Wie entwickelt sich der deutsche Arbeitsmarkt angesichts der Schuldenkrise?

Auszüge aus dem IAB-Bericht „Schwerere Zeiten für den Arbeitsmarkt“ von Johann Fuchs, Markus Hummel, Christian Hutter, Sabine Klinger, Eugen Spitznagel, Susanne Wanger, Enzo Weber und Gerd Zika:
“ …Gesamtwirtschaftliche Entwicklung
Im ersten Quartal 2011 konnte noch ein starkes Wachstum des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 1,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal verzeichnet werden. Dies kam zum Teil durch Aufholeffekte nach der Krise und dem harten Winter Ende 2010 zustande, allerdings war auch eine deutlich positive Grundtendenz zu erkennen. … Im zweiten Quartal wuchs die deutsche Wirtschaft dagegen kaum. Zu dieser Zeit hatten etliche Konjunkturfrühindikatoren (z. B. die ifo- und ZEW-Erwartungsindizes) ihre Höhepunkte überschritten, bis zum September sind sie deutlich gefallen. Es ist also damit zu rechnen,
dass der Aufschwung sich zumindest nicht mit gleicher Stärke fortsetzen wird.
Von der Weltkonjunktur werden nur wenige positive Impulse ausgehen. …
Im Hinblick auf die Binnenkonjunktur stehen beispielsweise Arbeitslosigkeit und Kapazitätsauslastung noch auf sehr guten Werten, aber die Antriebskräfte beim inländischen Konsum haben an Stärke verloren. … Die starke Investitionstätigkeit als einer der Hauptmotoren der bisherigen Entwicklung wird in Anbetracht der bestehenden substanziellen Unsicherheiten – beispielsweise bezüglich der Schuldenkrise – wohl etwas nachlassen. Die Fiskalpolitik dürfte angesichts der Belastungen des deutschen Staatshaushalts in Verbindung mit der gesetzlichen Schuldenbremse einen eher restriktiven Kurs einschlagen.

Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Laufe des Jahres 2012 ist durch beträchtliche Unsicherheiten gekennzeichnet. Wir erwarten, dass das Wirtschaftswachstum verglichen mit den letzten Aufschwungjahren
spürbar abflachen wird. Wie oben beschrieben, hat sich das konjunkturelle Umfeld bereits abgeschwächt. Entscheidend für den weiteren Verlauf ist, dass es in der europäischen Schuldenkrise zu einer nachhaltigen Stabilisierung kommt und sich im Zuge dessen auch die Lage an den Finanzmärkten beruhigt. In diesem Falle könnten sich sowohl das weltwirtschaftliche Umfeld als auch die Binnenkonjunktur relativ robust entwickeln. Gerade die inländischen Wachstumskräfte sollten wieder aufleben, wenn Konsumenten und Investoren Vertrauen zurückgewinnen. Wir unterstellen in einem solchen Szenario für das Jahr 2012 eine moderate Zunahme des BIP um 1 Prozent. …

Demografie und Erwerbspersonenpotenzial
Treibende Kraft des Arbeitskräfteangebots ist seit längerem die Bevölkerungsentwicklung. Rein demografisch bedingt würde das Erwerbspersonenpotenzial 2011 um gut 200.000 Personen sinken, im Jahr
2012 sogar um fast 250.000.
Dem demografischen Effekt wirkt die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen entgegen. Außerdem nimmt die Erwerbstätigkeit Älterer zu, wobei
ab 2012 insbesondere die schrittweise Anhebung des Rentenalters eine Rolle spielt. …
Sonderfaktoren wie das Aussetzen der Wehrpflicht und doppelte Abiturjahrgänge („G8“) dürften weder 2011 noch 2012 stark ins Gewicht fallen. Bei der Wehrpflicht ist im Übrigen zu beachten, dass Wehr- und
Zivildienstleistende als Erwerbstätige gezählt wurden. Deshalb gibt es statistisch vorübergehend sogar einen leicht negativen Effekt, weil einige Betroffene sicher ein Studium aufnehmen. Der Einfluss des früheren Erwerbseintritts von Jüngeren aufgrund des G8 kommt vor allem in den kommenden Jahren und regional unterschiedlich zum Tragen.

Nachdem im Jahr 2010 der Außenwanderungssaldo mit 130.000 Personen zum ersten Mal seit 2007 wieder positiv war und ab dem 1. Mai für acht EU-Länder die sogenannte „Freizügigkeitsbeschränkung“ weggefallen ist, rechnen wir wieder mit höheren Zuzügen. …
Weil unter ihnen nicht nur Arbeitskräfte sind, dürfte der daraus resultierende sofort potenzialwirksame Wanderungseffekt rund 80.000 Erwerbspersonen pro Jahr betragen.
Unter Berücksichtigung der Pendlerbewegungen und der genannten Sonderfaktoren sinkt das Erwerbspersonenpotenzial nach dem Arbeitsortkonzept 2011 gegenüber dem Vorjahr um rund 40.000 und 2012 noch einmal um 40.000 Arbeitskräfte auf 44,7 Mio. Ein Vergleich mit der Zahl von gut 41 Mio. Erwerbstätigen zeigt, dass die Möglichkeiten
einer weiteren Steigerung der Beschäftigung mittlerweile geschrumpft sind. Auch dies dämpft die prognostizierte Entwicklung der Erwerbstätigkeit. …

Die Arbeitszeit im Jahr 2012
Unter den Bedingungen der mittleren Variante (BIP +1 %) wird die Arbeitszeit im Jahr 2012 wieder kürzer. Der kräftige negative Kalendereffekt wird nur zum Teil durch andere Komponenten kompensiert.
Die tarifliche bzw. betriebsübliche Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten ändert sich nur wenig und bleibt 2012 auf dem im Vorjahr wieder erreichten Vorkrisenniveau. Im Schnitt aller Voll- und
Teilzeitbeschäftigten beträgt die Wochenarbeitszeit rund 30 Stunden. Mit der Abkühlung der Konjunktur wird die Kurzarbeit nicht mehr so kräftig abgebaut wie 2011, auch weil sie sich bereits wieder dem normalen Niveau nähert. Für den Jahresdurchschnitt 2012 erwarten wir 150.000 Kurzarbeiter.

Bei leicht steigender Wirtschaftsleistung ändern sich die konjunkturellen Komponenten der Arbeitszeit wie Überstunden und Guthaben auf Arbeitszeitkonten nur wenig. So werden durchschnittlich 49 bezahlte Überstunden geleistet, und auf den Arbeitszeitkonten nimmt der jährliche Saldo je Arbeitnehmer nur um 0,7 Stunden zu. Der in den Jahren 2010 und 2011 leicht gestiegene Krankenstand wird sich 2012 auf dem erreichten Niveau einpendeln und im Jahresdurchschnitt nahezu unverändert 3,8 Prozent betragen.

Die Vollzeitbeschäftigung wächst 2012 wieder schwächer (+50.000 Personen bzw. +0,2 %), denn sie hängt besonders eng mit der Konjunktur zusammen. Die Teilzeitbeschäftigung legt weiter kräftiger zu (+100.000 Personen bzw. +0,8 %), sodass die Teilzeitquote auf 34,6 Prozent steigt. Dabei wird die sozialversicherungspflichtige Teilzeit im Jahr 2012 weiter deutlich wachsen, die geringfügige Beschäftigung nimmt ab. Die Tendenz zu Mehrfachbeschäftigungen dürfte anhalten, und der Anteil von Personen mit Nebenbeschäftigungen erhöht sich voraussichtlich auf 8,1 Prozent. …

Die durchschnittliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen ist im Jahr 2012 mit 1.406 Stunden um 0,4 Prozent kürzer als im Vorjahr. Da die Zahl der Erwerbstätigen den Stand des Vorjahres leicht übertrifft (+0,4 %), bleibt das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen im Jahr 2012 konstant. Der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1 Prozent übersetzt sich also im Wesentlichen in einen Anstieg der Arbeitsproduktivität je geleisteter Stunde um ebenfalls 1 Prozent.

Unsichere Entwicklung im Jahr 2012
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Laufe des Jahres 2012 ist außerordentlich großer Unsicherheit ausgesetzt. Über das schwächelnde weltwirtschaftliche Umfeld hinaus wird für die deutsche Wirtschaft
entscheidend sein, in welchem Ausmaß sich die Risiken aus der Staatsschuldenkrise und der damit verbundenen Verunsicherung der Finanzmärkte realisieren. Die Finanzmarktturbulenzen und der Absturz der Erwartungsindikatoren z. B. von ifo und ZEW zeigen, dass die Wirtschaftsakteure derzeit wenig Vertrauen in die Stabilität der künftigen Entwicklung haben. Im Gegenteil, in der Vergangenheit folgte auf einen derart rapiden Fall der Indikatoren regelmäßig eine Rezession. Inwieweit bei Bedarf wieder öffentliche Mittel für Maßnahmen zur Stabilisierung der Konjunktur in Deutschland und den Partnerländern zur Verfügung stehen, ist angesichts der hohen Verschuldung vieler EU-Länder oder auch der hierzulande in Kraft gesetzten Schuldenbremse im Grundgesetz fraglich. Das BIP könnte sich also auch deutlich schlechter entwickeln als in der obigen Diskussion unterstellt. Als untere Variante betrachten wir ein Schrumpfen der Wirtschaft im Jahr 2012 um 0,2 Prozent.

In diesem unteren Szenario folgen auf Produktionsrückgänge im Winterhalbjahr erst zum Jahresende 2012 wieder etwas günstigere Wachstumsraten. Folglich werden die Zugänge in Arbeitslosigkeit
die Abgänge wieder übersteigen, und die Arbeitslosigkeit wird um 20.000 Personen auf 2,99 Mio. steigen. Wegen der verzögerten Wirkung im Rechtskreis des SGB II ist davon vor allem die Arbeitslosigkeit im
Versicherungssystem des SGB III betroffen. …

Die Erwerbstätigkeit wird bei 41,18 Mio. liegen, das sind 100.000 Personen mehr als 2011, aber 70.000 weniger als in der mittleren Variante für das Jahr 2012. Die Arbeitszeit verkürzt sich über den starken negativen Kalendereffekt (-0,8 %) hinaus insgesamt um 0,9 Prozent, vor allem weil der Anteil der Vollzeitbeschäftigung sinkt, weniger Überstunden und Guthaben auf Arbeitszeitkonten entstehen und weil tendenziell wieder mehr konjunkturelle Kurzarbeit in Anspruch genommen wird. …

Dass die Prognosen der Jahresdurchschnitte für Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit relativ wenig von der mittleren Variante abweichen, hat mehrere Ursachen. Zum einen bewirken für alle Szenarien ein
statistischer Überhang bei der Beschäftigung und ein Unterhang bei der Arbeitslosigkeit gute Startwerte im Jahr 2012. Eine ungünstigere Entwicklung im Jahresverlauf hat dann mit Blick auf den Jahresdurchschnitt weniger Gewicht. …

Insgesamt wird der Arbeitsmarkt zwar robuster bleiben als in früheren Rezessionen vor der letzten Krise, aber eine ähnlich ausgeprägte Immunität wie 2008/2009 wird er wohl nicht wieder aufweisen. Der aktiven Arbeitsmarktpolitik käme dann wieder höhere Bedeutung zu, durch wirksame Maßnahmen einer Verfestigung von Arbeitslosigkeit bei steigenden Zugängen entgegenzuwirken.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die risikobelastete untere Variante eintritt, ist derzeit deutlich höher einzuschätzen als die Chance, dass das Wirtschaftswachstum die mittlere Variante übertrifft. Doch die Entwicklung im Jahr 2012 ist noch sehr unsicher – Zukunftserwartungen und Einschätzung der aktuellen Lage klaffen ungewöhnlich weit auseinander. Sollten sich die jüngsten Einbrüche von Stimmungsindikatoren und Finanzmärkten als überzogen herausstellen und die europäischen Staaten die Verschuldungsproblematik nachhaltig eindämmen, ist eine Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt entlang der oberen Variante mit einem angenommenen BIP-Wachstum von 1,6 Prozent denkbar. Dann würde die Arbeitslosigkeit auch von Monat zu Monat noch leicht abnehmen und im Jahresdurchschnitt 2012 bei 2,89 Mio. Personen liegen, das sind 90.000 weniger als 2011. … „

Den IAB-Bericht in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.

http://www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k110928n01

Quelle: IAB

Dokumente: iab_kb_schwere_Zeiten_fuer_den_Arbeitsmarkt.pdf

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