Erfolgreiche Integration junger Menschen durch die Kinder- und Jugendhilfe – fachliche Empfehlung

Mit den vorliegenden Empfehlungen möchte der Deutsche Verein den Integrationsprozess und die Änderung der Perspektive auf Menschen mit Migrationshintergrund weiter befördern und dazu beitragen, bestehende Zugangsschwellen zu den vielfältigen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe abzubauen. Es sollen Empfehlungen für die Realisierung einer chancengerechten Partizipation junger Menschen mit Migrationshintergrund und ihrer Familien an den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und damit an der Gesellschaft gegeben werden.

Auszüge aus den Empfehlungen des Deutschen Vereins zur erfolgreichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund:

„… Der Beitrag zentraler Leistungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe zur Partizipation junger Menschen mit Migrationshintergrund
Für die konzeptionelle Weiterentwicklung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe hinsichtlich der Zielgruppe junger Menschen mit Migrationshintergrund geht der Deutsche Verein davon aus, dass basierend auf den Prämissen der Lebensweltorientierung die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auf den Einzelfall bezogen und gleichzeitig adressatenorientiert ausgestaltet sein müssen. Erst dann können sie Stigmatisierungen vermeiden, die Familien mit Migrationshintergrund tatsächlich individuell erreichen und als Unterstützung in den jeweiligen Lebenslagen wirken. Daher spricht sich der Deutsche Verein nachdrücklich dafür aus, den Empowermentansatz in der Sozialen Arbeit weiter zu etablieren. …

Der Deutsche Verein weist … nachdrücklich darauf hin, dass die
hier dargestellten Empfehlungen insbesondere vor dem Hintergrund der äußerst angespannten Finanzlage der Kommunen nicht als neue Standardsetzungen bzw. Ausweitungen zu verstehen sind. Vielmehr beinhalten Sie Arbeitsempfehlungen, die innerhalb der der Jugendhilfe zur Verfügung stehenden Ressourcen zu realisieren sind. …

Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit gemäß §§ 11 und 13 SGB VIII
Die Angebote der Jugendarbeit gemäß § 11 SGB VIII und der Jugendsozialarbeit gemäß § 13 SGB VIII sind aus Sicht des Deutschen Vereins mitentscheidend für die schulischen, beruflichen und sozialen Teilhabechancen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund und für die Eröffnung von altersgerechten Entfaltungs- und Begegnungsräumen mit Gleichaltrigen unterschiedlicher Herkunft. … Durch die Angebote der schul- und berufsbezogenen Jugendsozialarbeit finden insbesondere junge Menschen mit Migrationshintergrund, deren schulische und berufliche Entwicklungschancen aufgrund von sozialen Benachteiligungseffekten und individuellen Unterstützungsbedarfen beeinträchtigt sind, Unterstützung an den Bildungsübergängen.
Auch die bundesweit rund 420 Jugendmigrationsdienste fördern junge Menschen mit Migrationshintergrund ab dem 12. Lebensjahr in ihrem sprachlichen, schulischen, beruflichen und sozialen Integrationsprozess. Jugendsozialarbeit gemäß § 13 SGB VIII erreicht mit ihren Angeboten junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Regel relativ gut.

Insgesamt haben sich insbesondere mobile und aufsuchende Ansätze bewährt, um Zugangshürden abzubauen und auch ausgegrenzte und auffällige junge Menschen zu erreichen. Dabei sind spezifische Benachteiligungen rechtlicher, sozialer und ökonomischer Art, denen junge Menschen mit Migrationshintergrund häufig ausgesetzt sind, zu berücksichtigen, um zusätzliche Stigmatisierungseffekte zu vermeiden. Auch die Formen der Ansprache von jungen Menschen und die Angebote an sie sind diversitätsbewusst weiter zu entwickeln. Der tendenzielle Abbau von Angeboten der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit in den vergangenen Jahren wirkt sich negativ auf die Integrationschancen junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund aus. Der Deutsche Verein spricht sich daher für einen Erhalt und Ausbau jugendspezifischer, vernetzter Angebote der Kinder- und Jugendhilfe aus, die aufsuchende Arbeit, ressourcenorientierte Beratung, Qualifizierung, Vermittlung sowie gruppenpädagogische Maßnahmen kombinieren. …

Der erfolgreiche Integrationsprozess junger Menschen durch Angebote der
Jugendsozialarbeit wiederum setzt ein aufeinander abgestimmtes Kooperationssystem der Akteure und Angebote voraus. Obwohl die Integration junger Menschen am Übergang Schule/Ausbildung/Beruf gemeinsame Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, der Arbeitsförderung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist, werden die Leistungen in der Praxis jedoch oft nebeneinander angeboten; an den Schnittstellen Schule – SGB II/SGB III – SGB VIII fehlt es häufig an der Abstimmung und Gesamtkoordination. Der Deutsche Verein regt daher dringend eine rechtskreisübergreifende Verzahnung der zuständigen Akteure unter Gesamtkoordination durch die Kommunen an, damit der einzelne Jugendliche das für seine Fähigkeiten und individuelle Lebenssituation passende Angebot erhält. Nur so kann seine soziale, schulische und berufliche Eingliederung wirksam unterstützt werden. Diese rechtskreisübergreifende Verzahnung der Akteure und Angebote ist notwendig, um eine durchgängige Förderung zu schaffen und ein „Verlorengehen“ der Zielgruppe an den Übergängen zu verhindern. Insbesondere am Übergang von der Schule in die Ausbildung ist die Anschlussfähigkeit der Angebote zu verbessern. …

Darüber hinaus sind junge Menschen in ihrer demokratischen und weltoffenen Haltung zu stärken. Der Deutsche Verein spricht sich dafür aus, Angebote, die zum Ziel haben, fremdenfeindliche sowie rassistische Einstellungen zu überwinden, zu erweitern und langfristig zu sichern. Der Deutsche Verein begrüßt Initiativen, die die offene und internationale Jugendarbeit als geeignete Methoden zur Integration von jungen Menschen stärken. Hierbei sind die besonderen fachlichen Anforderungen an die Einbeziehung von jungen Menschen aus bildungsbenachteiligten Lebenssituationen bei der Ausgestaltung und der finanziellen Förderung zu berücksichtigen.

Der Deutsche Verein sieht zudem den Ausbau der Ganztagsschulen als einen zentralen Schlüssel für mehr Bildungsgerechtigkeit an. Die Ganztagsschule eröffnet jungen Menschen mit einer nichtdeutschen Erstsprache oder aus einem bildungsfernen Milieu die Möglichkeiten gezielter Förderung. Der Deutsche Verein empfiehlt – unter Beachtung der Programme anderer Akteure vor Ort –, Angebote der außerschulischen Jugendarbeit, der internationalen Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit noch stärker als bisher als Bestandteile der Betreuungs- und Begleitungsinfrastruktur an Ganztagsschulen zu verankern. Darüber hinaus ist im kommunalen Raum ein kohärentes Gesamtsystem von Bildung, Erziehung und Betreuung zu etablieren und das Denken und Handeln in institutionellen Kategorien zu überwinden. Erst durch die Verbindung der Lebens- und Lernwelten junger Menschen in Kommunalen Bildungslandschaften werden strukturelle Hindernisse beseitigt und bessere Integrationsmöglichkeiten geschaffen. Nur dann wird es gelingen, die Disparitäten im Bildungserfolg zu überwinden und den starken Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufzubrechen.

In den Aufbau Kommunaler Bildungslandschaften sind auch Vereine und Vertretungen von Menschen mit Migrationshintergrund sowie spezialisierte Fachdienste der Kinder- und Jugendhilfe wie die Jugendmigrationsdienste aktiv einzubinden, um von ihren sozialräumlichen und zielgruppenspezifischen Expertisen und Erfahrungen zu profitieren. …

Schutz junger Menschen vor Gefahren für ihr Wohl
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe werden nicht immer freiwillig von ihren Adressat/innen in Anspruch genommen und müssen im Bereich des Kinderschutzes im Einzelfall auch gegen den Willen der Eltern durchgeführt werden. …

Bislang ist die Datenlage, in welchem Umfang in Familien mit Migrationshintergrund Gefährdungssituationen für Kinder und Jugendliche auftreten und welche dies sind, noch unbefriedigend. Aus Schülerbefragungen ist allerdings bekannt, dass gerade Jungen aus streng patriarchalisch strukturierten Familien häufig von erlittener Gewalt im Elternhaus berichten. Für ein effektives Handeln im Kinderschutz ist es jedoch notwendig, die Gefährdungssituationen im Einzelfall zu erkennen, dies heißt auch, familiale Interaktionsmuster und die zugehörigen Erläuterungen der Eltern richtig deuten zu können. Erst auf diesem Wege kann die im Einzelfall erforderliche Maßnahme eingeleitet werden, die eine zuverlässige Hilfe für das Kind bzw. den Jugendlichen bedeutet, die außerdem Eltern wie die betroffenen jungen Menschen angemessen beteiligt und Stigmatisierungen und Diskriminierungen vorbeugt.

… Eine Kindeswohlgefährdung in einer Familie mit
Migrationshintergrund kann, aber muss nicht zwangsläufig eine kulturelle, religiöse oder ethnische Ursache haben. Darüber hinaus gilt es auch den Blick auf die Chancen und Ressourcen von kulturellen, religiösen und ethnischen Hintergründen von Familien im Kontext der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung zu richten. Dies gilt gerade und
insbesondere für plakative Fälle, in denen Gewalt und die Nicht-Achtung der Integrität von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus einer explizit kulturellen Dimension sich zu erklären scheinen. Der Deutsche Verein spricht sich daher dafür aus, sich gerade
im Kontext des Kinderschutzes mit der individuellen Lebenssituation von jungen Menschen mit Migrationshintergrund einschließlich der damit verbundenen Wertevorstellungen auseinanderzusetzen. …

In diesem Zusammenhang muss auch das Problem der Zwangsheirat gesehen werden. Minderjährige junge Frauen und Männer können von Zwangsheirat bedroht sein. Für die Kinder- und Jugendhilfe gilt wie für die in der Interventionskette beteiligten anderen Institutionen (Schulbereich, Strafverfolgungsbehörden, Auswärtiges Amt), dass die Zusammenarbeit ein entscheidendes Element für den Schutz der betroffenen jungen
Menschen ist. … Ein weiteres sensibles Thema im Bereich des Kinderschutzes ist die genitale Verstümmelung von Mädchen und jungen Frauen, gleichfalls eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung und in Deutschland nach §§ 223 ff. StGB strafbar. Versuche, das Beschneidungsritual in Frage zu stellen, werden meist als eine Einmischung in die Tradition und ein Diktat westlicher Lebensweise verstanden. In Deutschland sind gegenwärtig schätzungsweise ca. 4.000 Mädchen und Frauen und inzwischen auch Jungen und junge Männer mit Migrationshintergrund gefährdet, dieser Praxis z.B. bei einem Ferienaufenthalt im Herkunftsland unterworfen zu werden. Die Gesetzesinitiative, die Strafnorm auch auf Auslandstaten auszudehnen, wenn das Opfer zur Zeit der Tat seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist daher aus Sicht des Deutschen Vereins ein wichtiger Schritt zum Schutz der davon bedrohten Mädchen und jungen Frauen.

Die Kinder- und Jugendhilfe hat in Bezug auf die Gefahren der Zwangsverheiratung und der genitalen Verstümmelung einen besonderen Schutzauftrag für die bedrohten und betroffenen jungen Menschen. Es ist hier in einem besonderen Maße wichtig, die jungen Menschen über die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu informieren und sie in Kenntnis über die möglichen Zugänge zu setzen. Ebenso notwendig ist es, die jungen Menschen sensibel in ihrer Ambivalenz zwischen Gebundenheit an die Familie und eigenen Vorstellungen zu begleiten und ihnen eine eigene Entscheidung zu ermöglichen.

Interkulturelle Öffnung und interkulturelle Kompetenz: Anforderungen an die Organisation des Systems der Kinder- und Jugendhilfe
Für den Deutschen Verein sind interkulturelle Öffnung und interkulturelle Kompetenz der Dienste und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Fachkräfte der Schlüssel für die gleichberechtigte Partizipation der Menschen mit Migrationshintergrund.

Interkulturelle Öffnung beachtet die beschriebene soziale und kulturelle Heterogenität aller Menschen unabhängig ihrer jeweiligen Herkunft und hat dabei gleichzeitig insbesondere diejenigen Individuen und Bevölkerungsgruppen im Blick, die einen erschwerten Zugang zu den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe haben. Für die geforderte ressourcen- und lebensweltorientierte Gestaltung dieser Zugänge und den Abbau von Inanspruchnahmebarrieren wiederum ist interkulturelle Kompetenz von besonderer Bedeutung. …

Interkulturelle Kompetenz der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe
Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe müssen als Ganzes in der Lage sein, mit der Heterogenität der Leistungsadressat/innen und der Fachkräfte konstruktiv und ressourcenorientiert umgehen zu können. Eine solche systemimmanente interkulturelle Kompetenz setzt voraus, dass die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe über interkulturelle Kompetenzen verfügen. Der Deutsche Verein versteht unter interkultureller Kompetenz die Fähigkeit, im Bewusstsein eigener kultureller Prägungen und auf der Grundlage von Empathie und eines generellen Reflektionsvermögens wirksam und angemessen in interkulturellen Situationen zu kommunizieren. Dies beinhaltet, auf der Basis der Anerkennung der Vielfalt als Normalität, mit der Heterogenität der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund kompetent, reflexiv und situationsabhängig umgehen und sich auf neue Verhaltensweisen einlassen zu können, auch wenn diese aufgrund der eigenen Sozialisation bis dato unbekannt waren. … Zudem beinhaltet interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, mit Ambivalenzen flexibel
umgehen und ethnozentristische Sichtweisen relativieren zu können. …

Die Vielfalt der Gesellschaft muss sich auch in der Personalzusammensetzung und -entwicklung widerspiegeln. Damit dies gelingen kann, ist eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit für das Berufsbild der Erzieherin/des Erziehers sowie für die Studiengänge der Sozialen Arbeit erforderlich. Auch die frühzeitige Berufsorientierung auf soziale Berufe durch die Förderung von Praktika und Schnupperkursen ist ein wesentlicher Baustein. Weiter spricht sich der Deutsche Verein dafür aus, durch die bewusste Etablierung und Förderung multiethnischer Teams – ohne jedoch eine speziellen Aufgabenzuweisung einzelner Personen zu bestimmten kulturellen Gruppen – die Heterogenität der Gesellschaft in der Arbeit abzubilden. Letztlich müssen aber alle Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe über individuelle interkulturelle Kompetenzen verfügen bzw. diese in Fort- und Weiterbildung erwerben. … „

Die Empfehlungen in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://www.deutscher-verein.de/05-empfehlungen/empfehlungen_archiv/2010/pdf/DV%2013-10.pdf

Quelle: Deutscher Verein

Dokumente: DV__Empfehlungen_Integraion_Kinder_und_Jugendhilfe.pdf

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