ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE Eine Neuberechnung des Regelsatzes versus einer geforderten Erhöhung des ALG II Bekommen Sozialleistungsempfänger zu viel oder zu wenig Geld? 2006 waren 150.000 Verfahren vor Sozialgerichten wegen zu niedriger Sozialleistungen anhängig. Besonders erbost sind viele Deutsche über die Hartz-IV-Regelungen. Rund 350 Euro zuzüglich Wohngeld bekommt jeder, der sonst kein Einkommen hat, nach diesen Regeln. Ist das zu viel oder zu wenig? Sind diese Regelungen gerecht oder ungerecht? Sind sie vernünftig oder unvernünftig? Dies waren die Fragen eines Forschungsprojektes an der TU Chemnitz. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes haben Wirbel ausgelöst. Laut Autoren ist die Studie in Presse und Rundfunk teilweise sinnentstellt dargestellt worden. Auslöser der Studie war Unbehagen über das als intransparent empfundene Verfahren der Berechnung der Leistungen der sozialen Mindestsicherung (Hartz IV, Sozialhilfe). Ein in nicht allen Teilen transparentes Verfahren also war für die Forscher Anlass einer ‚bottom up‘-Neuberechnung. Die Studie kommt bei allen Unsicherheiten, die derartigen Studien immer zugrunde liegen, zu dem Ergebnis, dass die tatsächlich gewährten geldlichen Sozialleistungen leicht oberhalb des Rahmens liegen, der durch die festgelegten Ziele der sozialen Mindestsicherung abgedeckt wird. In der Studie werden daraus keine Konsequenzen abgeleitet. Gleichwohl hat die Berichterstattung über die Studie viele Menschen verletztwas die Autoren bedauern. Es war in keiner Weise Absicht der Studie durch ihre Veröffentlichung jemand in seiner persönlichen Lebenssituation an zu sprechen, betroffen zu machen oder zu kränken, stellt die mittlerweile vorangestellte Präambel klar. Es war vielmehr Absicht, einen Beitrag zur Verbesserung der Situation vieler Menschen zu leisten. Die Studie hat offen gelegt, dass die Bedürfnisse vieler Menschen nach Arbeit und Anerkennung, deren notwendige Befriedigung man auch aus den Zielen der sozialen Mindestsicherung herauslesen kann, nicht ausreichend erfüllt werden. Viele wollen sich einbringen und etwas leisten, was heute sehr schwierig geworden ist. Die Studie zeigt, dass man hier ansetzen muss, unser Sozialsystem positiv nach vorne zu entwickeln. Kernaussagen der Untersuchungen der TU Chemnitz von Friedrich Thießen und Christian Fischer: “ • Die Hartz-IV-Gelder sind nicht zu niedrig, sondern eher zu hoch. • Als sozial gerecht wird das System nicht empfunden, weil es die Bedürftigen einseitig mit Geld abspeist und ihnen das vorenthält, was vielen sehr wichtig ist: Arbeit und Anerkennung. … In Deutschland werden Leistungen der sozialen Mindestsicherung heute nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches II und XII (SGB II und SGB XII) gewährt. Das SGB II ist für die Bedürftigen gedacht, die noch erwerbsfähig sind. Währenddessen gilt das SGB XII für Personen, die nicht erwerbsfähig sind. Diese Gruppe hat Anspruch auf die Grundsicherung, die Hilfe zum Lebensunterhalt und einige weitere Hilfen. Diese werden unter dem Begriff der Sozialhilfe zusammengefasst. Eine … Frage lautet: Wie viel Geld sollten die Bedürftigen erhalten? Die Antwort ergibt sich aus den formulierten Zielen, die mit der sozialen Mindestsicherung verfolgt werden. Sie werden aus dem Sozialstaatsgebot nach Art. 20 GG und Art. 28 GG abgeleitet. Diese beiden Artikel sind allerdings sehr allgemein formuliert. Dort ist von nicht mehr die Rede als von einem „sozialen Bundesstaat“ und „Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats“. Die genannten Paragraphen werden daher (nur) als Ermächtigung und Auftrag an den Gesetzgeber angesehen, eine Sozialordnung zu errichten. Einer Entscheidung des Bundessozialgerichts zufolge soll die Sozialordnung „auf die Herstellung und Wahrung sozialer Gerechtigkeit und auf Abhilfe sozialer Bedürftigkeit“ zielen. Auch dies ist recht allgemein. Ein weiterer Versuch einer Konkretisierung findet sich in § 1 von SGB XII. Danach soll den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens ermöglicht werden, das der Würde des Menschen entspricht. Zum anderen soll die Leistung die Berechtigten dazu befähigen, „unabhängig von ihr zu leben“ (§ 1 SGB XII). Die Sicherung der Würde des Menschen wird meist so interpretiert, dass Hilfen abgesehen von der Sicherung der physischen Existenz auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben ermöglichen, was neben der reinen Ernährung und Kleidung auch Mobilität, die Fähigkeit zur Kommunikation und die Teilnahme an üblichen Alltagsvollzügen einschließt. … Was kostet nun die soziale Mindestsicherung? Die Kosten der sozialen Mindestsicherung werden meist derart ermittelt, dass ein Warenkorb zusammengestellt wird, der alle Güter enthält, über welche jemand mindestens verfügen sollte (d.h. also über die Güter, welche die Ziele der sozialen Mindestsicherung gerade erfüllen). Dann werden die Preise der Güter ermittelt und aufsummiert. Das Verfahren, mit dem dies in der Bundesrepublik geschieht, gilt als nicht in allen Teilen transparent. Es enthält teilweise pauschale Vorgehensweisen. Nicht alle Teilschritte werden veröffentlicht. … Die vagen Formulierungen in den Gesetzen lassen es aber nicht zu, eine eindeutige Entscheidung hinsichtlich der Art und Menge von Gütern zu treffen, die in der sozialen Mindestsicherung enthalten sein sollten. … Alle Interpretationen über die Ziele der sozialen Mindestsicherung bewegen sich daher in einem Spannungsfeld, das man durch eine Unter- und eine Obergrenze an Güterverfügbarkeiten beschreiben kann. Die formulierten Ziele der sozialen Mindestsicherung einmal streng und einmal großzügig interpretiert, um die Unter- und Obergrenze zu ermitteln. … * Methodisches Vorgehen Insgesamt lautet das methodische Vorgehen der Studie folgendermaßen • Zunächst wurden aus der Literatur die mit der sozialen Mindestsicherung verfolgten Ziele ermittelt (Schritt 1). • Daraus wurde ein – mit diesen Zielen kompatibler – Warenkorb abgeleitet (Schritt 2). Da die Ziele ungenau formuliert sind, mussten zwei Fälle unterschieden werden, die einer Untergrenze und einer Obergrenze der Interpretation der verfolgten Ziele entsprechen (im Folgenden „Minimumsfall“ und „Maximumsfall“). • Schließlich wurden den Gütern der beiden Warenkörbe „Minimumsfall“ und „Maximumsfall“ Preise zugeordnet und durch Summierung die Gesamtkosten der sozialen Mindestsicherung ermittelt (Schritt 3). • Zusätzlich wurden Studierende befragt, was sie am deutschen Sozialleistungssystem gerecht oder ungerecht empfinden. Grundlage der Untersuchung war ein gesundes, rational handelndes Individuum frei von Sucht- oder anderen Erkrankungen oder Behinderungen mit folgenden Ausprägungen: • Männlich • 1-Personen Haushalt, keine Kinder • Mittleres Alter (18-65 Jahre) • Körpergröße 1,70 m, Gewicht 70 kg • Deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Verbrauchsgewohnheiten • Kein Sonderfall (gesund, nicht geistig und körperlich behindert oder pflegebedürftig) * Preisermittlung Die Ermittlung der Preise wurde in einer mittelgroßen Stadt (250.000 Einwohner) durchgeführt. Die Orte der Preiserhebung sind zumeist Filialen von Kettenunternehmen, die in ganz Deutschland agieren und nach eigenen Angaben keine regionalen Preisdifferenzen aufweisen. … Die Preiserhebung für Nahrungsmittel erfolgte bei Aldi, Edeka und Kaufland. Die Preise für Bekleidung und Schuhe wurden in einem Restpostenmarkt (Thomas Philipps), Billig-Ketten (Zeemann, Pfennigpfeiffer), H&M, einem Warenkaufhaus (Kaufhof) und zwei Schuhketten (Reno, Deichmann) ermittelt. … Die Kosten für Einrichtungsgegenstände wurden bei zwei An- und Verkaufsmärkten, dem Möbeldiscounter Roller, dem Kettenunternehmen Möbel-Walther, dem Restpostenmarkt Thomas Philipps, der Billigkette Pfennigpfeiffer, dem Vollsortimenter Kaufland, dem Discounter Aldi, dem Warenhaus Kaufhof, dem Gartenfachgeschäft Richter und dem Baumarkt Hornbach ermittelt. … Kommunikationskosten wurden bei drei Internetkaffees, Thomas Philipps, Aldi, Kaufland und The Phone House Shop ermittelt. Die Freizeitkosten wurden bei diversen Theatern, Kinos, Schwimmbädern und sonstigen Einrichtungen erhoben. Die für einige Positionen angenommenen Pauschalen entsprechen den Durchschnittspreisen laut EVS. (EVS = Einkommens- und Verbraucherstichprobe von 2003 Ausgaben der unteren 20% der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte nach Aussonderung der Sozialhilfeempfänger) * Wohnungskosten Die Wohnungskosten wurden aus der Betrachtung ausgeschlossen. Zum einen gibt es regional große Unterschiede, so dass keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können. Zum anderen haben Sozialgerichte Einzelpersonen einen Anspruch auf 45m2 Wohnraum zugesprochen, so dass es keinen Spielraum gibt, der eine Untersuchung rechtfertigt. … * Ergebnisse: Kosten der sozialen Mindestsicherung … Die einkommensmäßig unteren 20% der deutschen Haushalte geben für Essen, Kleidung, Kommunikation, Reisen etc. knapp 500 Euro pro Monat und Person (Single-Haushalt) aus. Demgegenüber bekommen Bedürftige, welche die soziale Mindestsicherung vom Staat erhalten, etwas über 300 Euro (Regelsatz Achtung: alle Ausgaben für die Wohnung wurden hier herausgerechnet diese erhalten die Bedürftigen zusätzlich). Gerechtfertigt wären nach den festgesetzten Zielen der sozialen Mindestsicherung Beträge zwischen 132 Euro (Minimumsfall) und 278 Euro (Maximumsfall) zuzüglich Wohnungskosten. Dies bedeutet: Der Regelsatz ist nicht zu niedrig. Er liegt vielmehr oberhalb der Beträge, die einer Interpretation aus den formulierten Zielen der sozialen Mindestsicherung ableitbar sind. … Man orientiert sich vielmehr bei der Festlegung des Regelsatzes an den Einkommen der allgemeinen Bevölkerung und legt die Regelsätze so fest, dass die Hilfeempfänger nicht weit darunter liegen. Ein solches Verfahren ist mit den festgesetzten Zielen der sozialen Mindestsicherung nicht vereinbar. … * Schlussfolgerungen … 1. Die Leistungen der sozialen Mindestsicherung liegen weit oberhalb des physischen Existenzminimums. 2. Bei Lebensmitteln, Kleidung und Gebrauchsgegenständen reicht der Regelsatz an die Beträge heran, welche die allgemeine Bevölkerung für diese Güter ausgibt. Das bedeutet: Hartz-IV-Empfänger erhalten keine Notlagenunterstützung, sondern bekommen einen Lebensstandard finanziert, der dem der allgemeinen Bevölkerung im unteren Einkommenssegment gleicht. 3. Im Bereich Freizeit, Unterhaltung, Kommunikation liegt der Regelsatz deutlich unterhalb der Ausgaben der allgemeinen Bevölkerung. … 4. Die Art und Weise, in der Sozialleistungen gewährt werden, könnte verbessert werden. Das formulierte Ziel „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird nicht im möglichen Maß verfolgt. 5. Ebenso wird das formulierte Ziel, in Würde zu leben, nicht erreicht. Ein Leben in Würde hängt weniger von Geldleistungen ab als von der Möglichkeit, zu arbeiten, sich einzusetzen, die Chance zu bekommen, etwas leisten zu können, um anerkannt zu werden. Eine auf Geldzahlungen beschränkte Hilfe wird diesem Ziel nicht gerecht. In einer unübersichtlicher werdenden Welt, in der viele den Arbeitsmarkt nicht mehr verstehen und sich nicht einbringen können, kann aus dem formulierten und aus dem Grundgesetz abgeleiteten Ziel, den Menschen Würde zu verschaffen, ein Anspruch auf Arbeit abgeleitet werden. Arbeit würde automatisch das Einkommen der Menschen anheben. “ Die Studie geht in ihrem Warenkorb davon aus, dass beispielsweise kein eigener Internetzugang und keine eigene Computerausrüstung besteht, sondern diese in der öffentlichehn Bücherei genutzt werden kann. (Beim Maximumsfall in Internetcafé.) Dabei wird eine Nutzungsdauer von 20min/Tag veranschlagt. Ob das Zeitfenster ausreichend ist, um nach freien Arbeitsstellen zu suchen und (online)Bewerbungen vorzunehmen, untersucht die Studie nicht. Auch die Anschaffung von eigenen Zeitungen oder Zeitschriften ist nicht erforderlich, da auf diese ebenfalls in Bibliotheken zugegriffen werden kann. Der Minimumsfall sieht für die Freizeitgestaltung neben dem Besuch der öffentlichen Bibliothek Gespräche, Spaziergänge, Nutzung von Parks und die Teilnahme an öffentlichen Festen vor. Ein eigener TV-/ Radioanschluss wird beim Maximumsfall der bezogenen Sozialleistung eingerechnet. Für die Lebensmittelversorgung wird im Minimumsfall die ausreichende gesunde abwechslungsreiche Kost nach Empfehlungen der WHO zu Grunde gelegt. Der Konsum von Tabak und Alkohol ist nicht vorgesehen, da er gesundheitsschädlich ist und damit das Sozialhilfeziel ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ verletzt würde. Der Deutsche Caritasverband widerspricht diesen Vorschlägen zur Absenkung des Regelsatzes entschieden. An der Realität vorbei gehen nach Auffassungen des DCV die Vorschläge der Chemnitzer Wirtschaftswissenschaftler. ‚Wer solche Berechnungen anstellt, kennt den Alltag von Menschen nicht, die Hartz IV bekommen‘, erklärt der Präsident des Caritasverbandes anlässlich der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse aus Chemnitz. Erfahrung aus den Beratungsstellen, aber auch Kleiderkammern und Tafeln zeigen, dass es für Bezieher von ALG II schon jetzt nicht einfach sei, bis zum Monatsende mit dem Geld auszukommen. Selbst bei sparsamem Wirtschaften reiche das Geld oft nicht. Kämen dann zusätzliche Anforderungen, wie beispielsweise die Anschaffung von Schulmaterial, sei dies für viele Familien ein fast unlösbares Problem. Die Caritas fordert seit langem eine Erhöhung der Regelsätze, die sich am tatsächlichen soziokulturellen Bedarf ausrichten. Neher warnt vor einer Neid-Debatte, in der der Eindruck erweckt werde, Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen seien, würden es sich leicht machen. ‚Wenn zehn Prozent der Bevölkerung auf staatliche Unterstützung angewiesenen sind, zeigt dies einen Mangel an Qualifizierung und an einfachen Arbeitsplätzen und keinen Mangel an Bereitscahft, unabhängig vom Staat zu sein‘, mahnt Neher. Es müsse darüber nachgedacht werden, wie es besser gelingen kann, diesen Menschen eine Perspektive zu geben. Für eine Erhöhung der Regelsätze spricht sich die Kampagne ‚Hartz IV-Fördern durch Kürzen aus. Bedarfsgercht wird eine Erhöhung des regelsätze für Schulkinder von 7 bis 13 Jahren von 211 auf 253 Euro und für Jugendliche von 14 bis 17 Jahren von 281 auf 316 Euro geforert. Dadurch soll der Wachstumsbedarf von Kindern und Jugendlichen anerkannt werden. “ HARTZ IV STREITET DAS WACHSTUM VON KINDERN AB Stellen Sie ich vor: Sie geben Ihrem Kind bis zum Alter von 13 Jahren nur so viel zu essen und zu trinken, wie es im Säuglingsalter bekommen hat. Wenn die Presse das erfahren würde, würde sie Ihre Verantwortungslosigkeit an prangern und mehr Kontrollen durch Jugendämter und Ärzte fordern. Was aber, wenn CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne dasselbe machen? Diese Parteien gestehen nämlich 7 bis 13-jährigen Schulkindern aus Hartz IV Familien keinen höheren Bedarf mehr zu als Säuglingen. Vor Hartz IV bekamen sie noch rd. 20% mehr. 7 bis 13-Jährigen sind mit Hartz IV erhebliche Mittel für Essen und Trinken entzogen worden. Sie müssten aufhören zu wachsen und Zwerge bleiben. * Weniger Geld besser einteilen? Kinder im Alter von 7 bis 13 brauchen im Schnitt rd. 2.050 kcal an Energiezufuhr pro Tag, Kinder unter 7 nur 1.250. Die Bundesregierung stellt Kindern unter 14 für den täglichen Ernährungsbedarf aber nur die Einheitssumme von 2,31 Euro pro Tag zur Verfügung. Altersgerechte Förderung? Pustekuchen. Für gesunde Ernährung brauchen Menschen mit dem Preisniveau von Juni 2008 2,33 Euro pro 1.000 kcal, wenn sie den Energiewert von Lebensmitteln zu 100% nutzen. Kinder von 7 bis 13 Jahren bräuchten also 4,78 Euro. (1) Wie sollen Eltern 2,31 Euro einteilen, um den Bedarf an gesunder Ernährung in Höhe von 4,78 Euro zu decken? Merkel, Beck, von der Leyen und Scholz meinen: Das geht. * Wachstumsbedarf von Kindern ab 14 gestrichen Kinder hören bekanntlich erst zwischen 16 und 19 Jahren auf zu wachsen. Deshalb wurde bisher anerkannt, dass Kinder bis 18 einen höheren Bedarf als Erwachsene haben. Die Hartz IV-Parteien haben das abgeschafft. Sie setzen den Bedarf von Heranwachsenden mit dem von erwachsenen Haushaltsangehörigen gleich und gestehen ihnen nicht mehr 90%, sondern nur noch 80% des Eckregelsatzes zu. Sie meinen also, dass man ab 14 nicht mehr wächst. Heute werden für 18- bis 64-Jährige rund 2.530 kcal für notwendig gehalten (Mittelwert des Energiebedarfs von Männern und Frauen Männer allein brauchen im Schnitt 2.870 kcal). Jugendlichen zwischen 14 und 17 werden rund 2.700 kcal zugestanden (männliche Jugendliche brauchen 3.000 kcal). Der Energiebedarf von Heranwachsenden ist auf jeden Fall höher als der von Erwachsenen. Mit der Senkung des Regelsatzes auf 80 % wurde der Ernährungsanteil von Heranwachsenden drastisch gekürzt. 2004 wurde 14- bis 17-Jährigen noch 3,91 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke zugestanden, 2007 nur noch 3,04 Euro am Tag. Die Gleichsetzung des Bedarfs von heranwachsenden mit erwachsenen Haushaltsangehörigen missachtet entwicklungsbedingte Grundbedürfnisse von Jugendlichen. * Wachstumsbedarf wird anerkannt, auch wenn er aberkannt wird „Bei Kindern und Jugendlichen umfasst der notwendige Lebensunterhalt auch den besonderen, insbesondere den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf.“ (§ 27 Abs. 2 SGB XII) Die CDU-SPD-Bundesregierung behauptet, sie habe dieser „Vorschrift im Rahmen der Regelsatzbemessung ausreichend Rechnung getragen,“ obwohl sie den besonderen Entwicklungsbedarf von Kindern gestrichen hat. Die gesetzliche Vorschrift, den Wachstumsbedarf von Kindern zu berücksichtigen, ist durch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats durch die Regelsatzverordnung vom 3. Juni 2004 einfach außer Kraft gesetzt worden. Diese legte fest, dass Kinder unter 14 denselben Bedarf haben wie Säuglinge und Heranwachsende denselben Bedarf wie Erwachsene. * Kinder sollen verzichten Die Behauptung, dass sich „in der Regel unterschiedliche Bedarfe im Wesentlichen wieder ausgleichen.“ (BR-Drs. 206/04, 11) Oder wie eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erklärte: „Werden die Kinder größer und brauchen mehr Geld für Essen, besteht ja die Möglichkeit, auf etwas Anderes zu verzichten.“ („Zu arm für gesundes Essen“, Apotheken-Umschau 02/08, 11) Die Dame empfiehlt Kindern, mit steigendem Alter auf Freizeitvergnügen, Fahrten, Sport usw. zu verzichten, um ihren höheren Kalorienbedarf decken zu können. Gesunde Ernährung unterstellt, würden einem 13-Jährigen nur noch rund 50 Euro für die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse außer Essen und Trinken übrigbleiben. „Auf etwas Anderes verzichten“, würde bedeuten, dass er nur noch rund 80 Cent in der Woche statt 1,96 Euro für öffentliche Verkehrsmittel und für Sportund Freizeitveranstaltungen nur noch 1,44 statt 3,78 Euro ausgeben könnte. Das Ein- bis 13-jährige Durchschnittskind dagegen hätte bei gesunder Ernährung über Essen und Trinken hinaus noch 131 Euro übrig. Nach Meinung der Bundesregierung sollen Kinder also ihren Wachstumsbedarf in Eigenverantwortung durch Verzicht auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aufbringen. Der Wachstumsbedarf wird gewissermaßen privatisiert. Kinder leiden darunter angeblich auch nicht, weil die Aberkennung des Wachstumsbedarfs ja der Lebenssituation von Kindern in Armutsfamilien „gerecht“ wird. Sie verdienen nichts Besseres. Obwohl der Widerspruch zwischen Bedarf an Ernährung und dem Regelsatzanteil bis zum Alter von 14 immer größer wird, verkündet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): „Die Regelleistungen bilden das sozio-kulturelle Existenzminimum ab. Insoweit sind insbesondere die Ernährungsbedarfe gedeckt.“ (Brief an das Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne vom 19.07.2007) Wenn die Regierung etwas sagt, dann muss es stimmen, weil sie es eben sagt. Begründungen hält sie nicht für nötig. “ (1) Berechnung nach Angaben des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund, Ernährungsumschau 09/2007 die dort angegebene 2,16 € pro 1.000 kcal beziehen sich auf das Preisniveau von Mai 2007. Bis Juni 2008 stiegen die Preise für Nahrungsmittel um 8 %. Die vollständige Studie der Tu Chemnitz wurde veröffentlicht: Friedrich Thießen, Christian Fischer, Die Höhe der sozialen Mindestsicherung – Eine Neuberechnung „bottom up“ in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 57. Jg., 2008, Heft 2, S.145-173, ISSN 0721-3808. ZU der Kampagne ‚Hartz IV-Fördern durch Kürzen‘ gehörende Broschüre kann über einen aufgeführten Link oder dem Anhang entnommen werden. Der Frage nach der Armutsgefährung für Jugendliche bei derzeitigem ALG II-Satz wird die BAG KJS im Rahmen einer Armutskonferenz am 24.11.2008 in Berlin nachgehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur für Arbeit befasst sich mit ähnlihcer Thematik in einem aktuellen Forschungsbericht. Die Auswirkungen der Erhöhung eines ALG II-Regelsatzes sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung wurden untersucht. Bitte entnehmen Sie die Untersuchungergebnisse der Meldung ‚Höhers ALG II und Kindergrundsicherung‘ der heutigen Ausgabe der Jugendsozialarbeit News.
http://www.rhein-main-buendnis.de
http://www.klartext-info.de
http://www.harald-thome.de/media/files/Dies%20und%20das/Hartz_IV_Foerdern_durch_KuerzenA5.pdf
Quelle: TU Chemnitz KLARtext e.V. Harald Thomé
Dokumente: Hartz_IV_Foerdern_durch_KuerzenA5.pdf