Auszüge aus Berufspädagogische Aspekte zu einem Recht auf Ausbildung von Volkmar Herkner (Universität Flensburg) in bwp@:
„In den vergangenen Jahren wurden durch die Politik in der Bundesrepublik Individualrechtsansprüche in Angriff genommen oder sogar gesetzlich umgesetzt, die noch vor nicht allzu langer Zeit als kaum denkbar angesehen worden wären … Dieses trifft beispielsweise auf den … umgesetzten Anspruch von Eltern auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder zu … Ähnlich … das seit 2009 in der Bundesrepublik bestehende Anrecht von Eltern behinderter Kinder auf inklusiver Beschulung. … Noch leise, aber doch inzwischen hörbar sind schon Rufe nach einem Ausbildungsrecht für alle zu vernehmen … Eine nach den Grundsätzen liberaler Wirtschaftspolitik ausgerichtete Gesellschaft wie die der Bundesrepublik scheint hierbei mit einem rechtlich verankerten Anspruch eines jeden Einzelnen nach einer beruflichen Ausbildung insofern nicht im Einklang zu stehen, als dass der Staat damit regulativ zumindest indirekt in das Wirtschaftssystem bzw. direkt in das von der Wirtschaft dominierte (duale) Berufsausbildungssystem eingreifen würde. …
Bestünde ein wie auch immer gesetzlich verankertes Recht auf berufliche Ausbildung und damit ein ebensolcher einklagbarer Rechtsanspruch, so wäre damit eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche gegeben, die im Widerspruch zu einem im Dualen System grundsätzlich freien Ausbildungsmarkt steht, bei dem Unternehmen nicht gezwungen werden können, eine Ausbildungspflicht zu übernehmen. Nach gängiger Interpretation des Artikels 12 Abs. 1 des Grundgesetzes besteht nämlich auch für Arbeitgeber ein Grundrecht, dass darin liegt, selbst zu entscheiden, ob im Unternehmen ausgebildet wird, wenngleich auch eine Sozialpflichtigkeit der Wirtschaft vorliegt … Dementsprechend liefe es vermutlich darauf hinaus, ein zum Dualen System paralleles System für diejenigen Jugendliche und junge Erwachsene zu etablieren, die ihren Rechtsanspruch nicht über das Duale System erfüllen könnten. … Anspruch und Folgen sind allerdings sowohl theoretisch noch wenig durchdacht als auch im empirischen Sinne kaum absehbar. …
Recht auf berufliche Ausbildung im Kontext heutiger Gesetzgebung
Ein solches Recht auf Bildung gewährt das Grundgesetz nicht. Wohl aber
ergibt sich auf dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) bzw. aus dem Recht der freien Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG) ein Anspruch auf gleiche Teilhabe an den vorhandenen öffentlichen Bildungseinrichtungen“. … Wenn es demnach ein Grundrecht auf Bildung gibt, könnte als Bestandteil dessen auch ein Grundrecht auf berufliche Bildung – und folglich auch berufliche Ausbildung – gesehen werden, sofern man berufliche Bildung „nur“ als spezifische Form von Bildung ansieht. …
Das Berufsbildungssystem kann aufgrund seiner Spezifika nur bedingt als Teilsystem des Bildungssystems verstanden werden. Am deutlichsten zeigt sich dieses am Dualen System, das in einer nicht unerheblichen Relation auch den Bedingungen des Beschäftigungssystems unterliegt. Sichtbar wird die enge Verbindung zum Beschäftigungssystem durch den Status der Auszubildenden als Arbeitnehmer …
Für die berufliche Bildung ist der Artikel 12 des Grundgesetzes so etwas wie die „Berufsbildungsverfassung“. Hierbei ist der erste Absatz von größter Wichtigkeit: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. …“ Mit diesem Begriffsverständnis … wird letztlich klar, dass aus dem Artikel 12 des Grundgesetzes kein Rechtsanspruch auf eine berufliche Ausbildung interpretierbar ist. …
Insgesamt bringt das bestehende deutsche Bundesrecht damit wenig Aufschluss zu dem Thema, obgleich die Komplexität des Sachgegenstandes und die unterschiedlichen Perspektiven von Judikative und Berufspädagogik bereits sichtbar werden. … Während im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht alle Menschen- und Bürgerrechte fixiert und so weder – wie dargestellt – beispielsweise ein „Recht auf Bildung“ noch ein „Recht auf Arbeit“ und schon gar nicht ein „Recht auf berufliche Ausbildung“ explizit formuliert sind, gehen einige Länderverfassungen hier deutlich weiter. …
Überlegungen zur Umsetzung eines Rechts auf berufliche (Aus-)Bildung
Schließlich ginge es beim staatsbürgerlichen Gewährleistungsrecht bei den Erfüllungs- und Leistungspflichten … darum, dass der Staat für das Vorhandensein ausreichend geeigneter Ausbildungsplätze bzw. -möglichkeiten sowie -einrichtungen und -personal Sorge trägt und ggf. selbst welche vorhalten muss.
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der Bundesrepublik ein hohes Rechtsgut. Vor diesem Hintergrund erfüllen die Grundrechte nach dem Grundgesetz nicht nur die Funktion von Freiheitsrechten, verstanden als Schutz individueller Freiheitssphäre vor dem Zugriff durch die Staatsmacht, sondern auch von Gleichheitsrechten … Jeden sollen die gleichen Chancen und Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung eingeräumt werden.
Da staatliche berufsbildende Schulen vorhanden sind und betrieben werden, hätte jede interessierte Person ein Anrecht darauf, sie auch zu nutzen. Die Berufsausbildung im Dualen System wird jedoch nur zu knapp einem Drittel am Lernort Berufsschule durchgeführt. Sich damit in eine Ausbildung im Dualen System einzuklagen, dürfte daher selbst mit obiger Begründung nicht möglich sein. …
Eine Ausbildung für alle Interessierten im Rahmen des Dualen Systems dürfte derzeit nicht realistisch sein, wenngleich ähnlich gelagerte Diskussionen im Themenkreis einer Ausbildungsumlage immer wieder aufflackern und gerade in den ostdeutschen Bundesländern eine Art „pseudo-duales System“ mit verdeckter Finanzierung etabliert wurde … Aber: Das Duale System ist an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet. Die Wirtschaft selbst regelt aus ihrem traditionellen Verständnis heraus die Ausbildung im Dualen System. Jeder Eingriff in Fragen der Vertragshoheit kommt einem Angriff auf das liberalistische Wirtschaftssystem gleich und würde mit dem Argument, man wolle keine sozialistischen Wirtschaftsverhältnisse und keine Planwirtschaft, abgewehrt werden. …
Rechte und Pflichten des Einzelnen in der beruflichen Bildung – Ausblick
… Diskutiert werden könnte, ob es nicht sogar eine Pflicht des Einzelnen zur Ausbildung geben sollte … Was zunächst … als völlig abwegig erscheint, erhält eine Legitimation, wenn man bedenkt, dass ein beruflicher Abschluss statistisch deutlich besser vor Arbeitslosigkeit schützt, als wenn kein berufsqualifizierender Abschluss vorgelegt werden kann. Hohe Jugendarbeitslosigkeit, Unzufriedenheit und zum Teil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgehende soziale Unruhen … können eine solche Argumentation noch befeuern. …
Im Zuge des von politischen Institutionen massiv geforderten Paradigmas des lebenslangen Lernens müsste darüber diskutiert werden, ob ein Recht auf berufliche Ausbildung, das in der Regel im jungen Erwachsenenalter und nach erfolgter Erstausbildung abgegolten wäre, nicht sogar zu einem lebenslang geltenden Anspruch auf berufliche Aus- und Weiterbildung auszubauen wäre, das auch eine Zweit- oder Drittausbildung, berufliche Umschulung sowie berufliche Fortbildung einschließen würde.
Wie auch immer künftig die Frage beantwortet werden wird, ob ein Recht auf berufliche Ausbildung auch grundgesetzlich verankert sein sollte, so dürfte aus humanistisch-berufspädagogischer Sicht kaum jemand gegen folgende Formulierung sprechen: „Der junge Mensch hat ein Recht darauf, sich auf die Berufsausbildung freuen zu können.“ … Ein solches Recht setzt voraus, dass junge Menschen in einem gewissen Rahmen tatsächlich die Freiheit haben, ihren (künftigen) Beruf und eine zugehörige Ausbildung frei zu wählen. …“
www.bwpat.de/ausgabe25/herkner_bwpat25.pdf
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Quelle: Berufs- und Wirtschaftspädagogik online bwp@ Ausgabe Nr. 25/13 : Ordnung und Steuerung der beruflichen Bildung