Mobilität und Flexibilität wird von immer mehr Menschen als Persönlichkeitsmerkmal erwartet. Es ist immer eine besondere Herausforderung, einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle in weiterer Entfernung zum bisherigen Wohnort anzunehmen. Wenn wir zur Arbeit pendeln oder gar umziehen, stellt das einen großen Eingriff in die bisherigen Lebensgewohnheiten dar. Am Beispiel von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ländlichen Räumen ostdeutscher Bundesländer hat die Manege gGmbH aus Berlin die Mobilitätsbereitschaft und Mobilitätsfähigkeit von jungen Menschen untersucht, die sozial benachteiligt und/oder individuell beeinträchtigt sind. Die Ergebnisse dokumentieren wir in der neuen Ausgabe der ASPEKTE.
Auszüge aus der Pilotstudie zur Mobilität sozial benachteiligter und/oder individuell beeinträchtigter Jugendlicher und junger Erwachsener in den ländlichen Räumen der ostdeutschen Bundesländer in „ASPEKTE 76 – Berufliche Mobilität„:
„(…) Ziele und Schwerpunkte
In der gesellschaftlichen sowie politischen Debatte zur regionalen Mobilität beim Ausbildungs- und Erwerbseinstieg in den ostdeutschen Bundesländern lebender Jugendlicher und junger Erwachsener ist recht viel über die Probleme der ostdeutschen Regionen, sehr wenig hingegen über die Jugendlichen und jungen Menschen zu erfahren. (…)
Die vorliegenden Befunde zur regionalen Mobilität und hier insbesondere zur Migration zeigen, dass in den ostdeutschen Bundesländern wesentlich mehr Jugendliche als in den westdeutschen Bundesländern bereits zu Ausbildungsbeginn mobil werden. Jedoch geht keine der Untersuchungen zur regionalen Mobilität ostdeutscher Jugendlicher und junger Erwachsener auf die Integrations- und Mobilitätsprobleme derjenigen Jugendlichen und jungen Menschen in den ostdeutschen Bundesländern ein, die aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen oder aufgrund ihrer sozialen Situation i. S. SGB VIII, SGB II, SGB III als benachteiligt anzusehen sind. Aus praktischen Umgangserfahrungen mit diesen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist allerdings bekannt, dass diese Gruppe im Vergleich zu nicht benachteiligten und/oder individuell beeinträchtigten Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark mobilitätsgehemmt ist. (…)
Neben kontextuellen Bedingungen wie sozialstaatlichen Interventionen und individuellen Merkmalen spielen vorgängige Mobilitätserfahrungen, individuelle und/oder familiäre Ressourcenausstattung sowie lokal verankerte Sozialbindungen und soziale Netzwerke eine Rolle. Regionale Mobilität kann von bestimmten Lebensereignissen abhängen und deshalb im Verlaufe einer Biografie variieren. So ist regionale Mobilität für Jugendliche und junge Erwachsene vor allem beim Übergang von der Ausbildung ins Erwerbsleben wahrscheinlich. Diese beiden „Statuspassagen“ markieren zudem das Erwachsenwerden, in dessen Verlauf sich sowohl die mobilitätsrelevanten individuellen Kompetenzen Jugendlicher als auch die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Sozialbindungen stark verändern. Trifft das auch auf junge Menschen in ländlichen Räumen ostdeutscher Bundesländer zu, die aufgrund ihrer sozialen Situation als benachteiligt anzusehen sind? (…)“
Abwanderung – eine Option der Verbesserung der Lebenschancen
„An diesem Punkt setzt das im Netzwerk der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. durchgeführte Forschungsprojekt an. Es verstärkt die Ergebnisse der vor nahezu einem Jahrzehnt durchgeführten Studien. Dazu wurden 35 junge Menschen aus den östlichen Bundesländern befragt. Demnach ist den befragten Jugendlichen bewusst, dass außerhalb ihres Lebensorts Chancen bestehen, die ihnen selbst bei verbesserter Qualifikation an ihrem Lebensort weder gegenwärtig gegeben sind noch zu einem späteren Zeitpunkt gegeben sein werden, und dass Abwanderung eine Option der Verbesserung ihrer Lebenschancen darstellt.
Dass gleichwohl Abwanderung oder Pendeln zwischen Lebensort und Arbeitsort nicht als Möglichkeit des Gewinns von Lebenschancen wahrgenommen wird, liegt daran, dass Jugendliche und junge Menschen, die zur Klientel von Projekten der Aktivierungshilfe gehören, ihre Lebenssicherheit einerseits aus der unmittelbaren räumlichen Nähe zu ihrer Familie, ihrer Verwandtschaft und ihnen seit ihrer Kindheit bekannten lebensweltlichen Verkehrskreisen gewinnen. Das Vertrauen in sich selbst, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, spielt eine untergeordnete Rolle. Selbst wenn diesen Bezugsgruppen von den Befragten nicht die Fähigkeit zugesprochen wird, sie bei ihrer sozialen und beruflichen Integration zu unterstützen. Andererseits gewinnen die Jugendlichen aus einer ausschließlich an Personen gebundenen, enttäuschungsfreien und verlässlichen sozialpädagogischen Begleitung Lebenssicherheit. Besonders Gewicht besitzt dabei das gewachsene Vertrauen in eine professionelle Dauerpräsenz. Nicht „Mobilität an sich“, sondern vielmehr „unbegleitete Mobilität“ ist für die Klientel der Projekte der Aktivierungshilfen ein Problem. (…)
Erfahrungen und Ergebnisse
(…) Das Durchschnittsalter der Befragten betrug 21 Jahre. Befragt wurden 11 weibliche und 24 männliche Teilnehmer/-innen aus Maßnahmen der Aktivierungshilfen.
- Lebenslauf und regionale Mobilität – Von insgesamt 35 Befragten leben 23 (66 %) seit ihrer Geburt an dem Ort, an dem sie zum Zeitpunkt der Befragung lebten. Nur sehr wenige Befragte sind jemals „aus ihrem Wohnort herausgekommen“. Zwölf Befragte (34 %) leben seit einem Zeitraum zwischen fünf und zwei Jahren an dem Ort, an dem sie zum Zeitpunkt der Befragung wohnten. Auch die Entfernung der Projektstandorte zum örtlichen Lebensmittelpunkt (Adresse) der Befragten erzwingt keinen nennenswerten Mobilitätsaufwand: 14 Befragte (40 %) erreichen den Projektstandort zu Fuß, und die Mehrheit dieser Befragten erreicht den Projektstandort innerhalb eines Zeitraums von 20 Minuten. 16 Befragte (46 %) erreichen den Projektstandort mit öffentlichen Verkehrsmitteln. (…) Diese Kleinräumigkeit charakterisiert auch die Topographie der gesellschaftlichen Teilhabe der Befragten: Sie beschränkt sich (in subjektiv befriedigendem Maße) auf einen eingegrenzten Lebensraum. (…)
- Berufliches Selbstbildnis – Vorhandensein und Eigeninitiative – Es trifft nicht zu, dass „diese Jugendlichen“ kein berufliches Selbstbild haben, und es trifft ebenso wenig zu, dass „diese Jugendlichen“ „nicht wissen, was sie wollen“. Tatsache ist vielmehr, dass sie präzise und selbstbewusst anzugeben wissen, wer sie beruflich sein möchten, wenn sie es nur könnten. Sie wissen, dass ein Beruf und damit eine berufliche Ausbildung Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Voraussetzung für gesellschaftliche Integration – auch für gesellschaftliche Integration im Sinne von „soziale Anerkennung“ – sind. Sie sind auch in der Lage, die Nichtrealisierbarkeit ihrer beruflichen Selbstprojektion gedanklich vorwegzunehmen und sich hierauf durch den Entwurf alternativer beruflicher Selbstprojektionen kognitiv und motivational einzustellen. Nahezu die Hälfte der Befragten kann eine deutliche berufliche Zweitprojektion benennen. (…) Den Befragten ist bewusst, dass ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt biographisch bedingt die Voraussetzungen für eine ihrem (beruflichen) Selbstbild entsprechende Lebens- und Zukunftsgestaltung fehlen. Sie wissen aber auch, dass ihnen diese Voraussetzungen „hier“, das heißt in den Angeboten der Träger, vermittelt werden. Sie erkennen dies ausdrücklich an, äußern in einer bemerkenswert großen Anzahl von Fällen explizit Dankbarkeit. Gleichwohl bestehen Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, eigenverantwortlich das Leben zu gestalten und eigene Vorstellungen zu realisieren. Ohne die Hintergrundsicherheit durch die Angebote der Träger dominieren Selbstzweifel und Versagensängste. (…)
- Mobilitätsbereitschaft und Hilfe – 12 der mobilitätsbereiten Befragten (34 % aller Befragten) vertraten die Auffassung, zur Verwirklichung ihrer Mobilitätsbereitschaft auf Hilfe angewiesen zu sein. Befragt, ob diese Hilfe von der bisher in den Projekten erfahrenen Art sein solle, antworteten alle 12 mit „Ja“. (…)
Erkenntnisse und perspektivischer Handlungsbedarf
(…) Die Mehrheit der im Rahmen der in die Erhebung einbezogenen Projekte befragten Jugendlichen kann keine positive Wanderungsentscheidung treffen, weil in ihrer individuellen Kosten-Nutzen-Rechnung der erwartete Nutzengewinn regionaler Mobilität deren soziale und psychische Kosten nicht übersteigt. Diese Tatsache beruht auf der sozialen Benachteiligung und/oder individuellen Beeinträchtigung dieser Jugendlichen. Ihnen mangelt es an kulturellem und sozialem Kapital. Daraus folgt ein Mangel an Handlungskompetenz zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung. (…)
Zum Ausgleich dieser benachteiligungs- und beeinträchtigungsbedingten Mangellagen sind über die Verstetigung der aktuellen Projekte hinaus zeitlich, sachlich und personell stabile organisatorische Arrangements einer professionellen Hilfe zur Alltagsbewältigung erforderlich. (…) Die Jugendlichen müssen wissen, dass auch dann, wenn sie formal nicht mehr zu einem Projekt gehören, in allem, was sie betrifft, eine Stelle bedingungslos für sie da ist. (…)“
Die neuen ASPEKTE der Jugendsozialarbeit bestellen Sie kostenfrei bei Lydia Krämer.
Quelle: BAG KJS