SCHLAUE MÄDCHEN? DUMME JUNGEN? Immer häufiger werden öffentlich die Bildungserfolge bzw. –misserfolge von Mädchen und Jungen diskutiert. Dabei entsteht das Bild der „dummen Jungen“, das in der Realität allerdings viel zu kurz greift. Beim Übergang in den Beruf verschiebt sich die Situation zu ungunsten junger Frauen. In seiner Stellungnahme wendet sich das Bundesjugendkuratorium gegen die Pauschalisierung der Jungen als Bildungsverlierer. Vielmehr sei eine differenzierte Betrachtung der Bildungssituation mit den vielfachen Einflußfaktoren erforderlich. Um die ungleichen Chancen von Jungen und Mädchen zu überwinden, empfiehlt das Kuratorium den Schulunterricht nach dem Konzept der subjektorientierten Förderung auszurichten. Auszüge aus der Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums „SCHLAUE MÄDCHEN – DUMME JUNGEN? GEGEN VERKÜRZUNGEN IM AKTUELLEN GESCHLECHTERDISKURS“: “ AUSGANGSLAGE Die in den 1960er-Jahren ausgerufene „Bildungskatastrophe“ hat den Blick für die Benachteiligung von Mädchen und jungen Frauen im Bildungssystem sowie auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt geschärft auch wurden damals Mädchen und junge Frauen als „Bildungsreserve“ entdeckt. Im Bildungsdiskurs, der seit etwa zehn Jahren als Folge des „PISA-Schocks“ geführt wird, findet verstärkt ein Blickwechsel auf die Bildungsbedingungen und Lebenslagen von Jungen statt, der ebenso an wirtschaftliche Überlegungen gekoppelt ist. Die spezifische öffentliche Wahrnehmung der aktuellen gesellschaftlichen Situation von Jungen, kurz: die heraufziehende „Jungenkatastrophe“ lässt sich an Überschriften in Wochen- und Tageszeitungen oder in den Titeln von Fernsehsendungen der letzten Jahre ablesen: * „Arme Jungs. Das benachteiligte Geschlecht“ * „Jungs. Werden sie die Sorgenkinder der Gesellschaft?“ * „Schlaue Mädchen – Dumme Jungen“ * „Immer Ärger mit den Jungs“ Dementsprechend werden Appelle formuliert wie: „Lasst sie Männer sein. Jungen stehen im Schatten leistungsfähiger Mädchen. Es wird Zeit, ihnen zu helfen“ oder: „Rettet das starke Geschlecht“. Diese medial verdichtete neue gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Ungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen – seit geraumer Zeit überwiegend zulasten der Jungen –, konzentriert sich insbesondere auf das Bildungssystem. Sie findet ihre Entsprechung in wissenschaftlichen Debatten, Fachgutachten und Berichten. … Darüber hinaus wird die Debatte, die unter dem Label „Bildungsbenachteiligungen von Jungen“ geführt wird und sich auch auf die diagnostizierte Zunahme jungenspezifischer Probleme erstreckt, im politischen Feld aufgegriffen sie wurde auf bundespolitischer Ebene in zwei parlamentarischen Anfragen in den Jahren 2004 und 2008 debattiert. Auf Bitte der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, hat sich das Bundesjugendkuratorium (BJK) mit dieser Thematik und den damit verknüpften Diskussionspunkten beschäftigt. Die hierzu erarbeitete Stellungnahme orientiert sich an folgenden Leitfragen: – Welche Argumentationsfiguren bestimmen den medialen Diskurs über die Jungen als Verlierer im Bildungssystem? – Auf welche Ergebnisse empirischer Studien stützt sich die Debatte über die bildungsbezogenen Probleme von Jungen und welche Schlüsse lassen die Befunde zu? – Welche strukturellen Faktoren und Mechanismen und welche kulturellen Kontexte müssen bei der Reflexion über aktuelle und künftige Geschlechterrollen stärker als bislang berücksichtigt werden, um verkürzte oder einseitige Schlussfolgerungen für politisches und pädagogisches Handeln zu vermeiden? – Um welche Aspekte muss die politische Debatte zur Bildungsbenachteiligung von Jungen erweitert werden, um zu einer adäquateren Auseinandersetzung mit den damit verknüpften Fragen und zur Entwicklung weiterführender Lösungsstrategien zu kommen? … FORSCHUNGSBEFUNDE ZU UNGLEICHHEITEN ZWISCHEN MÄDCHEN UND JUNGEN IM SYSTEM DER BILDUNG, BETREUUNG UND ERZIEHUNG … * Gibt es eine eindeutige Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem? … Mit den Daten aus dem zweiten nationalen Bildungsbericht lassen sich deutliche Disparitäten zwischen Mädchen und Jungen belegen die Autorengruppe Bildungsberichterstattung kommt dann auch zu dem Schluss „Mädchen und junge Frauen werden im Bildungssystem immer erfolgreicher“. Demgegenüber werden bei der Gruppe der Jungen neue Problemlagen betont. Ihre Bildungsbenachteiligung zeigt sich in ganz unterschiedlichen Phasen der Bildungskarriere. Als ein Aspekt geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Bildungsinstitutionen erweist sich der Zeitpunkt der Einschulung Mädchen werden häufiger vorzeitig und weniger häufig verspätet eingeschult als Jungen. Außer in der Grundschule haben Schüler gegenüber Schülerinnen in allen Jahrgangsstufen eine höhere Wahrscheinlichkeit, einmal oder mehrfach die Klasse zu wiederholen. Mehr Jungen (9%) als Mädchen (5%) verlassen die Hauptschule ohne Abschluss. Deutlich mehr Mädchen (36%) als Jungen (28%) hingegen schließen die allgemeinbildende Schule mit dem Abitur ab. Diese vermeintliche Eindeutigkeit bzw. genauer die Verallgemeinerbarkeit dieser punktuellen Belege zu schulischen Bildungsungleichheiten zulasten der Jungen, wird bei detaillierter Betrachtung an vielen Stellen brüchig: … Für höhere Altersgruppen lässt sich nachweisen, dass Schüler beispielsweise ausgeprägtere mathematische Kompetenzen haben als Schülerinnen. Hier erreichen sie im Sekundarbereich im Vergleich der OECD-Länder signifikant bessere Leistungen als Mädchen, wobei Deutschland im OECD-Durchschnitt liegt. Ebenfalls werden Jungen häufiger als Mädchen als hochbegabt diagnostiziert. Im Hinblick auf die bereits skizzierten geschlechtsspezifischen Ungleichheiten beim Hauptschulabschluss ist zudem festzuhalten, dass ein großer Teil der jungen Männer den Schulabschluss nachholt, denn im Alter von 22 Jahren haben nur noch rund 2% der Frauen und 3% der Männer keinen Schulabschluss. Es kann das Fazit gezogen werden, dass die Befunde sich als weniger eindeutig erweisen als dies die Medien suggerieren und als es den öffentlichen Stereotypen und Bildern über „schlaue Mädchen“ und „dumme Jungen“ entspricht. Vielmehr bedienen sich die Medien bestimmter Aspekte aus einem breiten Fundus an empirischen Daten, die eine ganz unterschiedliche Stoßrichtung in der Argumentation erlauben: Je nach Indikator, über den man „Bildungsbenachteiligung“ misst, erweist sich die Befundlage als vielschichtig. Je nachdem worauf man bei der Fülle an Aspekten das Augenmerk richtet, zeigt sich ein mitunter sehr vielfältiges Bild im Hinblick auf das Heterogenitätsmerkmal Geschlecht. Fast entscheidender als die vielschichtigen Befunde ist, dass bei der Sichtung von Forschungsergebnissen zur Situation von Jungen und jungen Männern „eine Diskrepanz feststellbar [ist] zwischen der zunehmenden Thematisierung von als problematisch empfundenen Phänomenen (häufig betont werden etwa schlechteres Abschneiden bei schulischen Leistungen oder jugendkulturelle Auffälligkeiten) und dem Fehlen entsprechender theoretischer und empirischer Studien, die einen fundierten Interpretationshintergrund für diese Phänomene bieten könnten“. Selbst wenn also an vielen Punkten deutliche Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nachweisbar sind und auch an zentralen Stellen zulasten der Schüler, fehlen geeignete und tragfähige Interpretationsfolien, die den Disparitäten erklärend zugrunde gelegt werden könnten. … ANREGUNGEN FÜR DIE WEITERE POLITISCHE DEBATTE … * Ansprüche des Gender Mainstreamings umsetzen und zu einem Managing Diversity weiterentwickeln. Mit dem Konzept des Gender Mainstreaming liegt ein geschlechterthematischer Handlungsansatz vor, der es ermöglicht, mit der im Diskurs um die Bildungsbenachteiligung von Jungen diskutierten Problematik kompetent und zielführend umzugehen. Kern dieses Ansatzes ist der Gedanke, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben unterschiedliche Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen sowie die Auswirkungen von Entscheidungen dahingehend zu reflektieren, inwieweit sie dem Ziel von mehr Geschlechtergerechtigkeit dienen. Für die weitere Arbeit bedeutet dies, Aktivitäten, Handlungsmuster und Strukturen in den schulischen und außerschulischen Bereichen des Bildungssystems daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie geeignet sind, die Chancengleichheit von Mädchen und Jungen zu fördern. Voraussetzungen zur Realisierung dieses Ansatzes ist die Sensibilisierung der Akteure für Ungleichheiten, die durch das Bildungssystem und gesellschaftliche Strukturen ausgelöst werden, die sie selbst mit erzeugen, und die systematische Vermittlung von Genderkompetenzen. Da die Ungleichheiten in den Bildungsbiographien aber durch vielfältige, miteinander verschränkte Faktoren bedingt sind, muss das Konzept Gender Mainstreaming um den Ansatz eines Managing Diversity und Gender erweitert werden, um zu grundlegenden, diversitätsgerechten Veränderungen im schulischen und außerschulischen Erziehungs- und Bildungsbereich zu kommen und nicht lediglich bei der Unterscheidung nach „Geschlecht“ stehen zu bleiben. … * Über die These der Feminisierung der Pädagogik hinaus denken. Ein zentrales Erklärungsmuster im medialen Diskurs über die schlechteren Schulleistungen von Jungen ist die These der Feminisierung pädagogischer Handlungsfelder, insbesondere im Bereich der Kindertageseinrichtungen und der Grundschule sowie des Fehlens männlicher Bezugspersonen. Die häufig vertretene Forderung nach einer Verstärkung des Anteils der Männer in den genannten Bildungsbereichen ist angesichts der aktuellen Geschlechterverteilung schon auf den ersten Blick plausibel. Sicher sollte der Männeranteil in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen im Sinne einer Geschlechterpolitik und in Hinblick auf die Präsenz unterschiedlicher Rollenmodelle und Lebensformen ausgebaut werden. Es ist allerdings sehr ungewiss, ob allein durch eine Vergrößerung des Männeranteils am pädagogischen Personal das Problem der strukturellen Ungleichheiten zwischen Jungen und Mädchen gelöst werden kann. Hierzu liegen keine belastbaren empirischen Daten vor. Auch die unterschiedliche Präsenz von Lehrern und Lehrerinnen in verschiedenen Unterrichtsfächern findet bisher kaum Beachtung und müsste zunächst einmal empirisch untersucht werden. Hier muss über die naheliegende Forderung nach einer Veränderung der Anteile hinausgedacht werden und eine solide Analyse der verschiedenen Faktoren erfolgen. * Männer als Vorbilder nehmen. Welche Männer als Vorbilder? Der Vorschlag einer Erhöhung des Anteils der Männer in den verschiedenen Bereichen des Systems der Bildung, Betreuung und Erziehung wird u. a. mit der These begründet, dass es für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen und für ihr Erwachsenwerden wichtig und förderlich ist, auch mit männlichen Vorbildern und Rollenmodellen konfrontiert zu sein, diese zu erleben und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Diese Forderung wirkt unmittelbar plausibel. Doch wird bislang noch kaum danach gefragt, welche Vorstellungen von Männlichkeit in diesen Rollenmodellen repräsentiert werden sollen bzw. welche Anforderungen an die neue Männerrolle durch gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen bestehen. In der Diskussion wird auf Merkmale wie Individualität, Sensitivität, Responsivität, Flexibilität und Fleiß hingewiesen. Es ist eine breite Diskussion über eine neue Männlichkeit im Kontext vielfältiger sozialer Prozesse und gesellschaftlicher Anforderungen nötig, die über eine eindimensionale Forderung nach einer rein quantitativen Erhöhung der Lehrerquote bzw. des männlichen pädagogischen Personals hinausreicht. * Für die Veränderung der Geschlechterrollen sensibilisieren. Wiederholt ist die Forderung nach der Vermittlung geschlechtersensibler Kompetenzen in der Aus- und Fortbildung bei allen Beteiligten an pädagogischen Prozessen und in sämtlichen Bildungsbereichen erhoben worden. Das BJK ist in diesem Zusammenhang der Überzeugung , dass dieser wichtige Schritt um einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über Veränderungen der Geschlechterrollen und über gewünschte bzw. notwendige Umorientierungen ergänzt werden muss. Eine Diskussion über mehr „weibliche“ Fähigkeiten und Eigenschaften, die nun vom Arbeitsmarkt an die männlichen Arbeitskräfte herangetragen würden, muss die gedankliche Enge bipolarer Aufgaben- und Fähigkeitszuschreibungen hinter sich lassen. * Konzepte einer differenzierten und subjektorientierten Förderung nutzen. Die Forderung nach mehr Förderung von Jungen gegenüber Mädchen, deren Benachteiligung im Bildungssystem bislang überbetont worden sei, blendet aus, dass geschlechtsbezogene Benachteiligungen sich bereichsspezifisch und nicht pauschal auswirken und ungünstige Leistungsbilanzen beispielsweise in der Schule von Effekten der Milieuzugehörigkeit und der Migrationsgeschichte, aber auch von geschlechtsbezogenen Berufsentscheidungen, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung im Erwachsenenleben und Problemen der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit überlagert sind. Eine Förderung von Jungen und Mädchen zur Verbesserung ihrer Lebens- und Berufschancen muss sich deshalb in erster Linie an einer Subjektperspektive, also der Frage: Was braucht welches Mädchen / Was braucht welcher Junge?, orientieren – nicht an Zuschreibungen zur Gruppe „der Jungen“ oder „der Mädchen“. Dies bedeutet zum Beispiel für die Schule, das Prinzip der individuellen Förderung im Unterricht daran auszurichten. * Erfahrungen der außerschulischen Bildung mit geschlechtsbewussten Konzepten nutzen. Im Bereich der außerschulischen Bildung gibt es vielfältige Erfahrungen mit geschlechtsbewussten Konzepten der pädagogischen Arbeit. Die Erkenntnisse der Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen sind langjährig fundiert und auch die Ansätze der Jungenarbeit sind längst über ein Experimentierstadium hinaus gekommen. Gerade in Verbindung mit dem Ausbau von Ganztagsschulen oder der Entwicklung lokaler Bildungslandschaften liegt ein großes Potenzial. Deshalb ist die Kooperation zwischen Schule und der Kinder- und Jugendhilfe weiter auszubauen. Es geht um den Aufbau einer verlässlichen Infrastruktur der Unterstützung und Begleitung von Mädchen und Jungen. Diese Zusammenarbeit könnte eine systematische Thematisierung geschlechtsbezogener Fragen in unterschiedlichen Bereichen der Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen in formalen und non-formalen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen fördern. Gerade in Projekten der geschlechtsbewussten Kinder- und Jugendhilfe sind in den vergangenen Jahren bewährte Konzepte zur Reflexion geschlechterbezogener Aspekte entwickelt worden. Daraus folgt auch die Forderung einer Verstärkung der infrastrukturellen Förderung von Konzepten in der Kinder- und Jugendhilfe, die Mädchen und Jungen ermöglicht, sich reflektiert mit ihren Geschlechterrollen auseinander zu setzen. * Geschlechtsspezifische Selektion im Berufswahlverhalten überwinden. Trotz deutlicher Veränderungen in der Arbeitswelt und Reformen im Bereich der Ausbildungsberufe lassen sich bei den Berufswahlentscheidungen von Mädchen und Jungen geschlechtsspezifische Muster erkennen. Vor dem Hintergrund des Wandels von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft und der damit verbundenen Veränderungen in Hinblick auf die künftige Qualifikationsstruktur ist es dringend erforderlich, zum einen strukturelle Hürden abzubauen und zum anderen die persönlichen Orientierungen bezogen auf ein breites Spektrum von Berufen zu erweitern. Projekte wie der „Girls’Day“ und „Neue Wege für Jungs?.“ sind zu verstärken und auszubauen. Die Zugangsmöglichkeiten für Jungen und Mädchen zu unterschiedlichen Ausbildungsgängen sind gleich zu gestalten. In diesem Kontext geht es darum, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der an den Berufswahlprozessen beteiligten Institutionen wie Schule, Berufsberatung, Kammern und Verbände, aber auch die Eltern in Hinblick auf die Mechanismen geschlechtsspezifischer Berufswahlprozesse zu sensibilisieren. Gleichzeitig gilt es, strukturelle Hindernisse abzubauen, um gleichwertige und zukunftsfähige Berufsperspektiven für alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu eröffnen. … “ Die Stellungnahme im vollen Textumfang entnehmen Sie der Seite des Bundesjugendkuratoriums über aufgeführten Link oder dem Anhang.
http://www.bundesjugendkuratorium.de/positionen.html
Quelle: Bundesjugendkuratorium
Dokumente: bjk_2009_4_stellungnahme_gender.pdf