Der Bildungsaufstieg: vom Arbeiterkind zum Akademiker

Die hier aufgeführten Erkenntnisse basieren auf auf der Studie Bildungsaufsteiger/innen aus benachteiligten Milieus, die bis 2011 an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde und 2012 beim Verlag Springer VS erschienen ist. Mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung konnte die Ausgangsstudie fortgesetzt und das Sample ausgeweitet werden. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit standen die Erfahrungen und Handlungsmuster von Männern und Frauen, die sich durch Bildung in der Sozialstruktur von „unten nach oben” bewegt haben. Allerdings lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht unmittelbar in praxiskompatible Handlungsempfehlungen ummünzen. Auch wenn dies in Ansätzen versucht wird, ist das Ziel der Studie, ein Verständnis für die Problemstellungen bei der Überwindung sozialer Ungleichheit zu entwickeln.

Auszüge aus der Veröffentlichung „Vom Arbeiterkind zum Akademiker“ von Aladin EL-Mafaalani, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung – Christine Henry-Huthmacher:
“ … AUFSTIEGSMOTIVATION ERFOLGT ÜBER EMOTIONALE PERSÖNLICHE KRISE.
Der Wunsch reich und berühmt zu werden, ist gerade in den unteren sozialen Schichten sehr ausgeprägt. Bildung und Lernanstrengung sind – aus Sicht der Jugendlichen – allerdings nicht der Weg, der zu diesem Ziel führt. Populäre Aufsteiger aus der Sport-, Musik- und Unterhaltungsszene sowie diverse Castingshows zeigen, dass Aufstieg auch ohne Bildung gelingen kann. Was braucht es, damit Kinder und Jugendliche den Wunsch entwickeln, aufzusteigen? Allen Aufsteiger-Biografien gemeinsam waren: 1. Eine starke persönliche Irritation und Kränkung, die als emotionale Krise erlebt wurde und deren Ursache in der Herkunft gesehen wurde. Diese Krise führte zu der Einsicht, dass die Lebensverhältnisse wenig Möglichkeit bieten und sich der Betreffende selbst ändern muss. Mit diesem intrinsischen Motiv einher geht die Distanzierung von den Herkunftsfamilien. Damit verbunden ist die Gefahr der Entfremdung von Familie und Freunden. 2. Alle Aufsteiger hatten in ihrer Jugend eine Bezugsperson aus einem höheren Milieu, die sie unterstützte.

DIE AUFSTIEGSBIOGRAFIEN UNTERSCHEIDEN SICH …
Zwar folgen die Biografien der Aufsteiger alle dem gleichen Muster, doch unterscheiden sie sich stark hinsichtlich der sich darauf ergebenden Schwierigkeiten. Im Vergleich zu türkischstämmigen Familien ist die Bindung in deutschen Familien vergleichsweise locker. Das macht die Distanzierung für Aufsteiger zur Herkunftsfamilie einerseits leichter, andererseits haben sie es auch schwerer, weil deutsche Unterschichtsfamilien oft nur geringe Erfolgserwartungen an ihre Kinder haben. Das hat zur Folge, dass deutsche Kinder und Jugendliche viel stärker auf sich selbst gestellt sind und Bildungsengagement und -motivation selbst erzeugen müssen. Dagegen ist es in türkischen Familien oft umgekehrt: Solidarität und Autorität, Festhalten an Traditionen spielen in türkischstämmigen Familien eine große Rolle und prägen das Zusammenleben. Diese familiären Werte stehen im Widerspruch zu Erfolg und Bildung in Schule und Beruf. Gleichzeitig wird der Erfolg in Schule und Beruf von den Eltern ausdrücklich gewünscht. Diese widersprüchlichen Erwartungen der Herkunftsfamilie müssen Kinder und Jugendliche selbst auflösen.

Ähnlich wie türkischstämmige Kinder und Jugendliche wachsen vietnamesische Kinder überdurchschnittlich oft in prekären Lebenslagen und bildungsfernen Familien auf. Im Unterschied zu türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen durchlaufen vietnamesische Kinder besonders erfolgreich das Bildungssystem. Zwar ist das Familienleben durch Autorität und Respekt geprägt, doch sind Schulleistungen der Kinder Familienziel und Familienaufgabe. …

AUFSTIEG DURCH BILDUNG – EIN INSTABILER PROZESS
Talent, Fleiß sowie Leistungs- und Lernbereitschaft der Kinder sind notwendig, aber nicht hinreichende Bedingungen für Erfolgskarrieren. Vielmehr müssen enorme Anpassungsleistungen vollzogen werden, die divergierende soziale Erfahrungen und Logiken vereinigen und gleichzeitig Distanzen ermöglichen und Trennungskompetenz erfordern. Interessanterweise sind die interviewten Aufsteiger in der Regel nicht durch Lehrkräfte gefördert worden und haben über weite Strecken weder von der Familie noch von Institutionen die nötige Unterstützung und Anerkennung erfahren.

Der Aufstieg durch Bildung wird erschwert durch soziale Nebenwirkungen und ist immer wieder neu zu justieren. Der soziale Aufstieg ist immer wieder mit Problemen konfrontiert, die zu Stagnation oder sogar zur Umkehr führen können. Die Gefahr der Entfremdung von der eigenen Herkunft bei gleichzeitiger Ungewissheit eine neue soziale Heimat und Akzeptanz zu finden ist hoch und kann zu Identitätskrisen führen. …

SCHLUSSFOLGERUNGEN
## Eine stark sozial durchmischte Lebenswelt bereits in der Kindheit ist förderlich und erlaubt die Erfahrung von und einen spielerischen Umgang mit Milieu- und Habitusunterschieden (Stadtteilentwicklung, Schulformen).
## eine gezielte individuelle Förderung in den Bildungsinstitutionen würde dazu beitragen, die Fähigkeiten jedes Kindes optimal zu entwickeln, wobei eine solche Förderung nicht nur auf den Unterricht bezogen sein sollte, damit auch darüber hinaus ermöglicht wird, psychische und soziale Belastungen zu erkennen und entsprechend zu inter-venieren, insbesondere aber auch präventiv zu fördern (Ganztagsschulen); hierzu wäre es notwendig, dass verschiedene Professionen zusammenarbeiten, u.a. Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Mediziner und Psychologen (Interdisziplinarität).
## auffällig ist zudem, dass in vielen Fällen Kunst- und Theatererfahrungen („sich in einen anderen hineinversetzen”) eine biographisch bedeutsame Rolle gespielt haben (Kunst- und Kulturprogramme).
## ein generell stärker anwendungs- und spielorientiertes statt abstraktzielorientiertes Lernen, zumindest bis zum mittleren Abschluss, könnte Kindern, die ein ausgeprägtes Funktionsdenken haben (Habitus der Notwendigkeit), einen leichteren Zugang zu den Lerninhalten bieten und die Motivation steigern (Lehrpläne/Unterrichtsmethoden).
## insbesondere – aber nicht nur – bei den türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten konnte deutlich herausgestellt werden, welche komplexen Syntheseleistungen zwischen den Lebenswelten Familien und Schule bereits in der Kindheit selbstständig vollzogen werden müssen, weil zwischen beiden Seiten kaum Kommunikation stattfindet (Elternarbeit und Frühförderung).
## schließlich sind die im unmittelbaren Sozialraum zur Verfügung stehenden Ressourcen – insbesondere in segregierten Stadtteilen – eine für Bildungserfolge zentrale Größe (kommunale Bildungs- und Sozialpolitik).
Aus dieser Perspektive erscheinen die seit etwa zehn Jahren erkennbaren Veränderungen in der institutionellen Praxis – wenn auch (noch) wenig systematisch – in die richtige Richtung zu weisen. Die starke Betonung von Konzepten wie „Inklusion” und „Diversity” zeigt, dass sich zunehmend die Sensibilität für soziale Ungleichheit sowie ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der sozialen Öffnung der (pädagogischen) Institutionen verbreitet. Der Anspruch der Gleichbehandlung Aller war bereits ein Fortschritt (Gleichberechtigung); die aktuelle Entwicklung folgt der Logik, dass erst dann, wenn Ungleiches ungleich behandelt wird, Gleichstellung erreicht werden kann. Während Gleichberechtigung weitgehend realisiert ist, stellt die Gleichstellung (nach sozialer und ethnischer Herkunft sowie Geschlecht) eine bei weitem noch nicht zufriedenstellend realisierte Forderung dar. … “

www.kas.de/wf/de/33.36606/

Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung

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