Inklusive Bildung betrifft, anders als häufig angenommen, nicht vordergründig Menschen mit Behinderungen, sondern berücksichtigt die individuelle Bedürfnisse jeder/s Einzelnen. Damit das gelingt, bedarf es Unterstützung. Es gibt heute bereits vielfältige Möglichkeiten, um inklusive Berufsausbildung zu unterstützen. Zum größten Teil werden diese von der Bundesagentur für Arbeit finanziert (1,5 Mrd. Euro im Jahr 2012). Jedoch sind die Unterstützungsangebote nicht ausreichend bekannt und verbreitet.
Die Publikation gibt einen Überblick über die aktuelle Situation in der beruflichen Bildung, über rechtliche Fragen und mögliche nächste Schritte.
Das wichtigste in zehn Punkten. Auszüge aus der Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung von Ute Erdsiek-Rave und Marei John-Ohnesorg:
⇒Ute Erdsiek-Rave: Von der UN-Konvention bis zur Kampagne „Inklusion gelingt“, S. 27
##Barrieren abbauen: In Köpfen und Strukturen. (…) Trotz einer relativen Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt mündet immer noch über eine viertel Million Jugendliche nach dem Schulabschluss zunächst in einer der vielen Maßnahmen des Übergangssystems ein. Menschen mit Beeinträchtigungen haben dem Teilhabebericht der Bundesregierung zufolge mit einem Anteil von 19 Prozent doppelt so häufig keinen beruflichen Abschluss wie Gleichaltrige ohne Beeinträchtigung. Die Arbeitslosenquote von schwerbehinderten Menschen lag 2011 mit knapp 14,8 Prozent erheblich über der allgemeinen Arbeitslosenquote von 9,1 Prozent. Verbesserungen lassen sich nicht allein durch den Abbau von strukturellen Barrieren, etwa im Bildungssystem, erreichen. Notwendig ist ein gesellschaftlicher Wandel: Barrieren müssen zunächst in den Köpfen abgebaut werden, bei jedem von uns. Ob Menschen eine Behinderung aufweisen oder sonderpädagogischer Förderung bedürfen, die Bereitstellung von Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen sollte nicht länger als eine Besonderheit, sondern als selbstverständlich angesehen werden – so wie etwa der Besuch beim Optiker oder das Tragen einer Zahnspange.
⇒Gabriele Lösekrug-Möller: Menschen mit Behinderungen müssen die Chance erhalten, ihr Bestes zu geben, S. 19
## Bildung vom Einzelnen her denken. (…) Eine trennscharfe Definition derjenigen, die als Zielgruppe von Unterstützungsmaßnahmen in der beruflichen Bildung angesprochen werden, ist nicht möglich. (…) Grund dafür sind unterschiedliche Begriffsverständnisse über die Institutionen hinweg. (…) Aber einheitlichere Zuordnungskriterien dürfen nicht zu einer weiteren Separierung führen. Vielmehr muss es darum gehen, die Förderung besser den Einzelnen anpassen zu können: In einer inklusiven Berufsbildung wird das Bildungsangebot maßnahmeunabhängig gestaltet. Ausgangspunkt der Förderung ist dann nicht etwa Behinderung, Benachteiligung oder Migrationshintergrund, sondern die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Auszubildenden.
⇒Martin Baethge: Bildungsbericht 2014: Inklusion in der beruflichen Bildung, S. 39
## Finanzströme in der beruflichen Bildung müssen neu geordnet und Zuständigkeiten transparenter gestaltet werden. Klar ist: Menschen mit Behinderungen oder besonderem Förderbedarf werden systemisch benachteiligt. (…) Allerdings gibt es schon jetzt viele Unterstützungsmaßnahmen: Laut Bildungsbericht 2014 hat die Bundesagentur für Arbeit 2012 1,5 Milliarden Euro an Teilnahmekosten für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen aufgebracht. (…) Werden die durchaus erheblichen finanziellen Aufwendungen richtig und effektiv eingesetzt? (…) Probleme stellen sich bei der Umsetzung, insbesondere durch die stattfindende Ausschreibepraxis der Agentur für Arbeit, in deren Folge eine notwendige Kontinuität des Angebots infrage gestellt scheint. Diese mangelnde Verbindlichkeit der Angebote sowie die verschiedenen Zuständigkeiten zwischen Sozial- und Bildungssystem bei der Bewilligung und Zuordnung von Ressourcen sorgen für Undurchsichtigkeit für die Betroffenen. Politische Aufgabe für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems auch in der Berufsbildung wird es sein, die Finanzströme neu zu ordnen sowie Zuständigkeiten zusammenzufassen und transparenter und verbindlicher zu gestalten.
⇒Ursula Bylinski: Inklusive Berufsbildung: Vielfalt aufgreifen – alle Potenziale nutzen. S. 47
## Sondereinrichtungen für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen müssen sich zu Netzwerkpartnern in einem inklusiven System entwickeln. Eine Umverteilung und Neuordnung der vorhandenen Ressourcen erfordert eine Neubestimmung der Rolle der Berufsbildungswerke, Behindertenwerkstätten oder Berufsförderungswerke. Derzeit sind dies separierende Einrichtungen für die Aus- und Weiterbildung von Menschen mit Behinderungen, die bislang den überwiegenden Teil der Fördermittel der Bundesagentur für Arbeit erhalten. Diese notwendige institutionelle Umgestaltung kann und wird nicht etwa die vollständige Auflösung der derzeit 2.500 Werkstattstandorte (…) bedeuten. Sie haben in einem inklusiven System ebenfalls ihre Berechtigung, denn eine Ausbildung in einem Betrieb wird selbst bei besser verankerten Förderungs- und Begleitungsmaßnahmen nicht für jeden möglich und sinnvoll sein. Vielmehr sind die Werkstätten gefragt, sich vermehrt nach außen zu öffnen und ihre Kompetenzen in Netzwerken zur Verfügung zu stellen. (…) Denkbar ist etwa eine Umgestaltung der Behindertenwerkstätten zu Förderzentren. Damit würden sie eine ähnliche Rolle einnehmen können wie in vielen Bundesländern mittlerweile die ehemaligen Sonder- und Förderschulen.
⇒Thomas Bauer: Berufliche Bildung in der Werkstatt für behinderte Menschen, S. 83
## In einer inklusiven Ausbildung wird mehr Flexibilität und mehr Unterstützung benötigt. (…) In einem inklusiven Berufsbildungssystem wird der allgemeinen Berufsausbildung der Vorrang vor Sonderwegen gegeben. Ausbildungsgänge und -ordnungen werden sich an die Erfordernisse eines inklusiven Bildungssystems anpassen müssen. Dazu gehört eine erhöhte Flexibilität. In der allgemeinen Berufsausbildung müssen Möglichkeiten der Verlängerung oder Unterbrechung von Ausbildungszeiten geschaffen werden, um den Bedürfnissen aller Auszubildenden entgegen zu kommen. Ebenso wichtig ist die Unterstützung und Begleitung des einzelnen Jugendlichen, etwa durch die Verbesserung der sozial- und sonderpädagogischen Kompetenz an Berufsschulen.
⇒Sigrid Arnade: Perspektiven zum Abbau von Barrieren und Teilhabehemmnissen für Menschen mit Behinderungen, S. 79
## Systematische und vernetzte Berufsorientierung in der allgemeinbildenden Schule muss zur Regel werden. Förderung und Begleitung der Jugendlichen darf jedoch nicht erst mit dem Eintritt in den Ausbildungsmarkt beginnen. Schon in der Schule sind Maßnahmen zur Berufsorientierung erforderlich. Berufsorientierung muss als komplexe Aufgabe verstanden werden. Nur in enger Kooperation und in zahlreichen Partnerschaften auf Landes- und regionaler Ebene kann sie erfolgreich und umfassend erfolgen. Die Hauptakteure sind die Bundesagentur für Arbeit, die Länder, Schulen, Jugendämter, Kammern, Unternehmen und (…) vor allem die Ausbildungsbetriebe. (…)
⇒Angelika Kvaic: Netzwerkpartnerschaften in der beruflichen Bildung, S. 69
## Transparente Strukturen und zentrale Anlaufstellen erleichtern Unternehmen den administrativen Aufwand zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. (…) Die Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen scheitert häufig nicht am Willen der Betriebe – vielmehr wirken der Verwaltungsaufwand und die Ungewissheit, welche Ressourcen langfristig zur Verfügung stehen, abschreckend. Betriebe und auch Betroffene wissen vielfach schlicht nicht, auf welche Art der Unterstützung – etwa Lohnkostenzuschüsse oder eine Arbeitsassistenz – sie Anspruch haben. (…) Es fehlt an qualifizierter und institutionell verankerter Beratung, die Unternehmen den administrativen Aufwand erleichtern würde und Transparenz schafft. (…)
⇒Gerhard Labusch-Schönwandt: Die sozialrechtliche und sozialpolitische Perspektive: Nachhaltige Erwerbsperspektive durch Vernetzung der Akteure, S. 61
## Der Austausch in Netzwerken begünstigt Wissenstransfer und baut Barrieren ab. An der Berufsbildung ist eine Vielzahl an Akteuren beteiligt: Bund und Länder, Kammern, Unternehmen, Berufsschulen, die Träger außerbetrieblicher Ausbildung. Die Finanzierung von Unterstützungsmaßnahmen für Auszubildende mit besonderem Förderbedarf wird derzeit noch aus zahlreichen unterschiedlichen Töpfen bestritten. Transparenz kann nur durch einen regelmäßigen Austausch geschaffen werden. Notwendig ist der Aufbau von regionalen Netzwerken, in denen sich Betriebe, Bildungseinrichtungen, Kammern und Ämter zusammenschließen, sich gegenseitig beraten und beständige Kooperationsbeziehungen aufbauen. (…)
⇒Annetraud Grote: .nkA – Gleichberechtigter Zugang zur dualen Berufsausbildung von Jugendlichen mit und ohne Behinderung, S. 89
## Eine strategische Abstimmung zwischen den Akteuren beruflicher Bildung ist Voraussetzung für erfolgreiche Inklusion. (…) Für den Erfolg eines inklusiven Bildungssystems ist es entscheidend,
dass die (…) Förder- und Unterstützungsmaßnahmen als Bestandteil des allgemeinen Bildungsauftrags und damit als Grundpfeiler des Bildungssystems begriffen werden. Die berufliche Bildung nimmt hier eine Sonderstellung ein: Ihre Strukturen sind in besonderem Maße unübersichtlich und an ihr sind eine Vielzahl an Verantwortlichen beteiligt. Das macht es so ungemein wichtig, dass sich die Akteure über die Zielsetzungen abstimmen und gemeinsam eine Strategie für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems entwerfen. Notwendig sind bundeseinheitliche Standards und die rechtliche Verankerung von Unterstützungsmaßnahmen in der Berufsausbildung auf – denn nur so können alle Jugendlichen von der Begleitung und Förderung profitieren. (…)
⇒Ausbildung mit Handicap: Jugendliche berichten, S. 95″
Link: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/11266.pdf
Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung Schriftenreihe des Netzwerk Bildung
Dokumente: Inklusion_in_der_beruflichen_Ausbildung.pdf