Chancen, Risiken und Nebenwirkungen für benachteiligte Jugendliche durch die Zertifizierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen. Dokumentation eines Fachtages

EQR – KONSEQUENZEN FÜR DIE JUGENDSOZIALARBEIT Zertifizierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen Am 28. Februar 2007 führte die BAG KJS in Zusammenarbeit mit der Kolping Jugendberufshilfe einen Fachtag für MitarbeiterInnen der Jugendsozialarbeit durch. Diskutiert wurden die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen, die sich durch die Zertifizierung non-formal und informell erworbener Kompetenzen für benachteiligte Jugendliche ergeben. Grundlegende Erläuterungen der Thematik finden sich in den beiden Einführungsvorträgen wieder. Manfred von Hebel (Europäische Kommission, Brüssel) erläuterte den Entstehungsprozess des EQR, stellte den momentanen Sachstand dar, benannte die Anforderungen an die Mitgliedsstaaten der EU und zeigte die nächsten Schritte auf. PD Dr. Dieter Gnahs (Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bonn) befasste sich mit den ‚Risiken und Nebenwirkungen‘. Vier ausgewählte Aspekte wurden in Arbeitsgruppen vertieft. Die AG 1 diskutierte die Unterstützung des lebenslangen Lernens mittels des Profilpasses. Die AG 2 beschäftigte sich mit dem Instrument ‚Youthpass‘ – einer europäischen Strategie zur Validierung und Anerkennung von nicht-formalem Lernen im Kontext des Programms JUGEND. In der AG 3 wurder der EQR als Herausforderung für eine werteorientierte Jugendsozialarbeit kritisch beleuchtet. Die AG 4 setzte sich mit der Notwendigkeit und den damit verbundenen Problemen der Kompetenzbilanzierung für Jugendliche mit Migrationshintergrund auseinander. Die Dokumentation der Einführungsvorträge und der Arbeitsgruppen sind im Anhang als Download bereit gestellt. Die Dokumentation der Podiumsdiskussion sowie des Beitrags des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird in der nächsten Ausgabe der News (4. Juni 2007) veröffentlicht. Auszüge aus dem Einführungsvortrag ‚Risiken und Nebenwirkungen für benachteiligte Jugendliche durch die Umsetzung des EQR‘ von PD Dr. Dieter Gnahs: “ 1. Ausgangspunkte – LLL und EQR Dem Konzeptwechsel folgend, werden weltweit ambitionierte Anstrengungen unternommen, um Lernleistungen sichtbar zu machen, die nicht im Rahmen formaler Bildungsprozesse entstanden sind … . Dabei lassen sich grob drei Handlungsfelder identifizieren. Zum Ersten sind Initiativen zu erwähnen, die die Individuen anregen sollen, über eigene Kompetenzen nachzudenken, sie zu erkennen, zu bewerten und einzuordnen … . Zum Zweiten wird versucht, Qualifikationen und Kompetenzen zu vergleichen bzw. vergleichbar zu machen. Hier sind u.a. zu erwähnen der Europäische Qualifikationsrahmen (EQF) … und das Europäische Kreditpunktesystem für die berufliche Bildung … . Bei den EU-Strategien zum lebenslangen Lernen gibt es eine Reihe weiterer Aktivitäten wie Anerkennungsverfahren für informell erworbene Kompetenzen, die Projekte zu sektoralen Qualifikationen oder die Ansätze zur Qualität in der beruflichen Bildung … . Zum Dritten ist auf Anstrengungen für international vergleichende Kompetenz-Erhebungen hinzuweisen wie der von der OECD angestoßene PIAAC-Prozess, der im Ergebnis dazu führen soll, dass spätestens 2010 weltweit eine Erhebung bei Erwachsenen mit direkten Kompetenzmessungen durchgeführt wird … , die von der Reichweite und der methodischen Exaktheit mit der PISA-Untersuchung bei Schülern vergleichbar ist. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQF) liefert in der aktuellen Fassung, … , eine Zuordnungsmatrix die acht Niveaustufen mit drei Lernergebnisbereichen … kombiniert. Diese Bereiche sind: Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen … Unter „Kenntnissen“ wird dabei „das Ergebnis der Verarbeitung von Information durch Lernen“ verstanden. „Kenntnisse bezeichnen die Gesamtheit der Fakten, Grundsätze, Theorien und Praxis in einem Lern- oder Arbeitsbereich. Im Europäischen Qualifikations¬rahmen werden Kenntnisse als Theorie- und/oder Faktenwissen beschrieben.“ Unter „Fertigkeiten“ wird die Fähigkeit verstanden, „Kenntnisse anzuwenden und Know-how einzusetzen, um Aufgaben auszuführen und Probleme zu lösen. Im Europäischen Qualifikationsrahmen werden Fertigkeiten als kognitive Fertigkeiten (logisches, intuitives und kreatives Denken) und praktische Fertigkeiten beschrieben (Geschicklichkeit und Verwendung von Methoden, Materialien, Werkzeugen und Instrumenten)“. „Kompetenz“ wird als nachgewiesene Fähigkeit definiert, „Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und/oder methodische Fähigkeiten in Arbeits- oder Lernsituationen und für die berufliche und/oder persönliche Entwicklung zu nutzen. Im Europäischen Qualifikationsrahmen wird Kompetenz im Sinne der Übernahme von Verantwortung und Selbstständigkeit beschrieben“. Für jedes Matrixfeld werden Deskriptoren formuliert, die eine möglichst genaue Einstufung des Kompetenzniveaus von Personen ermöglichen. Zu betonen ist, dass mit diesem Verfahren versucht wird, Qualifikationen und Kompetenzen einzuschätzen und zu vergleichen. Möglich ist damit allenfalls, eine Entsprechung oder einen Niveauunterschied zu benennen, keinesfalls aber eine Messung durchzuführen. … 4. Pluspunkte Die im Folgenden aufgeführten Chancen und Gefahren des EQR für Benachteiligte, im Besonderen für benachteiligte Jugendliche, beruhen nicht auf den realen Erfahrungen mit dem Instrument, sondern sind begründete und nachvollziehbare Annahmen und Einschätzungen, die sich aus der Praxis mit vergleichbaren Instrumenten speisen. Es geht also um die positiven und negativen Potentiale des EQR. Ein erster und entscheidender Pluspunkt des EQR ist die prinzipielle Kompetenzbasierung. Sie eröffnet benachteiligten Jugendlichen, die im Regelfall keinen oder wenige Erfolge im formalen System aufweisen und nicht über die Erfolg versprechenden Zertifikate und Berechtigungen verfügen, die Chance, auf Kenntnisse und Fähigkeiten zu verweisen, die im Zusammenhang mit abgebrochenen Bildungsgängen, in Jobs oder im Freizeitbereich erworben worden sind. Allein die Tatsache, dass sie überhaupt etwas „ins Spiel bringen“ können, ist für diese Gruppe, die im Selbst- und Fremdbild eher defizitär bestimmt ist, nicht zu unterschätzen. Darüber hinaus entspricht das Abstellen auf Kompetenzen auch betrieblichen Gepflogenheiten … . Auch die Erfahrungen mit Bildungspässen und Kompetenzportfolios legen nahe, dass gerade auch Benachteiligte von der Bilanzierung eigener Kompetenzen in vielerlei Hinsicht profitieren können: Sie entdecken Potentiale, sie definieren sich als Wissende und Könnende, sie entwickeln darüber Selbstbewusstsein und Handlungsenergie … . Das formale System ist in Deutschland mit seinen Abschlüssen und Zertifikaten die zentrale Messlatte für Erfolg. Dieses System ist, … sozial hoch selektiv. Beide Effekte zusammengenommen machen es für Benachteiligte sehr schwer, wenn nicht unmöglich, Qualifikationen zu erwerben, die materiellen und sozialen Status erlauben. Mit dem EQR wird nun ein neuer Referenzpunkt geschaffen, der das formale System in seiner Alleinzuständigkeit in Frage stellt und neue Zuordnungsmöglichkeiten und Bewertungen ermöglicht. Ausländische Erfahrungen zeigen, dass eine solche Öffnung zu mehr Durchlässigkeit und Chancengleichheit führen kann. … Eng mit der Frage des Referenzpunktes ist der Aspekt der Gleichwertigkeit der Lernwege verknüpft. Die Abschlüsse des formalen Systems werden fast ausschließlich auf vorgezeichneten Bildungslaufbahnen erreicht, an deren Ende dann Prüfungen und Zertifikatsvergabe stehen. … Von der europaweit proklamierten Outcome-Orientierung ist noch wenig zu spüren. Der EQR allerdings liefert ein Raster von Fähigkeiten, Kenntnissen und Kompetenzen, er schreibt nicht vor, wie diese erlangt werden, er ist somit auch offen für „Trampelpfade“ des Kompetenzerwerbs und schafft somit ggf. auch einen Rechtsanspruch auf Prüfung und Zertifizierung ohne Absolvierung der üblichen Bildungsgänge. Auch dies würde gerade für Bildungsbenachteiligte Chancen auf Anerkennung von Lernleistungen außerhalb des formalen Systems eröffnen. Eine bildungslaufbahnunabhängige Kompetenzdiagnose lässt sich im Erfolgsfall ohne auch formale Anerkennung kaum denken. Einschränkend hingewiesen werden muss allerdings darauf, dass derartige Kompetenzdiagnosen methodisch anspruchsvoll und aufwendig sind. Es ist zu hoffen, dass insbesondere auch Weiterbildungseinrichtungen diese in ihr Angebotsspektrum aufnehmen . … 5. Problempunkte Der EQR ist proklamatisch und faktisch kompetenzorientiert, doch die Beschreibung der acht Niveaustufen in der Einstufungsmatrix orientiert sich in Ermangelung anderer Vorgaben an Qualifikationsniveaus des formalen Systems. Eine solche Qualifikationsorientierung würde „durch die Hintertür“ die alten Verhältnisse zementieren. Dass das formale System nach wie vor eine Leitfunktion innehaben wird, macht eine Antwort zu einer Kleinen Anfrage im Bundestag durch den Staatssekretär Meyer-Krahmer (2005) deutlich: „Die von der Europäischen Kommission verwendete Definition des Begriffs umfasst die Lernstandsermittlungen einer Person, die durch einen Evaluierungsprozess oder einen erfolgreich abgeschlossenen Bildungsgang bestätigt werden. Die Festlegung des Prozedere und des Umfangs der zu zertifizierenden Leninhalte erfolgt dabei nach den nationalen Zuständigkeitsregelungen und Gesetzen.“ … Die Qualifikationsorientierung öffnet zudem den Blick auf einen weiteren Gefahrenpunkt: die Formalisierung. Nicht nur wegen der Beharrungstendenzen und wegen des Gewichts des formalen Systems, sondern auch weil keine oder kaum (und dann meist wenig) akzeptierte Alternativen als Orientierungslinie zur Verfügung stehen, wird der ausdrückliche Bezug auf die üblichen Zertifikate wahrscheinlich. Dies liegt … nicht im Interesse der Zertifikatslosen. Diese erhalten zwar die Chance zur Klassifizierung ihrer Kompetenzen, werden aber an den Maßstäben gemessen, an denen sie im Regelfall schon vorher gescheitert sind. Neue, flexible und offene Messkonzepte stehen vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten, was auch der Blick über die Grenze bestätigt (Bouder 2006, S. 10): „Wenn man bedenkt, dass in den allerwenigsten Ländern Vorkehrungen getroffen sind, qualifikationsorientierte Anerkennung von Arbeitserfahrung und lebenslanges Lernen zu organisieren, schein die Outcome-Orientierung der Deskriptoren eher ein frommer Wunsch ohne anwendungsgeeignete Instrumente zu sein.“ Von daher ist statt Dynamisierung und Flexibilität als Antwort auf wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel Festschreibung und Erstarrung eine ernstzunehmende Gefahr. Die soeben beschriebenen Argumente begründen auch die Gefahr, dass der EQR die soziale Selektivität des bildungslaufbahnorientierten formalen Systems verlängert. Es lässt sich aber auch noch eine andere Form von Selektivität vorhersehen: Die Mitgliedsstaaten werden den EQR nur selektiv nutzen, sie werden nur das, was anschlussfähig an das nationale System ist, in Anschlag bringen und den Rest vernachlässigen. Markante Äußerungen aus Deutschland … legen diesen Schluss zumindest nahe. So formuliert der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung … „Der EQF darf keinerlei Vorgaben enthalten, welche die Entscheidungsprärogative der Bundesregierung zur Einstufung dualer Ausbildungs- und Fortbildungsabschlüsse in einen nationalen Qualifikationsrahmen – sei es auch nur mittelbar-faktisch – einschränken würden und den Stellenwert dieser Abschlüsse im europäischen Vergleich schmälern würde.“ … Diese klaren Äußerungen legen nahe, den EQR als Hoffnungsträger – wie im vorigen Kapitel beschrieben – nicht zu „überhöhen“. Es ist noch sehr unklar, in welcher Weise er überhaupt „Durchgriff“ und Prägung auf die nationalen Systeme erhält. “

http://europa.eu/youth/
http://ec.europa.eu/education/index_en.html
http://ec.europa.eu/education/policies/2010/objectives_en.html#recognising
http://europass.cedefop.europa.eu/
http://ec.europa.eu/education/policies/educ/eqf/index_en.html

Quelle: BAG KJS

Dokumente: Dokumentation_zusammengefasst_doc.pdf

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