Im „Top Thema“ des Deutschen Jugendinstituts zur Jahresbeginn plädiert Norbert Struck vom Paritätischen dafür, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe aktiver für die Unterstützung minderjähriger Flüchtlinge einsetzt. Sein Vorschlag: Der nächste Kinder- und Jugendbericht solle unter das Thema „Kinder, Jugendliche und Familien in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland“ gestellt werden.
„Nach Schätzungen der UNO-Flüchtlingshilfe sind die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit minderjährig. Das sind über 20 Millionen junge Menschen. … Von all diesen Flüchtlingen bekommt Europa nur einen verschwindenden Bruchteil zu sehen. …
Die jungen Flüchtlinge und ihre Angehörigen treffen hier in Deutschland auf ein Regime des Aufenthalts- und Asylrechts, das von einer Haltung bestimmt ist, die nicht gerade durch „Willkommensstrukturen“ geprägt ist. Deutschland und Europa versuchen, sich massiv gegen Flüchtlinge abzuschotten. … Das europäische und deutsche Abschreckungsrecht baut sich gegenüber Flüchtlingen übermächtig vor den Menschenrechten von Erwachsenen und Kindern auf: Residenzpflicht, Gutscheine und unbrauchbare Sachleistungen, verfassungswidrig niedrige Geldleistungen, Arbeitsverbote, Dublin-Abkommen, Flughafenverfahren, Arbeitsverbote und Kriminalisierung sind die Stichworte, mit denen die Pfeiler dieser Abwehr umrissen werden können. …
Vor dem Hintergrund eines Lebens im Flüchtlingslager fordert die Selbsthilfeorganisation Jugendliche ohne Grenzen: „Jugendhilfe vom ersten Tag an.“ Wie oft erhält die Kinder- und Jugendhilfe eine solche klar formulierte Einladung? …
Bei 1.254 der insgesamt 40.227 Inobhutnahmen, die in Deutschland 2012 vorgenommen wurden, wurden als Grund „Wohnungsprobleme“ angegeben. Knapp vier Mal pro Tag muss also in Deutschland ein Jugendamt eingreifen, weil die Wohnverhältnisse eine Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen darstellen. Natürlich soll dies kein Plädoyer für flächendeckend vorgenommene Trennungen der Kinder von ihren Eltern sein. Jedoch ist es eine dezidierte Aufforderung, dass die Jugendämter die kindeswohlgefährdenden Lebensumstände in den „Aufnahmeeinrichtungen“ in den Blick nehmen, intensiv nach Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung suchen, ihren Einmischungsauftrag nach § 1 Sozialgesetzbuch SGB VIII wahrnehmen und dafür sorgen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu schaffen und junge Menschen für ihr Wohl vor Gefahren zu schützen. Die UN-Kinderrechtskonvention und das SGB VIII geben hierzu nicht nur die Möglichkeit, sondern sie verpflichten sogar zum Handeln. …
Wenn derzeit Forderungen erhoben werden, „präventive“ Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken, wäre es vorstellbar, ähnliche Rechtsansprüche auch in anderen strukturellen Gefährdungssituationen einzuräumen: z.B. für Kinder psychisch kranker Eltern, für Kinder, die Situationen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, für Kinder, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Eine vergleichbare strukturelle Gefährdungssituation liegt auch bei Kindern und Jugendlichen vor, die in den oben beschriebenen Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge untergebracht sind. Auch ihre Rechte auf Hilfe und Unterstützung bei der Änderung ihrer Lebenssituation und der Bewältigung ihrer Erfahrungen könnten zu einem eindeutigen individuellen Rechtsanspruch verdichtet werden.
Den nächsten Kinder- und Jugendbericht unter das Thema „Kinder, Jugendliche und Familien in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland“ zu stellen hätte … den Vorteil, dass das Thema Einwanderungsgesellschaft offiziell zur Kenntnis genommen wird. Außerdem wäre das Thema nicht auf „Migrantinnen und Migranten“ eingeengt, sondern nähme auch die „aufnehmende“ Gesellschaft mit ihren Voraussetzungen und Strategien der Auseinandersetzung in den Blick. …“
Norbert Struck ist seit 1990 beim Paritätischen in Berlin als Jugendhilfereferent tätig.
http://www.dji.de/index.php?id=43320
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Quelle: DJI Top Thema; Paritätischer