills und Charakterformung ausgerichtete Persönlichkeitsbildung ebenso wie den Bildungserfolg, gemessen in Abschlüssen und Zertifikaten. Am Ende einer erfolgreichen Bildungskarriere steht die Erwartung einer hohen Bildungsrendite – und damit die Hoffnung auf ein besseres, weniger entbehrungsreiches Leben für die Kinder. Vor diesem Hintergrund sollten die Bemühungen um aktive Bildungspartizipation der einzelnen Eltern mit Migrationshintergrund, aber auch der Elternverbände und der Migrantenselbstorganisationen verstärkt aktiv aufgegriffen werden.
## INTERKULTURELLE ÖFFNUNG VON BILDUNGSEINRICHTUNGEN REALISIEREN
Es wird eine eklatante Diskrepanz zwischen der Erwartung interkultureller Sensibilität an Bildungseinrichtungen und der ernüchternden Schulrealität dokumentiert. Gezielte Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund oder speziellen Deutschunterricht halten jeweils über 80 Prozent der Eltern für wichtig – aber an der Schule ihrer Kinder erlebt haben dies weniger als ein Drittel der Befragten. Auch zum Thema „Spezielle Informationsangebote für Eltern mit Migrationshintergrund“ tut sich eine Lücke von über 50 Prozent zwischen der betonten Wichtigkeit und dem vorgefundenen Status quo auf, die es in Zukunft aufzufüllen gilt. (…)
## MILIEUSPEZIFISCHE PRÄFERENZEN UND RESSOURCEN IN DER INTERKULTURELLEN ELTERNBILDUNG BERÜCKSICHTIGEN
Die milieuspezifische Analyse dieser Studie ermöglicht die Konzeption und Umsetzung passgenauer Angebote in der Elternbildung. Gerade die ambitionierteren Migrantenmilieus wollen auch in ihrer eigenen Expertise zu den Themen Bildung und Erziehung ernst genommen werden. Hier bieten sich Formate des Austausches und Empowerments an. Auch besteht hier großes Interesse für das Thema Studienmöglichkeiten. In den traditionellen und sozial benachteiligten Milieus stoßen klassische Erziehungsratgeberthemen neben allgemeinen Schulinformationen auf stärkere Resonanz. Kurse in der Herkunftssprache wünschen sich viele traditionsverwurzelte Eltern sowie Eltern aus den prekären Milieus.
## INTERKULTURELLE ELTERNBILDUNG ZIELGRUPPENADÄQUAT KOMMUNIZIEREN
Interesse an schulnahen Bildungsangeboten für Eltern wird in allen Milieus der Migranten artikuliert. Die Schule wird gewissermaßen als der natürliche Ort und als erste Informationsquelle erlebt. Eltern mit Migrationshintergrund wünschen sich dabei explizit keine „Sonderbehandlung“, sondern Angebote, die sich an alle Eltern richten. Klassische Informationsmedien wie Broschüren oder Flyer stoßen auf eher geringes Interesse, wohingegen sich in den traditionellen Milieus über Migrantenselbstorganisationen, teilweise über Moscheevereine oder Kirchengemeinden und auch über Angebote der Schulen selbst Wege eröffnen. In den moderner orientierten Lebenswelten wird das Internet als Informations-, aber auch Austauschplattform präferiert.
## SCHULENTWICKLUNGSPROZESSE ANSTOSSEN
Die heute noch mangelnde interkulturelle Öffnung der Schulen braucht bewusstes Engagement für ein Klima der Wertschätzung für kulturelle Vielfalt. Kulturelle
Vielfalt in den Schulalltag zu integrieren bedeutet zum Beispiel Unterrichtsinhalte, Schulbücher, Mensen, Architektur, Feiern auf „monokulturelle“ Engführungen
zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Es bedeutet, die Ressourcen der Eltern mit Migrationshintergrund bewusst zu nutzen und die Lehrkräfte für ihre
zentrale Rolle für den Bildungsweg gerade der Schüler mit Migrationshintergrund zu sensibilisieren. (…)
## ONLINE-INFORMATIONS- UND BERATUNGSANGEBOTE ENTWICKELN
Flankierend zu Elternbildungsaktivitäten vor Ort könnten Online-Angebote zum Thema „Bildungsinformationen für Eltern“ wertvolle Informations- und Beratungsmöglichkeiten
bereitstellen. Neben lokal angepassten Basisinformationen über Schulformen und Bildungswege können FAQ-Listen und Foren für den Austausch von
Erfahrungen und mehrsprachige Informationen helfen, dass Migranten ihre Bildungsaspirationen besser umsetzen können. Für die moderneren Milieus bietet sich die
Verknüpfung mit sozialen Medien und die Einbeziehung von Experten an. Generell können Online-Angebote mit der Präsentation von Vorbildern für den Bildungsaufstieg
Eltern ebenso wie Kinder und Jugendliche motivieren und unterstützen.“

Quelle: Vodafone Stiftung

Dokumente: Vodafone_Stiftung_Stiftung_Mercator_Grosse_Vielfalt_weniger_Chancen_03_2014_01.pdf

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