Die AWO legt den Abschlussbericht einer Langzeitstudie zu Lebenslagen von armen Kindern und Jugendlichen vor: Aus armen Kindern werden in den meisten Fällen arme Jugendliche, die von dauerhafter gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht sind. Die Auswirkungen von Armut sind am stärksten, wenn sie andauert. Je länger die Kinder von Armut betroffen sind, desto geringer sind ihre Bildungs- und Teilhabechancen als Jugendliche. Dabei ist Armut nicht nur als finanzielle Schlechterstellung zu verstehen, sondern als defizitäre Lebenslage, die sich auf die gesamte Lebenssituation von Betroffenen auswirkt. Die Langzeitstudie der AWO begleitete 900 Kinder vom Vorschulalter an über einen Zeitraum von 15 Jahren und untersuchte die qualitativen Folgen von Armut auf die Entwicklung dieser Kinder.
Zentrale Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen der AWO-ISS Langzeitstudie „Von alleine wächst sich nichts aus …“ zur Kinder- und Jugendarmut:
„Die armen Familien arbeiten mehrheitlich
Die armutsbetroffenen Familien setzen sich aus gleich großen Gruppen zusammen: „arbeitende Arme“ und „arbeitslose Arme“. Die wesentliche Ursache für die finanzielle Mangellage ist die fehlende Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit infolge struktureller Marktbedingungen sowie ein erschwerter Zugang aufgrund individueller Qualifikationsmängel oder familiär bedingter Zeitbegrenzungen. 70 % der armen Eltern arbeiten, allerdings häufiger in Teilzeit als nicht arme Eltern und häufiger mit einem Alleinverdiener. Mit zunehmenden Einkommen gewinnt das Modell der doppelten Vollzeiterwerbstätigen an Gewicht. Zwei Drittel der armen Mütter würden gerne mehr arbeiten, haben aber wenig Chancen. Nicht arme Mütter möchten hingegen eher ihre Arbeitszeit reduzieren. 14 % der Befragten – darunter etwas mehr als die Hälfte der armen Familien – übten entweder gemeinsam oder alleine eine Vollzeittätigkeit aus und gehören damit zur Gruppe „Working Poor“. Diese Gruppe hat seit der letzten Erhebung 2003/04 deutlich zugenommen. (…)
Arme Jugendliche mit Migrationshintergrund wachsen häufiger im Wohlergehen auf als arme Jugendliche ohne Migrationshintergrund
Die lange Zeit in Wissenschaft und Praxis fast schon gesetzmäßig angeführte soziale Problemgruppe „Junge Menschen mit Migrationshintergrund“ entpuppt sich mehr und mehr als Ausdruck von Vorurteilen und Verkürzungen, verbunden mit massiven sozialen Stigmatisierungen. In der aktuellen Untersuchung sind die Daten erneut eindeutig. Den prägenden Risikoeinfluss auf die Entwicklung junger Menschen hat die finanzielle Lage der Familie, egal ob mit oder ohne Migrationshinweis. Die jetzigen Ergebnisse reichen aber noch weiter: Es gibt bedeutende Unterschiede innerhalb der Gruppe der armutsbetroffenen Jugendlichen: Arme Migrantenjugendliche wachsen im Vergleich zu armen deutschen Jugendlichen wesentlich häufiger im Wohlergehen auf. Erstere haben mehr Ressourcen in der materiellen und gesundheitlichen Lage, sie haben weniger Ressourcen in der kulturellen Lage. Insgesamt verfügen die armen deutschen Jugendlichen über die geringsten Ressourcen.
Der ebenfalls oft und lange in der (Fach)Öffentlichkeit vorgetragene Schluss, die kulturelle Herkunft bestimmt den Schulerfolg und Migrantenkinder sind aus diesem Grund die Hauptrisikogruppe, lässt sich so einfach nicht aufrechterhalten. Darauf weisen bereits einige wenige neuere Forschungsarbeiten hin. Die AWO-ISS-Ergebnisse reichen weiter: Ein Untersuchungsergebnis der 3. Studie (zu den Zehnjährigen am Ende der Grundschulzeit – 2003/04) lautete, der Schulerfolg wird durch die Armut entscheidend bestimmt und durch den Migrationshintergrund verstärkt. Dieses Ergebnis findet sich jetzt in der 4. Studie (bei den 16-/17-Jährigen am Ende der Sekundarstufe I – 2009/10) nicht mehr. Vielmehr mildert der Migrationseffekt den Armutseffekt etwas ab. Unter den armen Jugendlichen bilden die deutschen Jugendlichen die Hauptrisikogruppe. Das bessere Abschneiden der armen Migrantenjugendlichen beruht primär auf vier Gründen: (1.) Die Eltern haben eine höhere Bildungsaspiration und ein höheres Schulbildungsniveau. (2.) Die Kinder haben länger die Grundschule besucht statt direkt in niedrigere Schulformen der SEK I (also Haupt- oder Förderschule) zu wechseln. (3.) Eltern wie Kinder haben ein höheres Sozialkapital, was sich vor allem in der Qualität der Netzwerke ausdrückt; arme deutsche Jugendliche leben isolierter als arme Migrantenjugendliche. (4.) Arme Migranten wachsen in stabileren Familienformen, meist der klassischen Kernfamilie, auf, und haben wesentlich weniger Veränderungen durch Trennung/Scheidung/Wiederverheiratung der Eltern zu bewältigen. (…)
Jugendliche in ALG-II-Familien sind noch ärmer dran als Jugendliche in nur einkommensarmen Familien
Lediglich 15 % der Jugendlichen in Familien mit ALG-II-Bezug wachsen im Wohlergehen auf, dagegen 43 % in multipler Deprivation. Bei den Jugendlichen in nur einkommensarmen Familien sind dies 22 % bzw. 31 %. Woran liegt das, obwohl ALG-II-Familien im Monat mehr Geld zur Verfügung haben als „nur“ einkommensarme Familien? Herausragend ist die massive Unterversorgung der Jugendlichen im ALG-II-Bezug in der materiellen und der kulturellen Lebenslage. Zwei Drittel weisen hier „Auffälligkeiten“ auf. Das gilt zum Beispiel beim Kauf von Kleidung, bei Defiziten im Wohnumfeld oder der Ermöglichung von Hobbys, bei kulturellen und geselligen Aktivitäten mit den Eltern, bei den im Haushalt zur Verfügung stehenden Büchern oder auch bei der Nutzung neuer Erfahrungsmöglichkeiten durch einen Job neben der Schule. Letztere ermöglichen die gesetzlichen Vorgaben so gut wie nicht, da das Jobeinkommen auf die Regelleistungen angerechnet wird. (…)
Arme Jugendliche engagieren sich gleich viel – aber es gibt eine ausgeschlossene Gruppe
Es lassen sich keine Partizipationsdefizite armer Jugendlicher feststellen, vielmehr hängt das Engagement der 16- und 17-Jährigen von ihrer Gesamtlebenssituation ab. Während Jugendliche im Wohlergehen sich vielfach einbringen können und auch benachteiligten Jugendlichen die Partizipation noch mehrheitlich gut gelingt, zeigen sich bei den multipel deprivierten jungen Menschen bereits deutliche Defizite. Möglicherweise hat aufgrund ihrer Multiproblemlagen das Wahrnehmen von zusätzlichen Angeboten keine Priorität, die dadurch geringeren Mitgestaltungs- und Erfahrungsmöglichkeiten müssen jedoch kritisch betrachtet werden. Nicht zuletzt dient Partizipation und Engagement im Jugendalter der Entwicklung von zivilgesellschaftlichen und bürgerlichen Kompetenzen. Multipel deprivierte Jungen und Mädchen brauchen ganz besonders die Erfahrung, die eigene Meinung in einen Gruppenprozess einbringen zu können. Zugleich werden so positiv besetzte Erfahrungen zur aktiven politischen Mitgestaltung befördert, die letztendlich auch im Erwachsenenleben weiter wirken. (…)
Welche Empfehlungen zum Handeln ergeben sich?
Armut als Lebenslage ist der stärkste Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Armutsprävention, d. h. die Verhinderung bzw. Beseitigung von Armut, und nicht nur die Abmilderung von Armutsfolgen ist deshalb eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe.
Dies erfordert u. a.:
- Grundvoraussetzung für Armutsprävention ist eine Infrastruktur für Kinder und Eltern, die eine Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit ermöglicht und zwar vom Umfang und der Qualität her so, dass alle Eltern/Kinder bedarfsgerecht versorgt werden. Neben ganztägigen Betreuungsangeboten und Ganztagsschulen ist eine arbeitnehmerorientierte Flexibilisierung der Arbeitszeitmodelle notwendig, die auch geringer qualifizierte Eltern nutzen. (…)
- Gleichzeitig müssen Erwerbseinkommen armutsfester werden. Erwerbstätigkeit ist angemessen zu entlohnen und die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen weiter voranzutreiben und durchzusetzen. Ebenfalls ist lebensbegleitendes Lernen und die Weiterbildung, welche auch geringer qualifizierte Menschen erreicht, wichtig.
- Eine bedarfsgerechte Kindergrundsicherung würde ebenfalls dazu beitragen, den Anteil der armen Kinder, Jugendlichen bzw. Familien wesentlich zu reduzieren. Wäre diese gewährleistet, so fielen Familien nur dann unter die Armutsgrenze, wenn sie selbst für ihren eigenen Bedarf nicht aufkommen könnten. (…)
Jugend ist eine riskante Lebensphase: Gerade arme Jugendliche mit multiplen Belastungen drohen an den jugendspezifischen Entwicklungsaufgaben – nicht zuletzt einem gelungenen
Übergang in den Beruf – zu scheitern. Erforderlich ist
- gemeinsames Lernen und Förderung in der SEK I mit dem Ziel allen Jugendlichen mindestens einen Realschulabschluss zu ermöglichen. Laut Nationalem Bildungsbericht ist dies eine zukünftige Mindestvoraussetzung für eine nachhaltige berufliche Qualifizierung;
- die zeitlich flexible, an den individuellen Kompetenzen orientierte Ausrichtung des schulischen Bildungsweges, so dass jungen Menschen unterschiedlich lange Zeit für den erfolgreichen Schulabschluss eingeräumt wird, ohne ein diskriminierendes und demotivierendes System von Rückstufungen und Querversetzungen;
- die systematische Kompensation gering ausgeprägter elterlicher Netzwerke und Kompetenzen bei Berufsorientierung und Berufswahl durch die flächendeckende Förderung von Schulsozialarbeit und schulbezogenen Unterstützungsnetzwerken;
- zur Bearbeitung der Entwicklungsaufgaben Jugendlicher eine umfassende ganzheitliche Förderung im Sinne eines erweiterten Bildungsbegriffs. Dazu zählen außerfamiliale und außerschulische Erlebnis- und Erfahrungsräume und Orte, die sowohl Selbstorganisation ermöglichen als auch in Krisen Erwachsene als kompetente Ansprechpartner bieten. Wichtiger Teil ist die Jugendhilfe mit Angeboten in der Schule und dem Quartiersbezug. (…)
Die künftige kommunale Infrastruktur für junge Menschen muss eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Angebote des Bildungs- und Gesundheitswesens sowie der Kinder-/Jugend- und Familienhilfe für Alle vorhalten und gleichzeitig zur individuellen Förderung, Unterstützung
und Begleitung in der Lage sein.
- Dazu zählen der Ausbau gebundener, kostenfreier Ganztagsschulen, die Neuausrichtung des Schulsystems mit Schwerpunkt soziale Inklusion, die Verknüpfung von Schul- und Sozialpädagogik im Schulsystem sowie die Ausweitung der Eltern-/Familienangebote „von der Schwangerschaft bis zum erfolgreichen Beruf(seinstieg)“ usw.
- Ganz besonders ist der Auf- und Ausbau von Präventionsketten umzusetzen. D. h., die Sozialen Hilfen müssen biografiebegleitend als Prozesskette entwickelt werden. Insbesondere müssen die Bildungs-, Betreuungsinstitutionen und Sozialen Dienste systematisch Übergänge zu den anschließenden Institutionen sicherstellen. Der Übergang der jungen Menschen und Ihrer Eltern vom Kindergarten zur Grundschule, von der Grundschule zur SEK-I-Schule und bei Bedarf von der allgemeinbildenden Schule ins Übergangssystem muss begleitet und abgesichert werden, um die Expertise der jeweils eingebundenen Fachkräfte über die Ressourcen und die Unterstützungsbedarfe der jungen Menschen und ihrer Eltern nicht ungenutzt verfallen zu lassen sondern insbesondere bei belasteten Kindern/Eltern systematisch zu nutzen. Auch Beziehungsabbrüche können vermieden werden, wenn eine systematisch begleitete Übergabe an die nächste Bildungs- und Unterstützungsinstitution als fachlicher Standard entwickelt wird.
- Teil dessen ist eine beständige Qualifizierung der Fachkräfte genauso wie entsprechende Rahmenbedingungen (Personal-/Sachausstattung, Gruppen-/Klassenstärke usw.), vor allem in Einrichtungen mit hohem Anteil an armen und hochbelasteten jungen Menschen.
- Wesentliche Voraussetzung ist die Übernahme gemeinsamer Verantwortung durch Bund, Land und Kommune mit aufeinander abgestimmter Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben und zwar so, dass eine fördernde Wirkung politischer Entscheidungen und von Verwaltungsumsetzung sowohl auf kommunaler Ebene – dem Lebensort der jungen Menschen – als auch bei den benachteiligten Familien (Eltern und Kinder) tatsächlich ankommt. (…)“
Die 263 Seiten umfassende Studie kann beim AWO Verlag verlag@awo.org unter der Vertriebsnummer 02084 zum Preis von 18 Euro zzgl. Versandkosten sowie über den Buchhandel (ISBN 978-3-9815319-1-6) bezogen werden.
Quelle: AWO Bundesverband