Hartz IV – Folgen für Ungleichheit und das Genderregime

UNIVERSELLE ERWERBSBÜRGERSCHAFT UND GESCHLECHTER(UN)GLEICHHEIT HARTZ IV und die Folgen – eine viel diskutierte Reform, vielfach und nach unterschiedlichsten Gesichtspunkten analysiert. Ein Beitrag im ZeS report des Zentrums für Sozialpolitik an der Uni Bremen betrachtet die Hartz IV-Problematik diesmal unter einem sonst weniger beachteten Aspekt, dem Gender-Aspekt. Trägt Hartz IV dazu bei, bestehende Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen aufzuheben? Bringen Aktivierungspolitik und die Norm der „universellen Erwerbsbürgerschaft‘ einen Einbruch in das konservative deutsche Gender-Regime? Sigrid Betzelt analysierte die institutionellen Regelungen des SGB II, vorliegende Arbeitsmarktstatistiken und erste Befunde der gesetzlichen Evaluationsforschung. Auszüge aus dem Bericht: “ Es stellen sich … mehrere Forschungsfragen, die im Folgenden thematisiert, wenn auch noch nicht abschließend beantwortet werden: 1. Welche Folgen hat der deutsche Typ von Aktivierung nach SGB II für.soziale Ungleichheit, besonders zwischen Frauen und Männern und innerhalb dieser Gruppen? Werden Geschlechterungleichheiten eher verstärkt oder abgebaut? 2. Bedeutet dieser Aktivierungstyp einen Wandel des deutschen Gender Regimes hin zur „universellen Erwerbsbürgerschaft‘ für Frauen und Männer? In einer weiterführenden Forschungsperspektive, die hier nur angerissen werden kann, wird die Frage bearbeitet, inwieweit der deutsche Aktivierungstyp in seiner aktuellen Form und Umsetzung dazu geeignet ist, die Handlungsmöglichkeiten von Bürgerinnen zu erweitern und ihre individuellen Fähigkeiten zu eigenverantwortlichem Handeln zu stärken. Diese Fragen betreffen einerseits die zentralen Zielsetzungen des Aktivierenden Wohlfahrtsstaates, der den einzelnen Bürgerinnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung für die Sicherung ihrer materiellen Existenz abverlangt, die sie unabhängig von staatlichen Leistungen machen soll. Das Forschungsinteresse geht andererseits jedoch über ein solches erwerbszentriertes Verständnis von Eigenverantwortung deutlich hinaus. So ist aus gleichstellungspolitischer Perspektive auch die Verantwortlichkeit für familiale Sorgearbeit einzubeziehen, die der Idee allzeitiger Arbeitsmarktverfügbarkeit zuwiderläuft. … Konkret ist … beispielsweise die Frage relevant, inwieweit Regelungen der „Zumutbarkeit‘ eines Jobs oder einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme Ausnahmen für arbeitslose Mütter und Väter vorsehen, und inwiefern dabei in der Praxis Frauen und Männer gleich behandelt werden. … Der Beitrag konzentriert sich … auf … drei genannte Analysedimensionen, wobei auf die Geldleistungen nur in knapper Form eingegangen wird. 1. Art und Umfang der Geldleistungen für Arbeitslose. 2. Mix von Rechten und Pflichten Arbeitsloser. 3. Gleichstellungspolitiken, Zielgruppenbezug und Zugang zu Aktivierungsmaßnahmen. Basis der Analyse sind zum einen die institutionellen Regelungen des SGB II, zum anderen verfügbare Arbeitsmarktstatistiken der Bundesagentur für Arbeit sowie erste Befunde der gesetzlichen Evaluationsforschung zum SGB II … darunter auch die noch bis 2009 terminierte explizit gleichstellungspolitische Evaluation der Umsetzung von Hartz IV. … Die gendersensible Analyse der Aktivierungspolitik wird durch Datenrestriktionen erschwert … z. B. im Hinblick auf die Gruppe arbeitsloser Frauen, die weder Anspruch auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld noch auf das bedarfsgeprüfte Arbeitslosengeld II haben. (Anmerkung der Redaktion: Die anderen Analysedimensionen für eine umfassende Genderanalyse aktiviernder Arbeitsmaktzpolitik können hier nicht mit einbezogen werden, da dazu keine aktuellen genderrelevanten Ergebnisse einer Evaluationsfoschung vorliegen.) Dass gerade Frauen in dieser Gruppe der Nichtleistungsbezieherlnnen überproportional vertreten sind, hat systematische Gründe: Denn die mit Hartz IV im Vergleich zur vormaligen Arbeitslosenhilfe verschärfte Anrechnung von Partnereinkommen bei der Bedürftigkeitsprüfung trifft aufgrund der durchschnittlich höheren Männerlöhne besonders Frauen in einer Partnerschaft mit einem Erwerbstätigen. So hatten im Jahr 2006 mit 20% aller arbeitslos registrierten Frauen fast doppelt so viele keinerlei Geldleistungsansprüche im Vergleich zu 12% arbeitsloser Männer … . Viele Frauen erhalten aufgrund dieser Regelung außerdem niedrigere Leistungen als zuvor in der Arbeitslosenhilfe … . Vormalige Sozialhilfebezieherlnnen, unter denen die weiblich dominierte Gruppe allein Erziehender überdurchschnittlich vertreten ist, sollten laut Befürwortern von Hartz IV „Gewinnerinnen‘ der gesetzlichen Änderungen sein. Nach Simulationsrechnungen profitiert jedoch auch diese Gruppe nur zum Teil in finanzieller Hinsicht, nicht aber wenn mehr als ein Kind vorhanden ist. Verluste entstanden hier vor allem durch die Pauschalisierung der Grundsicherung und den weitgehenden Wegfall von Einmalleistungen in der vormaligen Sozialhilfe (Kull/Riedmüller2007). Hinsichtlich der SGB II-Geldleistungen ist somit festzustellen, dass durch den Regimewechsel die finanzielle Abhängigkeit von einem Ernährer und damit die Verweisung auf familiale Subsidiarität zu Lasten vieler arbeitsloser Frauen verstärkt wurde. … Die Gender Implikationen der gesetzlichen Regelungen zu Rechten und Pflichten sind widersprüchlich: Einerseits sind Personen mit Sorgeverantwortung von der strikten Erwerbspflicht ausgenommen, wenn die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen nicht anders zu gewährleisten ist (§ 10 (1) SGB II). Dabei nimmt der Gesetzgeber die Notwendigkeit familialer Betreuung generell für Kinder unter drei Jahren an. … Die im SGB II durch verschärfte Zumutbarkeitsregeln generell erhöhte Erwerbsverpflichtung Arbeitsloser ist also insofern selektiv, als sie eine pauschale gesetzliche Ausnahme für Betreuungspersonen von Kindern einer bestimmten Altersgruppe vorsieht, während für alle anderen Fälle eine umfassende Arbeitsmarktverfügbarkeit angenommen wird. Die pauschalierte Ausnahme von der Zumutbarkeit steht in der Tradition des Ernährer-/ Hausfrauenmodells, womit eine egalitäre Anwendungspraxis auf Mütter wie Väter von Kleinkindern äußerst fraglich erscheint. Andererseits aber wurden die erwerbsfähigen Partnerinnen von Hilfebedürftigen in die Erwerbspflicht neu einbezogen, unabhängig von ihrer bisherigen Nähe zum Arbeitsmarkt. Sie müssen ihre Arbeitskraft jetzt laut Gesetz in vollem Umfang, d. h. auf Vollzeitbasis, nutzen, um den Hilfebedarf zu reduzieren. Hierin zeigt sich die Orientierung an der universellen Erwerbspflicht, wobei allerdings aus dieser erweiterten Verpflichtung keine substantiellen Anspruchsrechte auf „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt‘ erworben werden. … Laut einer breit angelegten Befragung von SGB ll-„Kunden’10 münden die widersprüchlichen gesetzlichen Orientierungen offenbar vielfach in einer geschlechtsrollenstereotypen Beratungs- und Vermittlungspraxis … – Männer erhalten im Durchschnitt häufiger Beratung als Frauen (1,84 vs. 1,56 Gespräche in den letzten 6 Monaten) und schließen häufiger Eingliederungsvereinbarungen ab (49,0% vs. 41,9%), die von Männern zudem etwas positiver bewertet werden als von Frauen. – Männer werden etwas öfter mit einer Leistungskürzung sanktioniert als Frauen (14,3% vs. 10,3%), wobei mehr Männer als Frauen diese Erfahrung mehrmals machen müssen: 4,6% vs. 2,5% (ZEW u.a. 2007: 172). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Fachkräfte erhebliche Ermessensspielräume haben im Hinblick auf die an Hilfebedürftige gestellten Anforderungen und die Akzeptanz von Gründen ihrer Nichterfüllung. – Eltern mit Kleinkindern unter drei Jahren erhalten seltener Beratung als die Gesamtheit aller Befragten (63,9% vs. 70,4%). – Väter von Kleinkindern unter drei Jahren werden deutlich häufiger aktiviert als Mütter. Sie erhalten häufiger ein Beratungsgespräch (73,6% vs. 58%), schließen erheblich häufiger eine Eingliederungsvereinbarung ab (46,4% vs. 26,9%) und machen öfter die Erfahrung von Sanktionen (1,9% vs. 1,1%). Auch die wenigen allein erziehenden Väter werden eindeutig häufiger aktiviert als die zahlenmäßig weit überwiegenden allein erziehenden Mütter. … Die große Mehrheit der Grundsicherungsträger (ARGEn und Agenturen) ist mit der Lösung der Kinderbetreuungsprobleme überfordert und sieht diese auch nicht als ihre vorrangige Aufgabe an. Aus der Tradition der Bundesagentur für Arbeit ist dies auch verständlich, denn mit nicht arbeitsmarktbezogenen Problemen der Lebenssituation ihrer Klientel musste sie sich in der Vergangenheit nicht befassen. … * Gleichstellungspolitik und Zugang zu Arbeitsförderung Die Grundsicherungsträger sollen laut Gesetz die Gleichstellung der Geschlechter als „durchgängiges Prinzip‘ fördern, die persönlichen Lebensverhältnisse berücksichtigen und auf die Beseitigung geschlechtsspezifischer Benachteiligungen hinwirken (§ 1 (1) SGB II). Es wurden allerdings keinerlei weitere Regelungen getroffen, wie diese Ziele umgesetzt werden sollen, und es gibt (anders als im Rechtskreis des SGB III) keine für diese Zielsetzung Zuständigen bei den Grundsicherungsträgern. Die einzig konkrete Festlegung besteht darin, dass Frauen im Rechtskreis SGB II (analog zum SGB III) entsprechend ihres Anteils an Arbeitslosen und ihrer Arbeitslosenquote mit Eingliederungsleistungen gefördert werden sollen (Zielförderanteil, § 8 SGB III). … So zeigt .. eine Befragung der Grundsicherungsträger, dass diese der Geschlechtergleichstellung nur den vorletzten Rang in der Zielhierarchie ihrer Aufgabenwahrnehmung einräumen … schon ein Blick in die Eingliederungsbilanzen zeigt, dass der gesetzliche Gleichstellungsauftrag mitnichten als erfüllt anzusehen ist. Die Frauenzielförderquoten werden verfehlt, besonders in Westdeutschland: Dort sind Frauen gemäß o. g. Definition des Zielförderanteils zu 44,2% mit Eingliederungsleistungen zu fördern, real wurden in 2006 jedoch nur 37,6% gefördert (-6,6 Prozentpunkte) – damit hat sich ihr Förderanteil im Vorjahresvergleich sogar verschlechtert (-4,6 Pp in 2005). Für die Bundesrepublik insgesamt wurde die Quote „nur‘ um -3,2 Pp verfehlt, da in Ostdeutschland relativ mehr Frauen gefördert wurden hierlag die tatsächliche Förderung um 2,1 Pp über der Quote. Bei besonders arbeitsmarktnahen Förderleistungen wie Eingliederungszuschüssen wurden Frauen nur zu 30,9% gefördert, bei der qualitativ eher hochwertigen beruflichen Weiterbildung zu 40,9% … . Die weitaus meisten der im Rechtskreis SGB II geförderten Frauen (wie auch Männer) wurden mit den auf sechs Monate befristeten „1 € Jobs‘ gefördert, wobei auch hier die Frauenquote verfehlt wurde. Insgesamt wurden in 2006 nur knapp ein Viertel (24,5%) aller arbeitslosen Frauen im Rechtskreis SGB II mit Eingliederungsleistungen gefördert (Männer: 27,5%). … * Fazit: Verschärfte Ungleichheiten und konzeptionelle Flickschusterei … dieser kursorische Überblick … macht deutlich, dass die deutsche „Aktivierungspolitik‘ nicht dazu beiträgt, bestehende soziale Ungleichheiten abzubauen, sondern diese vielmehr verstärkt. Die Re-Familialisierung von Einkommensrisiken durch die verschärfte Anrechnung von Partnereinkommen im Verein mit einer Förderpolitik, die das Gebot der Geschlechtergleichstellung sehr unzureichend umsetzt und überdies kaum etwas für besonders benachteiligte Gruppen tut, führt zu einer Vertiefung sozialer Ungleichheiten und zu verstärkten innerfamilialen Abhängigkeiten. Das Recht auf Erwerbsteilhabe („right to work‘) ist besonders für erwerbslose Mütter auch im deutschen „Aktivierenden Wohlfahrtsstaat‘ weit von einer Realisierung entfernt – dazu fehlt es offenkundig sowohl an entsprechender Betreuungsinfrastruktur als auch an unterstützender, befähigender Förderung. … Gleichzeitig wurde das Recht auf De-Kommodifizierung bei Übernahme familialer Sorgeverantwortung („right to care‘) im Zuge der verstärkten Erwerbszentrierung des „Aktivierungsparadigmas‘ insofern gesetzlich massiv beschnitten, als es nur noch als Ausnahme von der Regel universeller Arbeitsmarktverfügbarkeit besteht, die an standardisierte Voraussetzungen wie das Kindesalter geknüpft ist. … Der Gesetzgeber des „Aktivierenden Wohlfahrtsstaates‘ oktroyiert hier in alter paternalistischer Tradition der Unterschichtspopulation ein verallgemeinertes erwerbszentriertes Lebensmodell, während er für Besserverdienende weiterhin das traditionelle Ernährermodell durch erhebliche Steuerprivilegien fördert und volle soziale Rechte unverändert an ein Normalarbeitsverhältnis knüpft. … “

Quelle: ZeS report, Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen

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