Ende Juni 2022 wurde der 9. Nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2022“ veröffentlicht. Aus diesem Anlass kritisieren die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e.V. und IN VIA Deutschland, dass ungleiche Bildungschancen offensichtlich in Stein gemeißelt seien. Denn zum wiederholten Male bestätigt der Bericht den starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland. Die katholische Jugendsozialarbeit beanstandet insbesondere, dass es dem Schulsystem weiterhin nicht gelingt, Chancen auf Bildungserfolge und damit auch auf soziale Teilhabe für alle jungen Menschen zu verbessern.
Julia Schad-Heimkommentiert die Befunde des Berichtes und skizziert die Notwendigkeit der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit als zentrale Partner für das Bildungssystem. Ihre Botschaft lautet: Im Zuge der Umsetzung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) und des Startchancen-Programms sind Angebote dieser Bildungspartner abzusichern.
Bildungsbericht zeigt nach wie vor großen Reformbedarf
Weiterhin ist das deutsche Bildungssystem weit davon entfernt Chancengleichheit für alle jungen Menschen in der Bildung zu ermöglichen. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, v.a. der sozioökonomischen Situation der Familie, und Bildungserfolg bleibe laut Nationalem Bildungsbericht 2022 anhaltend stark ausgeprägt. Dieser Zusammenhang vermindere die Chancen auf eine gleichberechtigte soziale Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen und die Vorbereitung auf eine selbstbestimmte Lebensführung, so der Bericht weiter. Mehr als jede*r 4. Schüler*in sei auch 2020 von mindestens einer der drei zentralen Risikolagen Armut, Arbeitslosigkeit und niedriger Bildungsstand im Elternhaus betroffen. Der Anteil der Kinder, die mit mindestens einer dieser Risiken aufwachsen, sei nach wie vor in Alleinerziehendenfamilien und Familien mit Migrationshintergrund besonders ausgeprägt. 48 Prozent der Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund wachsen unter der Belastung mindestens einer Risikolage auf, bei den Kindern ohne Migrationshintergrund seien es nur 16 Prozent.
Inklusive Bildung kommt nicht voran
Leider belegt der Bildungsbericht zudem, dass bei der inklusiven Bildung wenig Fortschritte zu verzeichnen sind: 2020 wurden mit bundesweit 582.000 Schüler*innen erneut mehr Kinder und Jugendliche sonderpädagogisch gefördert als zuvor. Insgesamt 44 Prozent davon werden in allgemeinbildenden Schulen unterrichtet, laut Bildungsbericht. Der Inklusionsanteil variiere zum Teil jedoch erheblich je Bundesland. Von einer substanziell verringerten Anzahl an eigenständigen Förderschulen könne nicht die Rede sein.
Aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) und von IN VIA Deutschland müssen die Diversität und damit auch die unterschiedlichen Bedarfe junger Menschen in den Bildungskonzepten der Schulen endlich konsequent Berücksichtigung finden. Es gibt bereits zahlreiche erfolgreiche Beispiele inklusiver Schulentwicklungsprozesse und Ansätze, die individuellen Bedarfen gerecht werden. Diese müssen endlich systematisch und flächendeckend im gesamten Schulsystem verbreitet werden.
Die Verbände kritisieren auch, dass im Bildungsbericht die Relevanz von multiprofessionellen Teams nicht herausgearbeitet ist. Gerade bei der inklusiven Schulentwicklung bildet die multiprofessionelle Zusammenarbeit ein zentrales Element. Hier fehlen Erkenntnisse zu ihrer Zusammensetzung und ihrer Zusammenarbeit an Schulen, obwohl im Bericht schwerpunktmäßig die Vielfalt und die unterschiedlichen Zugangswege des Bildungspersonals insgesamt thematisiert werden. BAG KJS und IN VIA Deutschland fordern seit langem eine systematische und geförderte Kooperation zwischen dem Schulsystem und den schulbezogenen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Für künftige Bildungsberichte müssten Daten und Erkenntnisse demnach auch aus Statistiken zur Jugendhilfe herangezogenen werden.
Auswirkungen der Corona-Pandemie im Blick behalten
Als scheinbar positive Entwicklung hingegen benennt der Bildungsbericht, dass im Jahr 2020 deutlich weniger Jugendliche als in den Vorjahren die Schule ohne mindestens einen ersten Schulabschluss verlassen haben: 45.000 bzw. 5,9 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Ob dies mit pandemiebedingt vereinfachten Prüfungsmodalitäten oder einem längeren Verbleib der Jugendlichen im Schulwesen zusammenhängen würde, lasse sich laut Autor*innen des Bildungsberichts jedoch nicht zweifelsfrei bestimmen.
BAG KJS und IN VIA Deutschland behalten diese vom Trend abweichende Entwicklung im Blick. Zahlreiche Studien belegen, dass der Kontext der Corona-Pandemie bei jungen Menschen, die von Risikolagen betroffen sind, zu starken Belastungen geführt hat bzw. weiterhin führt. Dies spiegeln auch die Erfahrungen aus der Praxis der katholischen Jugendsozialarbeit: Ihre Zielgruppen sind häufig betroffen von mangelnder bedarfsgerechter Unterstützung, wenig Raum und nicht ausreichender technischer Ausstattung für den (zeitweise) Unterricht auf Distanz. Insbesondere fehlen in diesem Zusammenhang im Bericht leider auch Hinweise und Erkenntnisse zum Phänomen „Schulabsentismus“. Sowohl Lehrkräfte als auch Fachkräfte der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit erleb(t)en in den Pandemie-Jahren, dass zahlreiche junge Menschen aktiv oder passiv im Schulalltag abwesend sind. Berichtet wird hierzu in Fachzusammenhängen von erhöhter Nachfrage an Beratungs- und Begleitangeboten der Jugendsozialarbeit.
Angebote der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit an Schulen stärken
BAG KJS und IN VIA Deutschland verweisen in der o.g. Pressemeldung zum Bildungsbericht darauf, dass junge Menschen jetzt mehr denn je verlässliche Ansprechpartner*innen in Schulen brauchen, die sie individuell, vertrauensvoll, unabhängig und mit sozialpädagogischer Expertise kontinuierlich im Schulalltag unterstützen. Den Angeboten der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit kommen im Bildungsbericht jedoch nur geringe Aufmerksamkeit zu, obwohl sie – auch über verschiedene Programme der Bundesländer – zu den etablierten Partner*innen an Schulen zählen. Auch hier ist es überfällig, dass für die Bildungsberichterstattung zukünftig Erkenntnisse und Statistiken zu schulbezogenen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen werden.
Schulsozialarbeit gemäß § 13a des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sinnvoll und zügig umsetzen
Immerhin ist die politische Aufmerksamkeit für die Angebote der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit in den letzten Jahren gewachsen. Zusätzliche Fördermöglichkeiten gab es wenigstens vereinzelt im Rahmen des Bundesprogramms „Aufholen nach Corona“. Leider ist nicht ersichtlich, dass hier Kontinuität über das finanziell abgespeckte Anschlussprogramm „Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit“ gewährleistet wird.
Seit Juni 2021 ist die Schulsozialarbeit jedoch mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im neuen § 13a KJSG gesetzlich verankert. Hiermit ist eine langjährige Forderung der katholischen Jugendsozialarbeit erfüllt worden. Inhaltlich bleiben in der Formulierung des neuen Paragraphen jedoch zahlreiche Regelungsbedarfe offen und Fragen unbeantwortet, wie an anderer Stelle von der Autorin bereits kommentiert wurde.
Die Umsetzung des § 13a muss nun verbindlich in den Bundesländern erfolgen. Ein Jahr nach Verabschiedung des KJSG ist diesbezüglich bisher jedoch erst wenig passiert. Lediglich im Saarland und in Schleswig-Holstein ist ersichtlich, dass kürzlich Ergänzungen zur Schulsozialarbeit direkt in den Ausführungsgesetzen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgenommen worden sind. Dies geht aus der Übersicht zu den Gesetzen der Bundesländer des Portals der Kinder- und Jugendhilfe* hervor. In Thüringen existierte eine dezidierte Regelung zur Schulsozialarbeit sogar schon bevor es zur Einführung des § 13a Schulsozialarbeit kam. Geregelt ist die Schulsozialarbeit hier in § 19a des Ausführungsgesetzes mit genauer Auftragsbeschreibung, Jugendhilfezuständigkeit sowie Regelung zur Finanzierung der Leistung.
Im Saarland wird Schulsozialarbeit nun explizit als gemeinsame Aufgabe von Jugendhilfe und Schule im § 9a des Kinder- und Jugendförderungsgesetz formuliert. In Schleswig-Holstein kann das Bildungsministerium bei besonderem Bedarf sozialpädagogische Angebote der Schulträger gemäß § 24a Schulsozialarbeit des Ausführungsgesetzes fördern, wie seit längerem (zumindest für Grundschulen) üblich in dem Bundesland. Leider wird an dieser Stelle nicht die Gelegenheit genutzt bzw. im Gesetz nicht ersichtlich, welche Rolle die Jugendhilfe hier eigentlich einnimmt und wie sich diese Angebote nun genau zu den in § 24 Jugendsozialarbeit des Ausführungsgesetzes geregelten sozialpädagogischen Hilfen verhalten, die die schulische Ausbildung junger Menschen fördern.
Die Bundesländer sollten mit den weiterhin anstehenden Anpassungen in den Ausführungsgesetzen jedenfalls das Ausmaß des Flickenteppichs im Profil, den Aufgaben und Zuständigkeiten in der Schulsozialarbeit nicht weiter verschlimmern. Letztlich wirkt sich das auf die Qualität des Angebots und den Nutzen für die Kinder und Jugendlichen aus. Zum Aufgabenprofil existieren übergreifende Fachveröffentlichungen, wie die des Kooperationsverbundes Schulsozialarbeit.
Da sich auch der Bund weiter in der Förderung von Schulsozialarbeit einbringen möchte („Startchancen-Programm“), sollte er auch nicht aus der Verantwortung gelassen werden, zur Profilschärfung der Schulsozialarbeit beizutragen. Eine Verständigung zwischen Bund und Ländern hierzu ist unerlässlich sowie überfällig.
Startchancen-Programm“ muss an funktionierende Strukturen anknüpfen
Bundesprogramme können aus Sicht der katholischen Jugendsozialarbeit wichtige Entwicklungsanstöße bieten, stellen aber keine nachhaltige Lösung dar. Dies konstatiert selbst der aktuelle Bildungsbericht: Mit einer reinen Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel durch Bund und Länder seien die Qualitätsprobleme in den Institutionen des Bildungswesens nicht gelöst.
Mit dem „Startchancen-Programm“ plant das Bundesbildungsministerium zusätzlich 4.000 Stellen für „schulische Sozialarbeit“ in benachteiligten Regionen zu schaffen. Dies begrüßt die BAG KJS grundsätzlich wie auch das geplante Investitionsprogramm für barrierefreie, kinder- und jugendgerechte Schulen. Die BAG KJS fordert seit Jahren ein Bundesprogramm zur Stärkung, Verbreitung und Profilschärfung von Angeboten der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit.
Für die Konzipierung und Umsetzung des Startchancen-Programms bietet sich jetzt die Möglichkeit für eine zielgerichtete, ressortübergreifende Zusammenarbeit für gemeinsame Angebote von Schule und Jugendhilfe. Das Startchancen-Programm sollte somit an etablierte Strukturen der schulbezogenen Jugendsozialarbeit und der Schulsozialarbeit in den Bundesländern sinnvoll anknüpfen. In keinem Fall darf mit dem Vorhaben eine neue Parallelstruktur in den Schulen entstehen. Hierauf sollte der Bund im Zuge der Mittelverteilung einen Fokus legen. Entsprechend müssen sich Bund und Länder zeitnah über Eckpunkte zur Umsetzung und genaue Ziele des Programms verständigen. Nur so kann ein Beitrag zu gleichen Bildungschancen für alle gelingen.
Quelle: Julia Schad-Heim, Fachreferentin IN VIA im Netzwerk der BAG KJS Der Kommentar spiegelt die persönliche Meinung der Autorin wider.
* (letzte Prüfung: 18.08.2022, aktuelle verfügbare Fassungen der Ausführungsgesetze)