Auszüge aus der AGJ-Stellungnahme „Erasmus für alle? EU-Programm für eigenständige Jugendpolitik.“ zum Vorschlag der EU-Kommission für ein EU-Programm „Erasmus für alle“:
“ … Mit der vorliegenden Stellungnahme nimmt die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ eine jugendpolitische Bewertung dieses Programmentwurfs vor. Die AGJ hat schon früh deutlich formuliert, dass sie ein eigenständiges Jugendprogramm mit eigener Haushaltslinie bevorzugt hätte. …
Die Erfüllung der im Folgenden formulierten Anforderungen an das Programm ist notwendig, um ein taugliches Förderinstrument der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa bereitzustellen, mit dem die Bedeutung von nicht formalem und informellem Lernen anerkannt, das europäische Bewusstsein junger Menschen befördert und die Teilhabe auch benachteiligter und individuell beeinträchtigter Jugendlicher gesichert wird.
Politische Zielsetzungen: gesellschaftliches Engagement, soziale Eingliederung und Solidarität der Jugend
Das neue Programm sollte unter anderem als Katalysator für die Weiterentwicklung von Jugendarbeit/Jugendhilfe auf europäischer und nationaler Ebene sowie für grenzüberschreitende Kooperationen wirken. Dies kann es jedoch nur dann leisten, wenn es die beiden übergeordneten Ziele der EU-Jugendstrategie verfolgt, nämlich sowohl mehr Möglichkeiten und mehr Chancengleichheit für alle jungen Menschen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, als auch gesellschaftliches Engagement, soziale Eingliederung und Solidarität aller jungen Menschen zu fördern.
Der Programmentwurf der Kommission stellt jedoch keinen hinreichenden Beitrag zur Erfüllung der vertraglichen Aufgabe der EU dar, Jugendliche am demokratischen Leben in Europa zu beteiligen und damit zur Ausbildung eines europäischen Bewusstseins und zur Gestaltung einer von Toleranz und Vielfalt geprägten EU der Bürgerinnen und Bürger beizutragen. …
Jugendpolitisches Profil: Eigenes Kapitel, spezifische Aktivitäten und Budgets
Jugendpolitik ist ein zentrales Element im fortdauernden Prozess der europäischen Integration. Die EU hat sich ihr jugendpolitisches Profil im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes zur Förderung von aktiver Bürgerschaft, Solidarität und demokratischem Engagement junger Menschen sowie zur Unterstützung ihrer Mobilität und grenzüberschreitender Kooperation im Laufe der letzten Jahre erarbeitet.
Dabei hat das EU-Jugendprogramm die Rolle eines zentralen Instruments zur Unterstützung junger Menschen im Sinne von Wertevermittlung und Persönlichkeitsentwicklung übernommen, und dies unabhängig von einer auf die Entwicklung des „Humankapitals“ reduzierten Sichtweise.
Die von der Kommission mit dem neuen Programm angestrebte Förderung von Bildung und Ausbildung zielt jedoch sehr deutlich auf Innovation, Produktivität und Wachstum und auf die Vermehrung arbeitsmarktrelevanten Wissens und entsprechender Fertigkeiten. Darin sieht die AGJ die Gefahr einer jugendpolitischen Schwächung der EU und der Instrumentalisierung des Programms für rein wirtschaftspolitische Zwecke.
Um dies zu vermeiden und um die Souveränität von europäischer Jugendpolitik zu garantieren, ist ein eigenständiges Jugendprogramm, mindestens jedoch eine eigene Säule mit eigenem Kapitel im Rechtstext erforderlich.
Aus Sicht der AGJ spricht grundsätzlich nichts gegen die von der Kommission vorgeschlagenen übergeordneten Aktionsfelder (individuelle Lernmobilität, Zusammenarbeit für Innovation und gute Praxis, Unterstützung für politische Reformen). Der Jugendbereich benötigt jedoch eine eigene Maßnahmenlogik und eine entsprechende Erweiterung über reine Mobilitätsmaßnahmen hinaus. …
Für die inhaltliche Ausgestaltung einer Programmsäule für den Jugendbereich bilden die bestehenden Aktionsbereiche des Programms JUGEND IN AKTION einen geeigneten Referenzrahmen: Jugendbegegnungen, Jugendinitiativen, Europäischer Freiwilligendienst, Jugendprojekte der partizipativen Demokratie und Projekte mit benachbarten Partnerländern, Trainings- und Vernetzungsmaßnahmen für Fachkräfte sowie Begegnungen junger Menschen mit Verantwortlichen der Jugendpolitik. …
Entscheidungs- und Verfügungsgewalt von Rat und Parlament, Gesamtbudget
Die Kommission hat bislang (lediglich im Begleittext) eine prozentuale Mindestzuordnung zu einzelnen Sektoren in Höhe von insgesamt nur 56 Prozent des Gesamtbudgets vorgesehen. Eine erhebliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über die restlichen 44 Prozent will sich die Kommission im Laufe des Programmzeitraums lediglich mit dem Programmausschuss teilen, mit dem „Anpassungen“ bezüglich der Vergabe von Mitteln und der politischen Prioritäten abgestimmt werden sollen. Eine jeweils nötige Zustimmung etwa des Parlaments sieht die Kommission nicht vor.
Im Sinne von Transparenz, Verlässlichkeit und politischer Gestaltungshoheit von Rat und Parlament sowie mit Blick auf die Verwaltungsaufgaben der Kommission sollte aus Sicht der AGJ ein weit höherer Anteil (mindestens 80 Prozent) des Budgets sowie der politischen Prioritäten für die gesamte Programmlaufzeit festgelegt werden. …
In Bezug auf das Gesamtbudget des Programms begrüßt die AGJ das Bestreben der Kommission um eine massive Erhöhung um 70 Prozent. Zu warnen ist jedoch vor finanziellen Versprechungen, denen bislang noch die notwendige Grundlage (über Umverteilung oder zusätzliche Einnahmen der EU) fehlt. …
Fachpolitische Verantwortung und Kompetenz
…
Die bildungs- und arbeitsmarktpolitisch ausgerichtete Grundorientierung von „Erasmus für alle“ zöge nach den Vorstellungen der Kommission eine entsprechende Ressortzuständigkeit nach sich, was dazu führen würde, dass Entscheidungen zur Ausgestaltung und Umsetzung des Programms durch die (in vielen Fällen) jugendpolitisch nicht verantwortlichen Bildungsministerien der EU-Mitgliedstaaten getroffen würden und dass ein zentrales Förderinstrument für internationale Jugendarbeit in deren Verwaltungsbereich fiele. Das würde aus Sicht der AGJ zulasten verantwortlichen und kompetenten jugendpolitischen Handelns gehen und die eingeforderte Sichtbarkeit von nicht formalem und informellem Lernen, von Jugendpolitik und Jugendarbeit gefährden. …
Programm für alle Jugendlichen
Hinsichtlich des auf den ersten Blick begrüßenswerten Ziels der Kommission, den Verwaltungsaufwand zu mindern und mehr Geld für mehr Teilnehmende freizusetzen, werden aus Sicht der AGJ dann ungewollte Wirkungen erzielt, wenn „Entbürokratisierung“ zulasten der Nutzbarkeit für alle Jugendlichen geht.
Die AGJ gibt zu bedenken, dass ein jugendpolitisch verankertes Programm Maßnahmen für alle Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund, ihrem formalen Bildungskontext, ihrem Geschlecht oder möglichen Behinderungen vorhalten sollte. Dem damit verbundenen Anspruch von Jugendlichen auf gleiche Teilhabechancen entspricht die Umsetzung des Jugendprogramms in den Trägerstrukturen der Jugendhilfe, zu deren Qualitätsmerkmalen die Befriedigung besonderer sozialpädagogischer Bedarfe gehört.
Der Rechtstextentwurf gibt nur wenige Hinweise darauf, dass dieses Programm mit dem Namensbestandteil „für alle“ auch benachteiligte und individuell beeinträchtigte Jugendliche erreichen möchte. Konzepte und Maßnahmen zur Umsetzung dieses Anliegens – etwa bezüglich der angestrebten Senkung der Schulabbrecherquote – fehlen. …
„Erasmus für alle“?
Der Name „Erasmus für alle“ mit seiner klaren Konnotation von Exzellenzförderung und Mobilität Hochschulstudierender ist aus Sicht der AGJ keinesfalls geeignet für ein Programm, das auch der Teilhabe junger Menschen außerhalb des formalen Bildungssystems dienen soll und das neben Mobilitätsmaßnahmen Projekte der Partizipation und der aktiven Bürgerschaft fördern soll. …
Dezentrale und nutzerorientierte Verwaltung
Nach dem Programmvorschlag der Kommission soll es künftig nur noch jeweils eine nationale Agentur pro Mitgliedstaat geben, die für die Verwaltung der Mittel nach vereinheitlichten Richtlinien für die Bereiche Hochschulbildung, berufliche Bildung, Erwachsenenbildung, Schulbildung, Jugendaktivitäten und Sport zuständig ist.
In Deutschland – ähnlich wie in anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen die Politikbereiche Bildung und Jugend verschiedenen Ministerien zugeordnet sind – müssten demzufolge vier bisherige Agenturen zu einer Großinstitution verbunden werden. Dabei wäre ein Kompetenzverlust zu befürchten, der durch die Auflösung vorhandener europäischer Netzwerke fachpolitisch ausgerichteter Nationalagenturen der Programmländer noch gesteigert würde.
Die Argumentation der Kommission, durch Zusammenlegung der Agenturen oder gar durch die Schaffung von Dachstrukturen könnten administrative Kosten eingespart werden, ist bislang nicht belegt und erscheint nicht realistisch. … „
Die Stellungnahme der AGJ in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.
http://www.jugendpolitikineuropa.de/beitrag/agj-vorstand-verabschiedet-stellungnahme-zu-erasmus-fuer-alle.8470/
Quelle: Jugendpolitik in Europa
Dokumente: agj_pos_efa.pdf