Lernpotentiale ohne Bildungserfolgte – Schullaufbahn hängt vom familiären Bildungshintergrund ab

CHANCEN AUF QUALIFIZIERTE AUSBILDUNG WERDEN FRÜH VERBAUT Die Studie des WBZ untersucht, inwiefern ungleiche Bildungschancen mit dem Phänomen von Underachievement verbunden sind und ob Persönlichkeitseigenschaften den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen vermitteln. Underachievement ist – entsprechend dem mehrgliedrigen deutschen Bildungssystem – als Besuch eines Schultyps definiert, der unterhalb des jeweiligen individuellen kognitiven Lernpotenzials von Jugendlichen liegt. Die Analysen basieren auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Sie zeigen, dass das Risiko eines Underachievement und damit die Entdeckung vorhandener Lernpotenziale stark von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen. Verteilungsunterschiede in Persönlichkeitsstrukturen nach sozialer Herkunft spielen dafür allerdings keine Rolle. Vielmehr haben Persönlichkeitseigenschaften einen stärkeren Einfluss auf den Schulerfolg von Kindern mit akademisch gebildeten Eltern – und nicht, wie wohl häufig eher erwartet wird, bei Kindern von Eltern ohne akademischen Abschluss. … Auszüge aud der Erhebung „Ungleiche Bildungschancen: Welche Rolle spielen Undernachievement und Persönlichkeitsstruktur?“ “ Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass soziale Bildungsungleichheiten in demokratischen Gesellschaften zumeist als Chancenungleichheiten verstanden werden. Dementsprechend sind Ungleichheiten im Bildungserfolg vor allem dann ein gesellschaftliches Problem, wenn Kinder mit gleichen kognitiven Voraussetzungen aufgrund ihrer sozialen Herkunft (oder anderer sogenannter zugeschriebener Merkmale wie Geschlecht oder Ethnizität) in Lernprozessen benachteiligt werden und damit im Schulsystem nicht die gleichen Chancen haben, ihre kognitiven Fähigkeiten in einen gleichen Bildungserfolg zu transferieren. Von dieser Definition ausgehend könnten soziale Bildungsungleichheiten mit zwei Phänomenen verbunden sein: Zum einen könnten sie daraus resultieren, dass Kinder aus sozial niedrigeren Schichten seltener als Kinder höherer sozialer Schichten ihre vorhandenen kognitiven Lernpotenziale in entsprechende Schulleistungen und Bildungserfolge umzusetzen vermögen und ihre Schulleistungen häufiger unterhalb ihrer potenziellen Leistungsfähigkeit bleiben. Zum anderen könnten Kinder höherer Schichten häufiger höhere Bildungserfolge erreichen, als es ihre kognitiven Fähigkeiten erwarten lassen würden. Ersteres wird in der Psychologie als Underachievement bezeichnet, Letzteres als Overachievement. … Under- und Overachievement sind in einem Bildungssystem wohl immer vorhanden. In Bezug auf Chancenungleichheiten verbinden sich damit jedoch zwei Fragen: Wie häufig sind Under- und Overachievement in einem Bildungssystem vorhanden? Und sind sie von der sozialen Herkunft abhängig? … EMPIRISCHE BEFUNDE UND DISKUSSION … Zunächst zeigen sich deutliche soziale Unterschiede hinsichtlich des Schulbesuchs. Während von den Schülern aus Familien mit einem akademischen Bildungshintergrund fast vier Fünftel das Gymnasium besuchen, sind dies bei Jugendlichen ohne familiären akademischen Bildungshintergrund nur 29 Prozent. Hinsichtlich des Hauptschulbesuchs existiert ein ähnlich stark ausgeprägtes Missverhältnis: 26 Prozent der Kinder aus nicht-akademischem Elternhaus besuchen eine Hauptschule, aber nur fünf Prozent der Kinder aus akademischem Elternhaus. Diese ungleiche Verteilung ist zum Teil durch unterschiedliche Herkunftsanteile des Underachievement und Overachievement verursacht. Das Risiko des Underachievement ist für Kinder aus nicht-akademischen Haushalten mit 16 Prozent ca. 2,5-mal so hoch wie für Kinder mit akademischem Familienhintergrund.16 Overachievement ist hingegen bei Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien nur um 2 Prozentpunkte geringer als bei Akademikerkindern. Für Akademikerkinder ist Overachievement deutlich häufiger als Underachievement, für Kinder aus nicht-akademischen Familien kommen beide Phänomene hingegen gleich häufig vor. … Als Antwort auf die erste Frage lässt sich damit festhalten: Chancenungleichheit wird im deutschen mehrgliedrigen Schulsystem durch eine sozial ungleiche Verteilung des Underachievement-Risikos mit verursacht. … Darüber hinaus wurde untersucht, ob Persönlichkeitseigenschaften für die beiden Herkunftsgruppen einen ungleichen Einfluss darauf haben, welcher Schultyp besucht wird. Entsprechend den bisherigen Befunden ist danach zu fragen, ob Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen bei Kindern mit nicht-akademischem oder akademischem Bildungshintergrund eine signifikante Bedeutung für die Vermeidung von Underachievement bzw. für die Entdeckung ihrer Lernpotenziale haben. … Für Kinder mit nicht-akademischem Bildungshintergrund ist nur die Offenheit für Erfahrungen signifikant. Für Akademikerkinder zeigt sich hingegen ein signifikanter Einfluss von Offenheit sowie von Gewissenhaftigkeit. Ferner zeigt der Vergleich der beiden Modelle, dass der Einfluss von Offenheit für Erfahrungen auf das Risiko, zur Gruppe des Underachiever zu gehören, bei Kindern mit akademischem Hintergrund größer ist. Zur Unterstützung dieser Befunde betrachten wir nun nur Schüler mit einem kognitiven Lernpotenzial, das mindestens dem Median der Gymnasialverteilung (38) entspricht. Dies entspricht dem Fokus vieler Studien, die mit dem Konzept des Bildungserfolgs den Besuch (bzw. Abschluss) eines Gymnasiums verbinden. At risk sind dann nur noch zwölf Haupt- und 73 Realschüler (Underachiever), die mit 196 Gymnasiasten (Non-Underachievern) verglichen werden können. Dies hat den Vorteil, dass die Analysestichprobe zum einen hinsichtlich der Bandbreite kognitiver Fähigkeiten homogener wird und zum anderen nur Underachiever betrachtet werden, die das Potenzial für einen Gymnasialbesuch haben. Der Einfluss der sozialen Herkunft auf das Underachievement-Risiko tritt bei dieser Betrachtungsweise noch deutlicher in Erscheinung: Lediglich zwölf Prozent der Akademikerkinder gehören hier zur Gruppe der Underachiever, jedoch 46 Prozent der Schüler mit nicht-akademischem Hintergrund. Die Persönlichkeitsunterschiede zwischen Underachievern und Non-Underachievern bleiben stabil. … ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNGEN … Die Befunde zeigen, dass durch eine Beseitigung von Under- und Overachievement Chancengleichheit substanziell erhöht, nicht jedoch vollständig hergestellt werden könnte. … Die Zuordnung von Jugendlichen nach der Grundschule zu unterschiedlichen Schultypen ist mit großen „Fehlallokationen“ verbunden. In der Stichprobe besuchten 254 der 855 Jugendlichen (30 %) einen Schultyp über oder unter ihrem Leistungsniveau. Mit Underachievement bleiben einer nicht unbeträchtlichen Anzahl junger Menschen Bildungs- und Berufschancen versperrt, weil sie einen Schultyp besuchen, der ihren kognitiven Möglichkeiten nicht gerecht wird. .. Kinder aus Familien, in denen kein Elternteil über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügt, haben ein höheres Risiko eines Underachievement. Beim Zugang zu adäquater schulischer Bildung in Deutschland finden sich damit bedeutende soziale Ungleichheiten – und dies auch dann, wenn Kinder unterschiedlicher Herkunft vergleichbare Niveaus hinsichtlich ihrer kognitiven Lernpotenziale besitzen. Dies widerspricht der Forderung von Chancengleichheit Die Vermutung war, dass der Habitus in der Schule darauf einen Einfluss hat, ob Lernpotenziale entdeckt werden oder nicht. Persönlichkeitsstrukturen (als Teilaspekt des Habitus) wurden als möglicher Mechanismus untersucht und gefragt, inwiefern sie eine nach sozialer Herkunft ungleiche Entdeckung kognitiver Potenziale verursachen. Es zeigte sich, dass Verteilungsunterschiede in den Persönlichkeitsmerkmalen nach sozialer Herkunft offensichtlich keinen Einfluss haben. Bestätigt werden konnten hingegen eine Interaktionshypothese zuungunsten von Kindern aus sozial höheren Schichten: Kinder aus höheren Schichten haben ein höheres Risiko eines Underachievement, wenn ihre Persönlichkeitsstruktur in den Dimensionen Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen vom Mittelschichtenhabitus abweicht. Das höhere Risiko eines Underachievement von Kindern aus sozial schwächeren Familien kann daher weder durch Unterschiede in der Verteilung vorteilhafter Persönlichkeitsmerkmale (einschließlich Risikoaversion) noch durch einen besonders starken Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen bei ihnen erklärt werden. … Abschließend ist zu konstatieren, dass die Ergebnisse hinsichtlich des hohen Umfangs von Underachievement (sowie von Overachievement) einmal mehr zeigen, wie wenig begründbar das segregierte deutsche Schulsystem mit seinen Zuweisungspraktiken zu unterschiedlichen, für den weiteren Lebensverlauf folgenschweren Bildungskarrieren ist. Zum Abbau von Underachievement und Bildungsungleichheiten in der deutschen Schule wäre ein wichtiger Schritt, „Entscheidungen“ über unterschiedliche Bildungswege und ungleiche Lernmilieus möglichst spät in der Bildungsbiografie erfolgen zu lassen. “ Die Studie ist als ‚WZB Discussion Paper‘ im Internet abrufbar, steht Ihnen im Anhang als Download zur Verfügung und erscheint im Oktober als Aufsatz in der ‚Zeitschrift für Soziologie‘.

http://idw-online.de/pages/de/news330675
http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2009/i09-503.pdf

Quelle: Informationsdienst Wisschenschaft

Dokumente: WBZ_ungleiche_Bildungschancen.pdf

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