Wozu ein Parallelbericht der Zivilgesellschaft?
Das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK oder BRK, ist seit dem 26. März 2009 in Deutschland in Kraft. Die Konvention enthält 50 Artikel, etwa über Barrierefreiheit, Bildung, Gesundheit oder Arbeit. In Artikel 35 ist geregelt, dass alle Staaten, in denen die Konvention gilt, regelmäßig Berichte über den Stand der Umsetzung zu erstellen haben. Der erste Bericht ist zwei Jahre nach dem Inkrafttreten zu erstellen, für Deutschland war dies im Jahr 2011 der Fall. Die weiteren Berichte sind in einem Rhythmus von vier Jahren zu verfassen. Diese Staatenberichte werden vom „UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ in Genf geprüft.
Ein wesentlicher Bestandteil des Berichtsprüfungsverfahrens des Genfer Ausschusses ist – neben dem Staatenbericht der Bundesregierung – der Parallelbericht der zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland. Dieser Bericht eröffnet die Möglichkeit, aus zivilgesellschaftlicher Sicht zum Umsetzungsstand der UN-BRK in Deutschland Stellung zu nehmen sowie notwendige Maßnahmen und Änderungserfordernisse zu formulieren. Der Bericht der Zivilgesellschaft wird oft auch als „Schattenberichte“ bezeichnet.
Auszüge aus dem ersten Parallelbericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention „Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion.“:
“ Selbstbestimmt Leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19)
In Deutschland können viele Menschen mit Behinderungen Wohnort und die Wohnform nicht frei wählen. Deshalb müssen Menschen mit Behinderungen zum Beispiel vielfach gegen ihren erklärten Willen in stationären Einrichtungen leben, weil hier die notwendigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen sowie pflegerische Leistungen in der Regel kostengünstiger erbracht werden als in der eigenen Wohnung. Die Bundesregierung zeigt bislang keine Neigung, diesen Kostenvergleich abzuschaffen, obwohl Expert/-innen wiederholt auf die Unvereinbarkeit dieser gesetzlichen Norm mit der BRK hingewiesen haben.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf sowie ihre Partner/-innen und Angehörige eigenes Einkommen und Vermögen einsetzen müssen, um die notwendige Assistenz zu finanzieren. So werden ganze Familien gezwungen, in Armut zu leben. Eine stabile Altersvorsorge kann nicht aufgebaut werden.
Forderungen der BRK-Allianz:
## Die Bundesregierung muss Menschen mit Behinderungen die behinderungsbedingten Unterstützungsleistungen ohne Diskriminierungen für sie selbst oder ihre Angehörigen zur Verfügung stellen. …
Inklusive Schulbildung (Artikel 24)
Von inklusiver schulischer Bildung ist Deutschland weit entfernt. Die Schulgesetze sehen zwar das gemeinsame Lernen von Schüler/-innen mit und ohne Behinderungen als Möglichkeit vor, sie ist in der Praxis jedoch die Ausnahme: Nur 29 Prozent der Schüler/-innen mit Behinderungen besuchten 2010 eine Regelschule. In den Bundesländern reichen die Integrationsquoten von 6 bis 40 Prozent, wobei der Großteil auf die Primarstufe entfällt.
In Deutschland besuchten im Jahr 2010 rund 380 000 Schüler/-innen mit Behinderungen eine Förderschule. In einigen Bundesländern dürfen Schüler/-innen auch gegen den Elternwillen dieser Schulform zugewiesen werden. Unter den EU-Staaten hat Deutschland den höchsten Anteil an Schüler/-innen, die in Förderschulen unterrichtet werden; fast die Hälfte von ihnen im Förderschwerpunkt „Lernen“. Der Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien sowie mit Migrationshintergrund ist dort überdurchschnittlich, der Anteil von Jungen auffallend hoch.
Der Zugang zur Regelschule wird für behinderte Schüler/-innen in Deutschland erheblich erschwert und muss oft eingeklagt werden. Fast alle Bundesländer haben einen Gesetzesvorbehalt: Ein behindertes Kind muss in die Regelschule nur aufgenommen werden, wenn die notwendigen personellen, organisatorischen und sächlichen Bedingungen bestehen. An diesen fehlt es: Angemessene Vorkehrungen, Nachteilsausgleiche und barrierefreie Lehr- und Lernmittel werden an Regelschulen nicht ausreichend bereitgestellt. Oft werden Hilfeleistungen restriktiv und unverbunden gewährt; Gebärdensprachdolmetschung, Schul- und Kommunikationsassistenz werden so unmöglich.
Forderungen der BRK-Allianz:
## Eine qualitativ hochwertige Inklusion an barrierefrei umzugestaltenden Regelschulen ist umsetzen und sächliche, personelle, finanzielle und organisatorische Ressourcen sind zu gewährleisten; das Recht auf „angemessene Vorkehrungen“ ist sicherzustellen. …
Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27)
Menschen mit Behinderungen waren im Jahr 2010 mit 14,8 Prozent fast doppelt so häufig arbeitslos wie Menschen ohne Behinderungen. Das zeigt, dass Menschen mit Behinderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt werden. Entgegen gesteuert wird kaum, die gesetzliche Beschäftigungspflicht-Quote der Arbeitgeber bleibt seit Jahren unerfüllt. 2010 beschäftigten trotz Gesetzespflicht über 37.000 Unternehmen keinen einzigen schwerbehinderten Menschen.
Menschen mit Behinderungen, die nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein können, bleibt in der Regel nur die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Aktuell sind in diesen Werkstätten 280.000 Menschen beschäftigt. Für die nächsten Jahre wird mit einem Anstieg auf 300.000 gerechnet.
Forderungen der BRK-Allianz:
## Wahlmöglichkeiten zwischen Werkstattbeschäftigung und Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt müssen geschaffen werden.
Eine Behinderung führt in Deutschland oftmals zu Armut und Diskriminierung. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Menschen mit Behinderungen nehmen seltener am Erwerbsleben teil als Menschen ohne Behinderungen. Während 76,5 Prozent der Menschen ohne Behinderung im Alter von 15 bis 65 Jahren arbeiten, ist es bei Menschen mit Behinderungen lediglich etwa die Hälfte. Frauen mit Behinderungen sind von Armut stärker betroffen als Männer mit Behinderungen: Nach dem Mikrozensus 2005 verfügten 32,4 Prozent der behinderten Frauen über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 700 Euro. Dasselbe traf auf 12,8 Prozent der behinderten Männer zu.
Darüber hinaus sind Assistenz- und Unterstützungsleistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einkommens- und vermögensabhängig, wenn gesetzlich festgelegte Grenzen überschritten werden. Gesundheits – und Altersvorsorgemaßnahmen sind kaum möglich.
Die Vermögensabhängigkeit der Teilhabeleistungen gestattet Menschen mit Behinderungen lediglich ein geschütztes Vermögen in Höhe von 2.600 Euro. Menschen mit Behinderungen sind dadurch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeit dauerhaft eingeschränkt und lebenslang auf ein geringes Niveau festgelegt.
Forderung der BRK-Allianz:
www.brk-allianz.de/
Quelle: Deutscher Caritasverband
Dokumente: Menschenrechtsreport_fuer_Selbstbestimmung_gleiche_Rechte_Barrierefreiheit_Inklusion.doc