Inklusion in der Bildung: Lippenbekenntnis oder Systemwechsel

Heute werden mehr Kinder und Jugendliche an Sonderschulen unterrichtet als vor elf Jahren. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass der Anteil der an Sonderschulen unterrichteten Kinder und Jugendlichen an allen Schülerinnen und Schülern in den letzten elf Jahren deutschlandweit angestiegen ist. Zwischen dem Schuljahr 2000/01 und 2011/12 stieg die sogenannte „Exklusionsquote“ von 4,6 % auf 4,8 % .

Dazu erklärt der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe: „In Deutschland werden Kinder mit Behinderung im Bildungssystem nach wie vor von Kindern ohne Behinderung getrennt. Obwohl alle über Inklusion reden, passiert viel zu wenig. Die Chancen auf einen qualifizierten Schulabschluss sind schlecht, fast Dreiviertel der Abgänger von Sonderschulen verlassen sie ohne Hauptschulabschluss. Inklusion sei derzeit vielerorts nur ein Lippenbekenntnis,“ so Hubert Hüppe.

Ob und wie es gelingt, behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, damit befasste sich auch der Bildungsausschuss des Bundestages. Im Rahmen eines öffentlichen Fachgesprächs hagelte es viel Kritik.

Hans Wocken, emeritierter Professor der Universität Hamburg bemängelte, dass die vertragliche Zusicherung laut Artikel 24 „ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu gewährleisten von Bundestag und Bundesrat zwar einstimmig ratifiziert worden sei, dass aber selbst in der UN-Behindertenrechtskonvention der Begriff „unbestimmt und offen“ bleibe. Wocken machte deutlich: „Um ein inklusives Bildungssystem zu etablieren, muss ein System- und Paradigmenwechsel eingeleitet werden.“ Zudem warf er der Politik vor, dass es in Wahrheit keinen politischen Willen zur Umsetzung gebe. Er hielt Bund und Ländern „eine substanzielle Missachtung der völkerrechtlichen Vereinbarung“ vor.

Die beiden Praktiker unten den Sachverständigen, Jens Bachmann, ehemaliger Pädagogischer Leiter der Weißfrauenschule in Frankfurt am Main und die Sonderschuldirektorin Manuela Gregor, die die Schule am Zille-Park in Berlin leitet, machten auf die schlechten Bedingungen aufmerksam. Es fehlten veränderte Rahmenlehrpläne und Unterstützungssysteme. Manuela Gregor sagte, dass es durchaus vorkomme, dass in einer Klasse mit 26 Kindern ein Kind mit ADHS, zwei mit einer geistigen Behinderung und eins mit Autismus säßen. Dazu kämen dann unzählige Schüler nicht-deutscher Herkunft. In einer Klasse seien Kinder aus 23 verschiedenen Nationen zusammen gekommen. Jens Bachmann, dessen Schule den Förderschwerpunkt Sprachheilförderung anbietet, verwahrte sich genauso wie seine Kollegin dagegen, dass Sonderschulen nicht dem erfolgreichen Lernen dienlich seien. Er ließ Zahlen sprechen: „90 Prozent aller Schüler bei uns machen den Hauptschulabschluss und 80 Prozent vermitteln wir in den ersten Arbeitsmarkt.“

Klaus Klemm, emeritierter Professor, macht auf die fehlenden Nachwuchskräfte aufmerksam. In Nordrhein-Westfalen z.B. würden derzeit lediglich 400 Sonderpädagogen ausgebildet werden. Allein um das Niveau zu halten, müssten aber 700 ausgebildet werden. „Wir laufen da in einen großen Engpass.“

Der Behindertenbeauftragte Hüppe vertritt die Ansicht, es werde ein erfolgloses und aussonderndes System aufrecht erhalten, indem immer mehr Kinder der Stempel „sonderpädagogischer Förderbedarf“ aufgedrückt würde. Damit Kinder und Jugendliche mit Behinderung mehr Bilduns- und Teilhabechancen eröffnet werden, muss endlich ein echtes Umsteuern stattfinden. “

Quelle: Pressedienst des Deutschen Bundestages; Behindertenbeauftragter der Bundesregierung; Bertelsmann Stiftung

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