Eckpunkte zur leistungsrechtlichen Zusammenführung von Jugend- und Behindertenhilfe

Der Deutsche Caritasverband (DCV) legt ein Eckpunktepapier zur sogenannten „großen Lösung“ vor. Die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in unterschiedlichen Sozialleistungssystemen geregelt. Bestimmungen für die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung, mit geistiger und körperlicher Behinderung finden sich in §§ 53 ff SGB XII (Sozialhilfe). In § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) wird seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen und von einer solchen Behinderung bedrohten Minderjährigen einen Anspruch auf Eingliederungshilfe eingeräumt. Aufgrund der geltenden Rechtslage und der unterschiedlichen Zuständigkeiten entstehen in der Praxis Schnittstellenprobleme zwischen den Hilfesystemen. Diese haben negative Konsequenzen für junge Menschen und ihre Eltern bei der Leistungsgewährung. Der DCV befürwortet eine inklusive Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII.

Schnittstellenprobleme ausräumen – Leistungen aus einer Hand

Im Koalitionsvertrag vom 27. November 2013 haben die Regierungsparteien vereinbart, dass die Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven Hilfesystem weiterentwickelt und die Schnittstellen in den Leistungssystemen so überwunden werden sollen, dass Leistungen für Kinder mit Behinderung und für ihre Eltern möglichst aus einer Hand erfolgen können. Das Ziel der Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit oder ohne Behinderung und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen im SGB VIII entspricht zudem dem Inklusionsleitbild der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention.

Eine von der Arbeits- und Sozialminister- sowie Jugendministerkonferenz eingesetzte Arbeitsgruppe untersuchte und bewertete die Frage der leistungsrechtlichen Zusammenführung. Auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderungen“ geht das Eckpunktepapier des DCV ein.

Der Deutsche Caritasverband befürwortet die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Er spezifiziert diese Haltung wie folgt:

  • Der DCV unterstützt die Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII.
  • Der DCV unterstützt die Verlagerung der Anspruchsberechtigung von Leistungen aus dem SGB VIII auf die Kinder und Jugendlichen.
  • Der Deutsche Caritasverband fordert die Überprüfung und gegebenenfalls Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 SGB XII als Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII.
  • Der DCV regt die Entwicklung eines offenen Leistungskatalogs im SGB VIII an.
  • Der DCV unterstreicht die Notwendigkeit der Gestaltung eines Übergangsmanagments und Beibehaltung des § 41 SGB VIII.
  • Der DCV befürwortet die Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung ins SBG VIII.
  • Der DCV unterstützt, dass die beteiligungs- und personenorientierte Hilfe- und Teilhabeplanung als Steuerungsprinzip für die Gestaltung der Hilfen aus einer Hand in einem neuen SGB VIII angewendet werden soll.
  • Der DCV empfiehlt, die künftigen Maßnahmen zur Entwicklung und Teilhabe für Eltern kostenfrei zu gestalten.
  • Der DCV schlägt vor, dass der Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe weiterhin Rehabilitationsträger im Sinne des SGB IX bleibt.

Auszüge aus den Eckpunkten des Deutschen Caritasverbandes zur sogenannten „großen Lösung“:

Leistungen müssen passgenau, individuell und flexibel erbracht werden

„1. Der DCV unterstützt die Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive Weiterentwicklung des gesamten SBG VIII
(…) Die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes ist sachgerecht. Wenn „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ gesetzlich ausformuliert werden, muss sichergestellt werden, dass dies für alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe geschieht. Die Kinder- und Jugendhilfe muss in allen ihren Leistungsbereichen der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und im Bereich der Kindertageseinrichtungen grundlegend inklusiv ausgerichtet werden. Hilfen müssen passgenau, individuell und flexibel erbracht werden. Auch nach der leistungsrechtlichen Zusammenführung muss für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, insbesondere mit Mehrfachbehinderung, weiterhin eine umfassende und ganzheitliche Bedarfsdeckung durch Unterstützung gewährleistet werden. Für die Leistungserbringung müssen die Kriterien „individuelle Bedarfsermittlung“ und „Hilfe- und Teilhabeplanung“ zentral sein. Bei der Umgestaltung des Systems und seiner Verfahren muss darauf geachtet werden, dass die notwendigen Leistungen im erforderlichen Umfang weiterhin gewährt werden. (…)

Der Umfang der Leistungserbringung ist individuell zu ermitteln und zu bestimmen. Die Hilfen zur Erziehung müssen in ihrer Ausdifferenziertheit bestehen bleiben bzw. weiterentwickelt werden. Im Rahmen der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist die Pflicht des Leistungsträgers zur Erbringung von komplexen und ganzheitlichen Leistungen zu verankern. Das Wunsch- und Wahlrecht ist gemäß §5 SGB VIII der Formulierung im §9 SGB IX anzupassen.

Es ist erforderlich, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (…) auch als individuelle Komplexleistungen erbracht werden, d.h. dass professionsübergreifende Förderung und Assistenz erfolgen. Neben ärztlichen Leistungen werden medizinisch-therapeutische, psychologische, heil- und sonderpädagogische sowie psychosoziale Leistungen realisiert, die im Einzelfall interdisziplinär abgestimmt werden. Die Komplexleistung soll unter Einbezug der Eltern realisiert werden (…).“

Eigener Anspruch für Jugendliche bei Wahrung des Elternrechts

„2. Der DCV unterstützt die Verlagerung der Anspruchsberechtigung von Leistungen aus dem SGB VIII auf die Kinder und Jugendlichen
(…) Anspruchsberechtigte sollen künftig die Kinder und Jugendlichen sein. Für die Wahrung des Elternrechts Art. 6 GG bestehen aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes weiterhin ausreichend Gestaltungsspielräume. (…) Bei der Ausgestaltung der neuen Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe soll berücksichtigt werden, dass die ausdrückliche Einbeziehung der elterlichen Perspektive und ihre Unterstützung Teil der einzelnen Hilfearten ist. (…) Den Personensorgeberechtigten sollen die bislang gesetzlich geregelten Leistungen zur Unterstützung in ihren Erziehungsaufgaben auch weiterhin nicht nur als Anspruch für ihre Kinder, sondern auch als Leistung für sie als Personensorgeberechtigte zur Verfügung stehen.“

Teilhabebeschränkungen beseitigen!

„3. Der Deutsche Caritasverband fordert die Überprüfung und gegebenenfalls Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne des §53 Abs. 1 SGB XII als Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII
(…) Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist immer zentraler Bezugspunkt der Einschätzung des Hilfebedarfs in der Eingliederungshilfe. Diese Orietierung ist in der Hilfeplanung bei der Kinder- und Jugendhilfe zu implementieren. Auf der Tatbestandsebene könnte der Begriff „wesentliche Behinderung“ entfallen. Das Augenmerk ist darauf zu legen, Teilhabeeinschränkungen zu beseitigen.

Eine Orientierung bietet im Einzelfall die Internationale Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), die 2001 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf verabschiedet wurde. Diese Übersicht soll als Planungs- und Handlungsbasis für Assistenz, Therapie, Schulung, Integration und Förderung von jungen Menschen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe angewandt werden. (…) Der Deutsche Caritasverband hält die Evaluation des Begriffs „wesentliche Behinderung“ unter Berücksichtigung der ICF-Kriterien für sachgerecht. Damit wird die Rechtsanwendung erleichtert. Die ICF-Kriterien sollen dabei die Grundlage für die Evaluation sein.“

Ein offener Leistungskatalog eröffnet Raum für die Maßnahmen, die zum individuellen Bedarf passen

„4. Der Deutsche Caritasverband regt die Entwicklung eines offenen Leistungskatalogs im SGB VIII an
(…) Das Prinzip der Bedarfsdeckung der Eingliederungshilfe erfordert einen offenen Leistungskatalog. Ein teilhabeorientiertes SGB VIII hat Maßnahmen anzubieten, die den individuellen Bedarf decken. Nur mit einem offenen Leistungskatalog kann der Vielfalt von Unterstützungsbedarfen von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen und sichergestellt werden, dass individuell bestehende Teilhabeeinschränkungen von Kindern und Jugendlichen bei der Hilfegewährung ausgegelichen werden können. Durch einen offenen Leistungskatalog wurde in der Vergangenheit beispielsweise die Schaffung von Angeboten wie Schulbegleitung möglich.“

Das Erreichen der Volljährigkeit ändert nicht automatisch die Situation

„5. Der DCV unterstreicht die Notwendigkeit der Gestaltung eines Übergangsmanagements und die Beibehaltung des §41 SGB VII
(…) Der Übergang vom Jugendalter hin zum Erwachsenenalter verläuft fließend und ist als Entwicklungsprozess zu verstehen. Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe der Kinder- und Jugendhilfe müssen über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt werden, solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Entwicklung einer eigenverantwortlichen Lebensführung notwendig ist. (…)

Weitergehend als die bisherige Regelung des §41 SGB VIII müssten die Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe durch den Träger der Kinder- und Jugendhilfe im Einzelfall bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährt werden, falls die Persönlichkeitsentwicklung dies erfordert und ein Übergangsmanagement in Hilfen nach SGB IX nicht übergangslos und zielführend gewährleistet werden kann.

Der Träger der Kinder- und Jugendhilfe bleibt weiterhin zuständig für die Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben nach SGB IX, um eine Leistungsgewährung aus einer Hand zu garantieren.

In der Praxis hat sich das Programm „Jugend stärken“ beim Übergangsmanagement bewährt. Diese und ähnliche Programme sollten künftig auch für junge Menschen mit Behinderung offen stehen und angemessene Unterstützungsformen im Quartier gewährleisten. (…)“

Quelle: Deutscher Caritasverband

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