Sozialbranche: billig, flexibel und verunsichert? Eine Analyse der aktuellen Entwicklung der Arbeitsbedingungen im Sozialsektor

SOZIALBRANCHE: BILLIG, FELXIBEL UND VERUNSICHERT? Eine Analyse der aktuellen Entwicklung der Arbeitsbedingungen im Sozialsektor nehmen Getrud Künlein und Norbert Wohlfahrt in der Zeitschrift epd sozial vor. Auszüge aus dem Beitrag: “ Der Bundesangestelltentarif (BAT)und sein Nachfolger, der seit 1. Oktober 2005 für Bund und Kommunen gültige Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD), haben ihre Funktion als »Leitwährung« für den Sozialsektor verloren. In der gesamten Sozialbranche lassen sich zunehmend Strategien der Tarifflucht feststellen. Freigemeinnützige Träger, auch die Kirchen, verfolgen verstärkt das Ziel, ihre Einrichtungen in eine Privatrechtsform zu überführen. … „Träger unterbieten sich bei Personalkosten“ … Ausgerechnet in einem Sektor, in dem »Tariftreue« bisher nie als Problem galt, unterbieten sich die Träger und Einrichtungen nun wechselseitig bei ihren Personalkosten. Und es ist realistischerweise nicht zu erwarten, dass sich die Träger und Verbände selbst in dieser Hinsicht Schranken auferlegen, auch wenn die oft rabiate Personalpolitik zum Teil an die Grenzen der eigenen Leitbilder und der gesellschaftspolitischen Überzeugungen stößt. Denn Gender-Mainstreaming-Verpflichtung … soziale Gerechtigkeit und Inklusionsstrategien … sowie Professionalisierungstendenzen gehören zu einem verbandlichen Selbstverständnis, dem die zunehmende Etablierung eines Niedriglohnsektors im sozialen Dienstleistungsbereich eigentlich widerstrebt. In den westdeutschen Bundesländern sind es die nicht-tarifgebundenen (kirchlichen) Verbände, die trendbeschleunigend wirken, weil sie auf die neu entstandene Wettbewerbssituation – Konkurrenz mit den Billigangeboten privater Träger – schneller und umstandsloser reagieren können. Bei den Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften ist, seit die Arbeitsagenturen auf europaweite, öffentliche Ausschreibungs- und Vergabeverfahren nach VOL umgestellt haben, ein unerbittlicher Preiswettbewerb in Gang gekommen. … „Flexibilisierung heißt die neue Zauberformel“ Die Arbeitsbedingungen im sozialen Dienstleistungsbereich verändern ihren Charakter. »Flexibilisierung« resp. »Neue Beweglichkeit« heißt generell die neue Zauberformel, ob bezogen auf die arbeitsvertraglichen Beschäftigungsbedingungen oder auf neue Arbeitszeit- und Vergütungsmodelle. … Schon seit einigen Jahren lässt sich feststellen, dass überwiegend Teilzeitstellen angeboten werden, während Vollzeitstellen tendenziell rückläufig sind. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern handelt es sich dabei häufig um eine vom Arbeitgeber erzwungene Arbeitszeitreduzierung. … „Der Faktor Frau spielt eine zentrale Rolle“ Es gibt also eine zunehmend größere Bandbreite von traditionellen – relativ stabilen – und hoch labilisierten Beschäftigungsverhältnissen diese sind abhängig vom Einrichtungstyp und dessen Refinanzierungsmodalitäten, aber auch von den personalpolitischen Strategien der Verbände resp. der einzelnen Träger. Während in den Handlungsfeldern, in denen nach wie vor mit einem relativ kontinuierlichen Mittelfluss der Auftraggeber gerechnet werden kann, der Trend zur Flexibilisierung noch nicht so deutlich ausgeprägt ist, sind andere Bereiche stärker im Visier. Hier wirken vor allem die projektförmig finanzierten Aufträge und die Refinanzierung auf Fachleistungsstunden-Basis destabilisierend. Bei den in Gang gesetzten Veränderungen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Sozialwirtschaft spielt schließlich der »Faktor Frau« eine zentrale Rolle. Die Träger setzen ganz offensichtlich darauf, dass die Frauen trotz ihrer teilweise bereits jetzt oft prekären Einkommens- und Beschäftigungssituation weiterhin ungebrochen und mit vollem Einsatz zur Verfügung stehen. Auch mit der Debatte um die Neujustierung des bürgerschaftlichen Engagements wird im Moment eine neue Stellschraube gesetzt. Die Grenzen zwischen freiwilligem Engagement, Mini- oder Midi-Jobs, gering entlohnten Helfertätigkeiten und fachlicher sozialer Arbeit verschwimmen und werden zunehmend aufgelöst. Auf diese Art und Weise wird die staatliche Sparpolitik im Sozialsektor zu einem Instrument der sozialwirtschaftlichen Unternehmen, die ihn zu weitergehenden Flexibilisierungen und Deregulierungen nutzen und den entstandenen Druck damit an die Beschäftigten weitergeben. “ * Dr. Gertrud Kühlein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Landesinstitut Sozialforschungsstellt in Dortmund * Prof. Dr. Nobert Wohlfahrt lehrt an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Sozialmanagement

Quelle: epd-sozial Nr. 10, 2006

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