Das Bundesjugendministerium legt die Abschlussevaluation zum Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ vor: Von 2006 bis 2013 wurden mit dem Programm jugendliche Schulverweigerer individuell begleitet. Im Zeitraum von 2007 bis 2012 wurden 16.575 Schülerinnen und Schüler erreicht. Zwei Drittel von ihnen gelang Dank der Unterstützung die Reintegration in eine Regelschule. Diese individuelle Unterstützung (Case Management) dauerte in der Regel bis zu einem Jahr.
Zeitpunkt des Abschlusserwerbs außerhalb des Evaluationszeitraums
Egal, ob aktive oder passive Schulverweigerung – alle Jugendlichen, deren Erwerb des Schulabschlusses gefährdet war, konnten von dem Programm profitieren. Ob jedoch der Schulabschluss erreicht wurde, kann man nicht sagen. Der Erwerb des Abschlusses lag nach dem Ende des Case Management und damit außerhalb des Evaluationszeitraums. Das aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds finanzierte Programm läuft mit Ende der aktuellen ESF-Förderperiode am 31.12.2013 aus.
Auszüge aus dem Abschlussbericht der Evaluation des Programms „Schulverweigerung – Die 2. Chance“:
„(…) Programmhintergrund
Abgänge von den allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss sind einerseits Folge unzureichender Integrationsprozesse, andererseits erhöhen sie die Risiken nachfolgender Desintegration. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) förderte vor diesem Hintergrund seit 2006 das Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“. Zielgruppe waren primär Schülerinnen und Schüler ab zwölf Jahren bis maximal zum Beginn der letzten Klassenstufe, die eine Schulform besuchen, auf welcher der Erwerb eines Hauptschulabschlusses möglich ist, und die ihren Schulabschluss belegbar durch aktive oder passive Schulverweigerung gefährden. Primäres Ziel war die Reintegration der Schülerinnen und Schüler in die Regelschule, um hier einen Schulabschluss zu erreichen. Case Management sollte hierbei zentrales Instrument sein, umgesetzt wurde es von (jährlich variierend) rund 200 Koordinierungsstellen. (…)
Zielgruppenerreichung und Struktur der Teilnehmenden
Von den insgesamt 16.575 Fällen in der Förderperiode waren 38,7 % weiblich und 61,3 % männlich, 40,5 % hatten einen Migrationshintergrund. Das Durchschnittsalter bei Eintritt ins Case Management betrug 14,5 Jahre. Bis auf wenige Ausnahmen gingen die Teilnehmenden in die Klassenstufen fünf bis neun (97,2 %). Die meisten Teilnehmenden besuchten Haupt- und Förderschulen bzw. deren Äquivalente in einer verbundenen Schule (80,6 %) und hatten bei Eintritt ins Case Management mehrheitlich mindestens tageweise unentschuldigt im Unterricht gefehlt (59,5 %). Darüber hinaus zeigten die meisten auch im Unterricht problematische Verhaltensweisen wie aktives Stören oder Passivität. Bei der Mehrheit der Teilnehmenden war die Gefährdung ihres Schulabschlusses durch schulverweigerndes Verhalten mit einer belegbaren Einschätzung/Prognose der Lehrkraft bzw. der Schule bestätigt (86,6 %). Zwar bestand bei rund drei Viertel der Teilnehmenden eine enge Bindung zur Familie, jedoch stellten die Case Managerinnen und Case Manager bei der Mehrheit Defizite hinsichtlich der Erziehungskompetenzen der Eltern fest, wie fehlende aktive schulische Förderung oder fehlende angemessene Aufsicht. Zudem resultierten in 60,9 % der Fälle hohe Belastungen der Teilnehmenden durch die Familie, z. B. durch Familienkonflikte, Alleinverantwortung für das Kind oder Einkommensarmut. Neben dem übergreifenden Ziel der schulischen Reintegration, hatte bei den meisten auch die Erreichung von Teilzielen, wie die Verbesserung schulischer Kompetenzen oder Teilziele im Bereich der sozialen Integration, eine hohe Relevanz. (…)
Zielerreichung
Das Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ zielte letztlich darauf, den Anteil von jungen Menschen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, zu senken. Doch da Schulabschlüsse erst nach Ende des Case Managements erworben werden, lag die Erreichung dieses Ziels außerhalb des Untersuchungszeitraums der Evaluation. Analysen der Zielerreichung bezogen sich z. B. auf erreichte Teilziele, schulische Reintegrationsprozesse oder Prognosen der Case Managerinnen und Manager für den späteren Schulabschluss.
Unter den 13.120 im Untersuchungszeitraum beendeten Case-Management-Fällen wurden 60,3 % von den Case Managerinnen und Managern als erfolgreiche Reintegration klassifiziert. Doch die Klassifikation war nicht deckungsgleich mit der Prognose für den Schulabschluss. In relativ vielen Fällen war den Case Managerinnen und Managern unbekannt, ob die jungen Menschen wieder regelmäßig die Schule besuchten oder ob der Schulbesuch für einen Schul¬abschluss ausreichte. Aus dem Kontext anderer Daten konnte die Evaluation für einen Teil dieser Fälle jedoch abschätzen, ob ein Erfolg vorlag. Für 75,6 % aller beendeten Fälle kann abgeschätzt werden, dass der Schulbesuch wieder regelmäßig und selbstständig erfolgt. (…) In 66,7 % der Fälle erscheint auch die Intensität des Schulbesuchs hinreichend dafür, dass der Schulabschluss noch erreicht werden könnte. (…)
Übergreifende Schlussfolgerungen
Der Anteil der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Hauptschulabschluss ist bundesweit in den vergangenen zehn Jahren deutlich gesunken. Kontinuierlich hohe Zahlen kommen aus den Förderschulen, während sich insbesondere in den Hauptschulen positive Entwicklungen feststellen lassen. Dennoch lag deren absolute Zahl auch 2011 noch bei knapp 50.000. (…) Die Zielstellung des Programms „Schulverweigerung – Die 2. Chance“, junge Menschen, die ihren Schulabschluss durch Schulverweigerung gefährden, durch eine entsprechende Förderung schulisch zu reintegrieren, erscheint vor diesem Hintergrund weiterhin sehr begründet. Das Programm hat mit rund 17.000 im Zeitraum 2007 bis 2012 am Case Management Teilnehmenden eine große Zahl Schülerinnen und Schüler und zugleich einen quantitativ relevanten Anteil an der gesamten Zielgruppe bundesweit erreicht. (…)
Die konkrete Gestaltung des Case Managements im Rahmen des Programms „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ bedarf einer differenzierten Betrachtung, da zwischen der praktizierten Form und dem in der Förderrichtlinie bzw. der Förderleitlinie formulierten Konzept Unterschiede bestehen. Die konkrete Arbeit der meisten Koordinierungsstellen umfasste zu einem großen Teil auch die Umsetzung unterstützender Leistungen, nur die wenigsten Koordinierungsstellen überließen dies Dritten und spezialisierten sich auf ein Case Management im engeren Sinn, bei dem die Koordinationsfunktion den Hauptanteil des Case Managements bildet. Viele Koordinierungsstellen verstanden sich unter anderem auch als zentrale Anlaufstelle für das Thema Schulverweigerung (für Schülerinnen und Schüler, Eltern, betroffene Fachkräfte und Netzwerkpartner), in einem Teil der Standorte waren sie in bereits etablierte Netzwerke gegen Schulverweigerung eingebunden, in einem anderen Teil mussten sie die Zusammenarbeit der relevanten Akteure erst fördern. (…)
Auf diese Unterschiede zwischen Konzeption und Praxis des Case Managements verweist die Evaluation nicht aus dem Grund, dass von einer stärker an der Förderrichtlinie ausgerichteten Umsetzung größere Reintegrationserfolge erwartet werden müssen (denn da zu wenige Koordinierungsstellen so arbeiteten, liegen hierzu keine belastbaren empirischen Daten vor). Die Relevanz dieser Unterscheidung betrifft vielmehr die Schlussfolgerungen für mögliche zukünftige Programme: Sollen die Erfolge in erster Linie reproduziert werden, kann sich eine zukünftige Förderung weitgehend am bislang umgesetzten weiten Case-Management-Konzept orientieren. Ob eine stärkere Ausrichtung auf ein Case Management im engeren Sinn bei dieser Zielgruppe und Zielstellung noch effektiver oder effizienter wäre, ist zwar denkbar, aber gänzlich unsicher. Würde für ein zukünftiges Förderprogramm diese Strategie gewählt werden, könnte es weit weniger auf bewährte Konzepte zurückgreifen, hätte stärker Erprobungscharakter eines Modellprogramms und sollte in der Implementationsphase durch entsprechende Begleitstrukturen unterstützt werden. (…)“
Quelle: Evalautionsbericht BMFSFJ