Funktionaler Analphabetismus bei Jugendlichen in Einrichtungen der JBH

Die Expertise verfolgte das Ziel wissenschaftlich gesichert zu erkunden, in welchem Ausmaß „Funktionaler Analphabetismus“ auftritt und welche Spezifika in Bezug auf die Jugendlichen identifiziert werden können. Darauf aufbauend werden Handlungsempfehlungen zur Weiterbearbeitung des Phänomens in der Jugendberufshilfe gegeben. Grundlage dafür bildete die Leo.-Level-One-Studie, deren Ergebnisse auf die Zielgruppe hin spezifiziert wurden, sowie eine eigene Erhebung mit Tests und Einzelbefragungen.

Auszüge aus den Ergebenissen und Handlungsempfehlungen der Expertise Funktionaler Analphabetismus bei Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendberufshilfe:
„(…) Größenordnung des Funktionalen Analphabetismus
Um die Größenordnung des Funktionalen Analphabetismus in dem Segment zu bestimmen, werden zunächst die Ergebnisse der Leo. – Level-One Studie (Grotlüschen/Riekmann 2012) und danach die aus der eigenen Erhebung dargestellt.

Berechnungen aus der Leo.–Level-One Studie in Bezug auf die Zielgruppe
(…) Bei den 902 Personen mit Erfahrungen aus berufsvorbereitenden Maßnahmen, die an der Leo-Studie teilgenommen haben, waren nur 276 im Berufsvorbereitungsjahr, dem Maßnahmetyp, der dem Angebotsprofil der BAG ÖRT und der Jugendsozialarbeit entspricht. Die in diesem Kapitel zusammengestellten Ergebnisse beziehen sich jedoch alle auf die Gesamtanzahl (902) von berufsvorbereitenden Maßnahmen und sind somit bedingt anwendbar für die Argumentation in der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit. Außerdem wurden die außer- bzw. überbetrieblichen (staatlich geförderten) Ausbildungsangebote in der Leo.-Level-One-Studie nicht extra berücksichtigt.

Aus den Ergebnissen lassen sich somit nur Tendenzen für die Gruppe der Teilnehmenden von Berufsvorbereitungsmaßnahmen ablesen: ## Der Anteil der funktionalen Analphabeten liegt bei der Gruppe von Personen, die jemals eine berufsvorbereitende Maßnahme begonnen haben bei 19 Prozent und die die berufsvorbereitende Maßnahme als höchsten Abschluss haben bei 20 Prozent. (…)
## (…)Die Personen, die hinsichtlich der Frage nach dem Beginn einer beruflichen Ausbildung keine der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten auf sich zutreffend fanden, ist der Anteil der funktionalen Analphabeten mit 36 Prozent deutlich höher als in allen anderen Gruppen.(…)
## In der Teilstichprobe gibt es einen deutlichen Unterschied in der Geschlechterverteilung: Es sind viel mehr Männer als Frauen betroffen. In der Gesamtstichprobe des Leo-Datensatzes sind Männer wie Frauen gleichermaßen von funktionalem Analphabetismus betroffen.
## Der Migrationshintergrund ist ein starker Prädiktor für funktionalen Analphabetismus. Auch in der Teilstichprobe zeigt sich, dass Menschen mit Migrationshintergrund mehr betroffen sind: Bei den 129 Personen mit einer begonnen Berufsvorbereitungsmaßnahme und einer anderen Erstsprache als Deutsch sind 47 Prozent von funktionalem Analphabetismus hinsichtlich der deutschen Schriftsprache betroffen, 15 Prozent bei denjenigen mit Deutsch als Erstsprache.
## 50 % der Teilnehmenden haben keinen Schulabschluss. Von ihnen ist die Hälfte von funktionalem Analphabetismus betroffen.
Eigene Erhebung: Internetbasierter Lese-Schreibtest
(…) 6 Prozent sind dem Alpha-Level 1,9 Prozent dem Alpha-Level 2 und 19 % sind dem Alpha-Level 3 zuzuordnen. Insgesamt sind dies 34 % der Teilnehmenden in den unteren Literalitätsstufen, die zum funktionalen Analphabetismus gezählt werden. Die Expertise-Datenbasis ergibt damit einen niedrigeren Literalitätsgrad als die Leo-Daten.
Interessant ist die Differenzierung der Literalitätsgrade nach Maßnahmetypen: berufsvorbereitende Maßnahmen und geförderte Ausbildungsmaßnahmen (Förderung durch SGB II bzw. SGB VIII).

Hier zeigt sich auf Basis unserer Daten eine große Differenz. In Ausbildungsmaßnahmen (41,5 Prozent) ist der Anteil funktionaler Analphabeten fast doppelt so hoch, wie in den berufsvorbereitenden Angeboten (23,5 Prozent). (…)

Für die Stichprobe der Expertise kann gezeigt werden, dass der Literalitätsgrad niedriger ist als im Bevölkerungsdurchschnitt und damit der Anteil des funktionalen Analphabetismus höher ist. (…)

Handlungsempfehlungen, Bewertung und Ausblick
(…) Handlungsempfehlungen auf der Ebene der Organisation ## Maßnahmenspezifische alphabetisierungssensitive Aktivitäten: Aufgrund des Ausmaßes an Lese-Rechtschreibdefiziten in spezifischen Maßnahmen, muss dringend empfohlen werden, alpahebtisierungssensitive Aktivitäten auf Trägerebene zu konzipieren, umzusetzen und ggf. zu evaluieren.
## Achtsamkeit für spezifische Lernsituation und Diagnostik: In den genannten Lernsituationen sollten spezifische Prozesse oder/und Kompetenzen zur Verfügung gestellt werden, um eine individuell angemessene und zuverlässige Diagnostik zu gewährleisten. (…)
## Alphabetisierungspädagogik für einige Fachkräfte: (…) Bei jedem Träger sollten einige Fachkräfte motiviert und unterstützt werden, spezifische Weiterbildungen/Studien zur Alphabetisierung zu absolvieren.
Handlungsempfehlungen auf der Ebene der pädagogischen Prozesse ## Adressabilität beachten: sichere Beziehung (zu Pädagogen; Sozialarbeitern etc.) herstellen; mit personenbezogener Wertschätzung zu einer belastungsfähigen gegenseitigen Wahrnehmung verhelfen (wird systemtheoretisch mit dem Terminus „Adresse“ beschrieben), da dies wesentlich die Lernmotivation der Jugendlichen zu unterstützen vermag;
## Inhaltlich/thematisch von den Relevanzen (der Lebenswelt) der Jugendlichen ausgehen: in sinnvollen Schritten voran schreiten, die offenbar gewünschte Gewissenhaftigkeit beachten, was wiederum zur Offenheit für neue Lernerfahrungen verhelfen kann, denn diese ist – wie die Daten belegen – durchaus auch bei Jugendlichen mit ungenügender Lese-Schreib-Kompetenz angelegt.
## Zielgruppenspezifische Anregung zur Selbstreferenz über Feedback: Über individuelle Reckmeldungen den Jugendlichen zu einer realitätsnahen und individuell ausdifferenzierten Reflexionsfähigkeit verhelfen; d.h. die Selbstwahrnehmung anzuregen, die wiederum nur selbst angeeignet werden kann;
## Nutzen von Netzwerken erleben: Die Daten deuten auf einen gewissen Alleingang vieler Jugendlichen hin: „ich sprech dann mit niemanden drüber, ich muss das selber für mich klären“. Der Austausch zu Lebensfragen, Zielen, Problemen ist kein vertrauter sozialer Modus. In den Maßnahmen könnte dies in der Beratung oder in der sozialpädagogischen Gruppenarbeit aufgenommen und in Teilen eingeübt und reflektiert werden.
Bewertung und Ausblick
(…) Die Wirksamkeit der Berufsvorbereitungs- und Ausbildungsmaßnahmen der Träger der BAG ÖRT in Bezug auf die hier identifizierte große Gruppe Jugendlicher mit niedrigem Alphabetisierungsgrad könnte unterstützt werden, wenn die oben angeführten Empfehlungen umgesetzt werden könnten. Dafür ist es geboten, Fachkräfte entsprechend aus- bzw. weiterzubilden und passende Konzepte für diesen Bereich zu entwickeln und zu erproben. Diese liegen bisher nicht vor. Daher wäre es dringend geboten, im Rahmen spezifisch konzipierter pädagogischer Programme eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation einzubeziehen. Hier könnten insbesondere durch ethnographische Beobachtungen in realen Lernsituationen ergänzende und erweiterte Daten (…) gegenüber den hier angegebenen Selbstauskünften und dem verwendeten Test erreicht werden.“

Die Expertise in vollem Textumfang entnehmen Sie aufgeführtem Link.

Link: http://bagoert.de/fileadmin/daten/Ver%C3%B6ffentlichungen/Alpha_Expertise__final.pdf

Quelle: BAG ÖRT

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